Corona: Rentner haben es gut und beziehen ihre Rente wie eine Art Grundeinkommen. Sie gehen ohnehin nur in ihr Home-Office und können sich von allem fernhalten. Allerdings gehören sie auch zu den Risikopatienten, falls sie das Virus erwischt. Unvermeidlich, die eigene Situation täglich neu zu bewerten.
Wie das Leben so spielt. Viele meiner Generation hatten ihr Leben lang Angst vor dem Dritten Weltkrieg, es gab ja auch regelmäßig Ereignisse, die darin bestärkten: Mauerbau, Kuba-Krise, Sechs-Tage-Krieg, Einmarsch in Prag… Daneben existierten die gewöhnlichen Gefährdungen. Man brauchte kein Hypochonder zu sein, um sich Gedanken zu machen über die Wahrscheinlichkeit, dass einen Krebs, Herzinfarkt oder Aids erwischen.
Störfall
Und nun so etwas. Corona, ein echter Störfall. Gerade hat man noch den Mutigen markiert und sich mit perfider Ironie gegen die widersprüchlichen Nachrichten gestemmt. Inzwischen scheint im Strudel der Fakten eine Erkenntnis zur unverrückbaren Tatsache geworden zu sein: Es müssen sich 60-70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren, bevor er Ruhe gibt. Davon werden sich nach den ersten Prognosen (Anfang März) 3,5 Prozent nicht mehr erholen. So möchte man es umschreiben, um nicht zu sagen, zwei Millionen Menschen werden in Deutschland daran sterben. Nicht schlagartig wie beim Abwurf einer Atombombe, vielleicht verteilt über eineinhalb Jahre. Man wird es nicht so genau erfahren, denn gestorben wird ja immer, und solange niemand obduziert ist, könnten fallweise auch Altersschwäche oder andere Erkrankungen die Ursache gewesen sein.
So sucht sich jeder seine persönliche Balance zwischen Information und Meinung. Die Politik erklärt uns, es gibt (noch) kein Gegengift gegen dieses Virus. Also gilt die Losung, die Phase der allgemeinen Ansteckung möglichst lange zu dehnen, damit die Labore in der Zeit etwas erfinden können und die Krankenhäuser nicht überlastet werden. Da liegt allerdings noch eine lange Durststrecke vor uns, es müssen sich noch zigtausend mal mehr (!) Menschen anstecken. Bei Seglern nennt man diese Taktik abwettern, irgendwie mit Reff durch den Sturm kommen. Im Fall von Corona könnte man natürlich mutig/leichtsinnig sein und sich lieber sofort infizieren, solange es noch Betten und Beatmungsgeräte gibt. Dann schafft man es entweder und ist wahrscheinlich danach immun. Oder eben nicht.
Die angebotene Strategie ist ein klassisches Paradoxon. Die Gesellschaft soll durch Krankheit genesen. Es liegt nahe, sich darüber in zynische Vernunft zu flüchten: „Wenn einst Aufklärung – in jedem Wortsinn – der Angstminderung durch Mehrung von Wissen diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Angstmehrung.“ Das war sicher noch nicht das letzte Wort von Peter Sloterdijk. Und Marc Elsberg und Sebastian Fitzek sammeln längst für ihre nächsten Endzeit-Thriller. Filmkulissen haben wir bereits. Wenn man am späten Nachmittag – zumal bei täuschend optimistischem Sonnenschein – durch menschenleere Straßen spaziert, vorbei an verschlossenen Geschäften und Lokalen, kann man sich die Totenstarre in Marlen Haushofers Roman Die Wand realistisch vorstellen. Aber noch geben wir nicht auf.
Paradigmen und ihre Wechsel
Wir handeln verantwortungsbewusst. Waschen die Hände, gehen uns aus dem Weg. In der Stiftskirche in Neustadt hatte man schon frühzeitig die Bestuhlung reduziert, damit die Gottesdienstbesucher zueinander Abstand halten können. Die Reihen sind gelichtet. Das klingt wie ein böses Omen. Die Stuhlaufstellung erinnert an die neuen Wohngebiete am Stadtrand. Freistehende Einfamilienhäuser, umgeben von virenresistenten Splitgärten. Haben die Häuslebauer es also vorausschauend richtig gemacht?
Es gibt nichts, wozu sich in diesen Tagen keine Vermutung aufdrängt.