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Realität schön anmalen hilft nicht viel. (Bild: Christian Holl)
In den Großstädten wird es enger, doch noch scheint es nicht jenen Überlaufeffekt zu geben, von dem die ländlichen Räume profitieren. Aber es könnte bald soweit sein. Wir müssten dafür aber unser Bild von „dem“ Land ändern – und nicht nur dieses. Eine neue Publikation liefert wichtige Hinweise.

In den Großstädten sinkt der Wohnflächenbedarf je Person seit 2009. Er liegt dort inzwischen deutlich, etwa vier Quadratmeter, unter dem gesamtdeutschen Schnitt. In der FAZ wunderte sich Patrick Bernau darüber: „Immer mehr Menschen drängen in die Stadt, immer höher steigen die Mieten. Die Großstädter könnten aufs Land ziehen, doch dazu haben sie keine Lust. Lieber verzichten sie auf Platz.“ Das muss freilich nicht so bleiben. In einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung heißt es, dass Städter eben doch unter bestimmten Umständen aufs Land ziehen. Dorthin, wo sie noch über den ÖPNV und das Internet gut angebunden sind – und wo sie das richtige Umfeld finden.

Damit würde die Landflucht noch nicht gebremst, so Rainer Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts. Aber dennoch könnte sich eine solche zumindest andeuten: Das zeigen Kongresse wie „Trafo“ der Kulturstiftung des Bundes; ein auf Mittel- und Kleinstädte sowie ländliche Räume fokussierter Bericht der Bundesstiftung Baukultur, „Stadt und Land“, eine Art kleiner Bauausstellung auf dem Land, wie sie der Architekt Christoph Hesse in Nordhessen initiiert hat, die IBA in Thüringen, die sich unter dem Titel „Stadtland“ beharrlich damit auseinandersetzt, was jenseits von Stadt vor sich geht und wie es gestaltet werden kann.
Und es geht weiter: Mit der Tagung „Die Zukunft auf dem Land“ in Apolda (27. und 28. September), dem Detail-Kongress „Perspektive Land“ (16. Oktober) und dem Landeskongress Archikon der Architektenkammer Baden-Württemberg im kommenden Frühjahr (31. März 2020).


Sehnsucht und Unzufriedenheit

Die Sehnsucht gibt es zwar auch, aber die erzählt eine andere Geschichte: Die dauerhaft rekorverdächtigen Auflagen von Zeitschriften wie Landlust haben wenig mit dem Leben auf dem Land zu tun, wie es ist. So wie sich die Menschen in den ländlichen Räumen schon lange urban sind, schon lange ein Großteil von ihnen in einer Stadt arbeitet, sie regelmäßig besucht, so holen sich auch die Städter ein bisschen Land in ihr urbanes Umfeld. Sie gärtnern, entweder im eigenen Garten oder kollektiv, sie kochen Marmelade, halten sich vielleicht sogar Hühner. Und natürlich, sie fahren am Wochenende aufs Land. Und das umso öfter, je beengter es in der Stadt zugeht.

Zur Wirklichkeit gehören aber vor allem Pendlerverkehre, Glyphosatwüsten, Bienenpetitionen. Auch Speckgürtel sind kein Privileg der großen Städte, die kleinen haben sie ebenfalls: Gewerbegebiete mit großen Märkten, wo der Einkauf für die Woche getätigt wird, wo fürs Basteln am eigenen Haus eingekauft wird. Dieses Haus steht oft in einem Einfamilienhausgebiet, das nur wenig näher am Landust-Traum ist als eine Mietwohnung in der Stadt.

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Die Räume in der Region brauchen etwas mehr Verständnis für die Realität, die sie prägt. Bild: Wikimedia Commons, CC BY 4.0, Wolkenkratzer, Bild: >>>

So kommt man wohl nicht weiter. Nicht, wenn man einen Gegensatz aufspannt zwischen Stadt und Land, zwischen dem einen und dem anderen Idealbild, das im einen wie im anderen Fall nur in winzigen Ausschnitten der Realität entspricht, und das auch nur deswegen, weil man es dem erträumten Idealbild nachbaut. Ob man eine Altstadt so schön wieder aufbaut, wie sie nie war, oder ob man sich auf Schnellstraßen vorbei an Gewerbegebieten und Logistikzentren ins Idyll quält, das von allen Anzeichen technischer Gebrauchszivilisation reingehalten wird, um touristisch vermarktbar zu sein – wo ist der Unterschied?


Das Land gibt es nicht

„Kein schöner Land?“ fragte der BDA Bayern, der BDA Regionalgruppe Regensburg-Niederbayern und der Bundesstiftung Baukultur 2018 anlässlich einer Konferenz, zu der nun die Publikation vorliegt. Sie machte den bedenkenswerten Versuch, nicht über das Land oder die Stadt, sondern über Landesentwicklung nachzudenken – darüber, nach welchen Kriterien eigentlich entschieden wird, wie und wofür Flächen in Anspruch genommen werden. Für Straßen, Parkplätze, Wohngebiete, Gewerbe ob am Stadt oder Dorfrand.

