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Der Altstadtkern von Rothenburg steht unter Ensembleschutz, 130 Einzeldenkmäler gibt es in der Stadt. (Bild: Pixabay, Sergejs)
Rothenburg ob der Tauber gilt im In- und Ausland als Prototyp einer mittelalterlichen deutschen Stadt. Die Stadt verzeichnet im Jahr daher fast 2 Mio. Tagesbesuche. Aber das Bild trügt – oder besser gesagt, es ist ein Produkt: aus Regularien und Lokalstolz, aus Wiederaufbau, Selbstvergewisserung und Musealisierung. Mit dieser einzigartigen Mischung – dem Rothenburger Weg – möchte man nun UNESCO-Weltkulturerbe werden.

Rothenburg ob der Tauber – „eine Stadt, deren Gesicht auf eine Postkarte gepresst wurde“, so schreibt Hans Dieter Schmidt in seinem sehr lesenswerten Taubertal-Buch „Melusine und schwarze Wasser“. Oder der Kunsthistoriker Georg Dehio: Die Stadt sei „als Ganzes ein Denkmal“. Und Herbert Schindler in seinem Buch über die Romantische Straße, an der Rothenburg liegt: Rothenburg, das sei schlichtweg die „Lieblingsstadt der Welt“. Hier werden immer noch Illusionen geschaffen. Hier ist nur scheinbar alles Geschichte. Denn im zweiten Weltkrieg wurde Rothenburg zu 40 Prozent zerstört. Doch das ist bis heute nur wenigen bekannt. Die neue Dauerausstellung „Der Rothenburger Weg“ im Museum der Stadt, dem Rothenburg-Museum, das in einem ehemaligen Klostergebäude untergebracht ist, macht genau dieses Paradox zum Thema: Mit Gemälde, Grafiken, Radierungen, Fotografien, Postkarten, aber auch szenografischen Installationen und Multimediastationen veranschaulicht die Schau, wie sich der typische Rothenburg-Motivkanon in den Massenmedien durchsetzte.

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Rothenburgs Altstadt war nach dem Krieg zu 40 Prozent zerstört, insbesondere im Ostteil der Stadt. (Bild: ©Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber)

Die Moderne, das Bauhaus, das Neue Bauen, all das zog an Rothenburg vorbei. Gebaut wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im historisierenden „Heimatstil“. Am 31. März 1945 versank die Altstadt, vor allem der nordöstliche Teil, in Schutt und Asche. 306 Wohnhäuser und 46 Scheunen, Ställe und Nebengebäude wurden zerstört. 750 Meter Stadtmauer, zerstört durch amerikanische Phosphor- und Brandstabbomben.

Und dann? Dann begann das, was die konzentrierte Ausstellung im als den „Rothenburger Weg“ beschreibt: der überaus schnelle, mustergültige Wiederaufbau des ehemaligen Stadtbildes. Einmalig in Deutschland. Mit dieser „Synthese aus Mittelalter, Romantik und Wiederaufbau“, will sich Rothenburg um eine Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe bewerben.

Seit 1902, also lange vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, besteht ein durchgehender rechtlicher Schutz für das Stadtbild und die Altstadt – „eine bewusste Entscheidung der Rothenburger Bürger für den Erhalt ihres Stadtbildes“, so formuliert es Oberbürgermeister Markus Naser.  Jetzt kann das architekturinteressierte Kulturpublikum diesem besonderen, bewahrenden „Rothenburger Weg“ nachspüren. In der neuen Dauerausstellung, aber auch im Rahmen von Sonderführungen und anderen Veranstaltungen.

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Rothenburg wurde nach dem Krieg rasch wiederaufgebaut – orientiert am schon damals zum Image gewordenen Bild der Altstadt. Auf dem Foto der Blick auf die Altstadt mit der Galgengasse im Vordergrund, 1958. (Bild ©Stadtarchiv Rothenburg o.d.T.)

Der Rothenburger Weg

Jörg Christöphler, Leiter des Referat Tourismus, Kunst und Kultur erteilt Auskunft über das neue Schwerpunktthema

Was ist der „Rothenburger Weg“?