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Kein schöner Land? Ein Diskurs zur Landesentwicklung. Weitere Information >>> Foto: Büro Wilhelm Verlag

Die darin dokumentierten Vorträge und Diskussion zeigen, dass wir die Vorstellung des idealen, normativen Bildes, das mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität nicht kompatibel ist, aufgeben müssen, wenn wir die Wirklichkeit gestalten wollen. Man müsse seinem Tun Realismus hinzufügen, fordert etwa Stefan Kurath:  „Wer nicht zu verstehen versucht, wie Stadt entsteht, kann nicht an ihr arbeiten.“ Was dann eben nicht nur – dem Tagungsthema entsprechend – für Kernstädte, sondern für die ganzen Agglomerationen und deren Randzonen gilt. Es gilt für die Regionen in ihrer Vielfalt und Diversität, einschließlich der Serverfarmen und Logistikzentren, die von allen gebraucht und erzeugt werden, ob sie von der schönen Stadt oder vom ländliche Idyll träumen. Das heißt vor allem: für „Land“ gilt das Gleiche wie für „Stadt“ – von letzterer postulierten Stefan Kurath und Andri Gerber 2016, dass es sie nicht gebe – zumindest nicht als Ideal, „als reproduzierbare Entität.“ Stadt entstehe anders, nämlich „durch langwieriges und stetes Arbeiten an ihr.“ (1)

Entsprechendes gilt auch für das Land: es gibt es nicht als Ideal, als Entität, die reproduziert werden kann – und das wirkt wiederum auf die Stadt zurück: „Möglicherweise ist die Stadt ja vor allem deshalb in der Krise, weil das Land verschwunden ist“, so Nicolai Roskamp 2017. (2) Das beharrliche Arbeiten müssen wir also auf einen Raum beziehen, in dem sich die Ideen und Ideale von Stadt und Land nur in winzigen Ausschnitten abbilden. Das heißt auch, dass beharrlich an den Bildern und Begriffen gearbeitet werden muss, mit denen wir hantieren.

Seinem Tun Realismus hinzufügen: das heißt gerade nicht, das vermeintlich Unvermeidliche hinnehmen oder das Hässliche schönreden. Es heißt, über Wirtschaft, Besitz, über Beziehungen im Raum nachzudenken. Woher kommt der Strom, woher das Essen, woher die Konsumgüter, wer arbeitet wo und was macht er warum in seiner Freizeit? Es gelte, einen Zusammenhang nicht auf der Bild-, sondern auf der Nutzungs- und Eigentumsebene herzustellen, „zwischen gesellschaftlichen Strukturen, Nutzungen, Landnutzungen und Landschaft“, wie es Sören Schöbel in „Kein schöner Land?“ beschrieb. Vielleicht heißt das ja, die Menschen an den Windparks beteiligen, gegen die sie sich wehren – also so genossenschaftlich zu denken, so dass die Betroffenen von den Veränderungen profitieren. Das heißt vielleicht auch, Menschen „auf dem Land“ nicht in erster Linie als Klientel wahrzunehmen, die eine Kleinfamilie gründen und abends ins Wirtshaus will, sondern dass diese Menschen genauso wie in der Stadt divers in ihren Lebensentwürfen sind, dass sie auch außerhalb der Metropolen nach Möglichkeiten suchen, ihr ganz eigenes Leben zu gestalten. Und dann heißt das vor allem, den Raum der Region als politischen wahrzunehmen, weil er durch politische Eintscheidungen gestaltet wird.

Vielleicht kommt man dann wiederum auch auf andere Lösungen für leerstehenden Ladenlokale. Vielleicht nicht für jedes. Aber so könnte man zu einer neuen Erzählung für die ländlichen Räume kommen, die Martha Döhler-Bezardi, Geschäftsführerin der IBA für dringend nötig hält. Eine, die nicht mehr der toten Tante Emma und ihrem Laden nachweint, weil sie davon eh nicht wieder lebendig wird.


(1) Andri Gerber und Stefan Kurath: Einführung. In: Andri Gerber und Stefan Kurath (Hg.): Stadt gibt es nicht. Unbestimmtheit als Programm in Architektur und Städtebau. Berlin 2016. S. 7–30, hier S. 24.
(2) „Die Identitätskrise der Stadttheorie (und ihre Verabschiedung von der Suche nach einem Stadtbegriff) hat vermutlich ziemlich viel damit zu tun, dass der klassische Stadt-Land Gegensatz immer mehr an Substanz verloren hat, dass das Konzept von Land, das darin umgeht, Konturen und Sichtbarkeit einbüßt und immer blasser wird. Möglicherweise ist die Stadt ja vor allem deshalb in der Krise, weil das Land verschwunden ist.“
Nikolaus Roskamp: Die unbesetzte Stadt. Postfundamentalistisches Denken und das urbanistische Feld. Basel 2017, S. 137