Der Rothenburger Weg ist nichts anderes als Rothenburgs Stadtentwicklung seit dem frühen 19. Jahrhundert. Der Rothenburger Weg beantwortet die Frage, wie und wieso diese Stadt bis auf den heutigen Tag das geworden ist was sie ist: der Inbegriff der romantisch-malerischen, märchenhaften und mittelalterlich-alten Stadt Deutschlands, wenn nicht gar Europas. Diese Charakterisierung ist ein Image, und dieses Image hat sich buchstäblich aus konkreten Bildern gespeist.  Aus Bildern von Künstlern des 19. Jahrhunderts und der später sich rasant entwickelnden Distribution über entstehende Massenmedien und neue Reproduktionstechniken. Der Rothenburger Weg ist die Bildwerdung einer Stadt als Stadtbild, eines Stadtbildes, welches ab 1900 im internationalen Maßstab Berühmtheit erlangte – und vor allem eines Stadtbildes, welches nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Stadtstruktur derart zurückwirkte, dass 40 % der kriegszerstörten Altstadt selbstähnlich wieder aufgebaut wurden.

Die Stadt als Bild …

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Die Arbeit am Wiederaufbau wird selbst zum Bild. (©RothenburgMuseum)

Rothenburgs einzigartig erhaltene Stadtstruktur wurde sehr früh zum Bild und zwar derart wirkmächtig zu einem massenmedial reproduzierten Bild, dass dieses Stadtbild nicht allein den Wiederaufbau leitete, sondern bis auf den heutigen Tag für die Stadtentwicklung in der Altstadt Geltung beanspruchen darf. In modifizierter und erweiterter Form ist die „Ortpolizeiliche Gestaltungssatzung“ von 1902 noch heute in Kraft.

Ist der „Rothenburger Weg“ denn noch zeitgemäß?

Absolut und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wie Gerhard Vinken, Winfried Nerdinger und andere Architekturhistoriker an zahlreichen deutschen Städten nachgewiesen haben: Das „Produkt Altstadt“ ist komplementär zu Prozessen der Verstädterung, zur Entwicklung anonymer, typisierter und im Grunde austauschbarer Agglomerationen und Vorstädte. Altstädte sind Identifikationsorte für die Stadtbewohner. Sie spiegeln ein stückweit Identität und die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und sogenannter „Heimat“ wider.  Die Fußläufigkeit der Altstädte, ihre Dichte an sozialen Strukturen und öffentlichen Funktionen sowie ihre baulichen Unverwechselbarkeiten entschleunigen und fungieren immer wieder als Modell eines lebendigen Stadtkörpers. Rothenburg ob der Tauber ist all dies in Reinform. Sein Stadtbild ist absolut unverwechselbar, die baulichen Strukturen und Wegverläufe stiften Orientierung — für die meisten Gäste ist es wegen seiner Kleinräumigkeit, ikonischen Architektur und Naturnähe ein absoluter Sehnsuchtsort. Oft wird vergessen, dass das „ob“ in „ob der Tauber“ die sprachliche Brücke in die umgebende Landschaft, aber auch die innerstädtischen grünen Oasen darstellt. Rothenburg ob der Tauber ist eine grüne Stadt  eingebettet in die umgebende Natur.

Ein Vorbild für grüne Stadtentwicklung?

Der Rothenburger Weg ist die Folie einer grünen und klimaresilienten Stadtentwicklung. Nicht umsonst haben die ersten Planer von Gartenstädten in England, Raymond Unwin und Barry Parker, für die zweite englische Gartenstadt Hampstead Garden Suburb im Norden Londons Rothenburgs Stadtanlage samt Architekturen und Stadtmauer als Vorbild genommen. In dieser Tradition weitergedacht ist der Rothenburger Weg ein Modell für das vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung proklamierte Leitbild „Gartenstadt 21“. Nachhaltig ist der Rothenburger Weg in der Praxis der kurzen Wege, denn es wird in der Altstadt  weiterhin mit heimischen, regionalen Baumaterialen gearbeitet.

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Ein Produkt der Moderne. Kapellenplatz, Rothenburg o.d.T. (Bild: Jörg Christöphler)

Jörg Christöphler

Teil der Moderne

Gibt es eine Modernität in der Bewahrung der Vergangenheit?

Ja. Eine beschleunigte Moderne, wie wir sie seit Anfang des 19. Jahrhunderts kennen, produziert fortlaufend ihre eigene Selbstvergewisserung über Historisierung, Musealisierung, Erfindung von Traditionen und dazu zählen auch „Altstädte“. Wer das vertiefen möchte, dem darf ich die Lektüre des von Florian Huggenberger und mir herausgegeben Sammelbands „Der Rothenburger Weg“ (Schriften des RothenburgMuseums 10), Rothenburg ob der Tauber 2023, empfehlen.

Was ist das Singuläre an Rothenburg?

Es gibt nicht die eine Singularität. Es  gibt hier je nach Fragestellung und  Blickwinkel viele. In Anbetracht der herausragenden Stellung im Denkmalschutz muss man sich etwa die Äußerung des britischen Gouverneurs von Jerusalem, Ronald Storrs, von 1918 auf der Zunge zergehen lassen, als es um die Frage eines eigenen, britischen Weges der  Restaurierung der Altstadt von Jerusalem ging: „I don’t cite Carcassonne and Rothenburg.“ Carcassonne und Rothenburg als Referenzorte für die Briten, wenn es um Jerusalem geht! Derartige Beispiele gibt es viele. Und erstaunlich ist, dass es überall in der Welt inzwischen Nachbauten von Rothenburgs ikonischen Bauwerken gibt: in Taicang in China, in Nova Petropolis in Brasilien, im Stoudberg Village oder im Epcot Center in den USA. Rothenburg beginnt sich gewissermaßen zu entmaterialisieren. KI generierte Bilder tragen dazu leider mit bei. Zum Glück bleibt die Sehnsucht nach dem materialen Original weltweit ungebrochen. Es ist also stets der Blickwinkel, der eine Singularität benennt. Georg Dehios Satz „Die Stadt als Ganzes ist Denkmal“ von 1908 darf bis heute Gültigkeit beanspruchen. Und der Rothenburger Weg legt bis auf den heutigen Tag Zeugnis davon ab — das ist für mich persönlich singulär!

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Blick in die neue Dauerausstellung im Rothenburg-Museum (Bild: RothenburgMuseum, F. Krause)

Wann ist der „Rothenburger Weg“ zu Ende?

Solange Stadtgesellschaft, Politik und Verwaltung den Konsens der Einzigartigkeit dieses Stadtkörpers mit seiner Struktur und Bildhaftigkeit teilen, solange wird der Rothenburger Weg nicht enden. Innerhalb der Altstadt werden über die Baugestaltungssatzung und die Werbeanlagensatzung die bestehende Stadtstruktur und das Stadtbild innovativ fortgeschrieben — innovativ, weil es inzwischen auch um die Vereinbarkeit von energetischer Sanierung und Denkmalschutz geht. Angesichts des Klimakillers graue Energie ist das Bauen und Erneuern im Bestand auch ein Klimaschutz-Aspekt des Rothenburger Weges. In Zusammenarbeit mit dem UNESCO Chair für Kulturerbe und Städtebau an der RWTH Aachen haben wir einen Postgraduate-Zertifikatskurs zu „StädteBauKultur“ entwickelt, der im Wintersemester 2025/2026 an den Start gehen wird: Rothenburg ob der Tauber und der Rothenburger Weg sind dabei Reallabor und Lernort in einem. Die Zukunftsfragen einer denkmalgerechten, sozialverträglichen und klimaresilienten Stadtentwicklung werden dann hier verhandelt werden. Übrigens thematisiert die Dauerausstellung im Rothenburg-Museum bereits diesen Ausblick — im sechsten und letzten Raum kommen ja die Entwürfe aus dem Architekturwettbewerb von 2022 „Inside/Out“ zu Wort — damals begann die Kooperation mit dem Lehrstuhl für Städtebau und Entwerfen von Christa Reicher an der RWTH Aachen. Bildung und Forschung — auch das gehört inzwischen zum Rothenburger Weg.


Der Rothenburger Weg
Dauerausstellung zum Wiederaufbau
RothenburgMuseum, Klosterhof 5, 91541 Rothenburg ob der Tauber
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