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Da kommt so ein winziges Virus daher und legt Gesellschaften rund um den Globus lahm. Wo die medizinische Grundversorgung fehlt oder grob fahrlässig vernachlässigt wird, verursacht es den Tod leider vieler Menschen. Funktionalität und Bedeutung von privatem und öffentlichem Raum ändern sich zudem von einem auf den anderen Tag – von unseren Verhaltensweisen mal ganz abgesehen. Solidarität und Wissenschaft haben eine merkwürdige Konjunktur. Und trotzdem triumphiert wieder: die Macht des Geldes.


Peter Haimerl in der Süddeitschen Zeitung

Peter Haimerl in der Süddeitschen Zeitung am 21. März 2020

Möglichst wenig soll hier zur Sprache kommen, was in aller Munde ist. Für unsere fachspezifische Leserschaft hat sich zum Beispiel Peter Haimerl in der Süddeutschen Zeitung zu Wort gemeldet – mit der Ansage, dass es bürotechnisch gerade übel aussieht, aber die universitäre, vor allem die europäische Perspektive eine andere sein kann. Hatte es „der Markt“ zuletzt so gerichtet, dass es Architekten wirtschaftlich mehr als gut ging, dass Büros Wettbewerbsabteilungen geschlossen und Aufträge wegen Überlastung nicht mehr angenommen haben, lässt sich derzeit generell schnell der Hebel in den Klagemodus legen. Oder in eine gut durchdachte, weitreichende Änderungsposition bringen.
Symptomatisch für die allermeisten Wirtschaftsbereiche brummte es in den letzten Jahren auch im gesamten Bauwesen. Die jetzige Lage bringt alle in Bedrängnisse – aber wer leidet welche  Not?

Krisen = Dauerzustand

Privater und öffentlicher Raum verändern sich für eine Interimszeit radikal – und bei aller menschlichen Dramatik ist eine Virus-Welle nichts anderes als eine Interimskatastrophe, die wie alle anderen Katastrophen nicht alle Menschen in gleicher Intensität trifft. Das Corona-Virus verändert nicht per se, sondern unter den menschengemachten Lebensverhältnissen die Lebensräume in Funktionalität und Bedeutung. Der private Raum wird derzeit für viele Menschen, vor allem in den Städten, zum Gefängnis. Der öffentliche Raum in toto mutiert zur no go area. Änderungsperspektiven kommen durchaus zur Sprache, wobei Digitalisierung allerorts thematisiert ist.
Es heißt vielerorts, die Gesellschaft werde daraus lernen und sich verändern. Als unverbesserliche Optimistin fürchte ich jetzt: leider nein.

Freie Wissenschaft ≠ systemgefangenes Expertentum

Zuerst und krisenspezifisch hatten die Virologen das Wort. Mit bewundernswerter Sachlichkeit und Bescheidenheit erweist sich beispielsweise Christian Drosten als würdiger Repräsentant ihrer Zunft.1) Zudem muss allen, die derzeit den Attacken einer Pandemie primär mit ihrer Arbeitskraft und beruflichen Ethik ausgesetzt sind, Dank und Anerkennung gezollt werden. Aber wieso erst jetzt? Seit Jahren wird im Strom des Neoliberalismus auch das Gesundheits- und Pflegewesen privatisiert, wodurch diejenigen, die es stemmen müssen, erheblich unter Druck gesetzt worden sind. Krankenhäusern sieht man in weiten Teilen an, dass sie ökonomisch ausgebeutet werden.
Es lässt sich im Gesundheitswesen Geld abschöpfen, das wissen auch viele Unternehmer und Börsianer. Krankenhäuser und Senirorenheime sollen Gewinn abwerfen, und wie jämmerlich deswegen nicht nur der Zustand der Architektur, sondern auch die Arbeitsverhältnisse von Pflegern und anderen KrankhausmitarbeiterInnen sind, wissen wir seit langem. Aber damit offenbart sich faktisch, was wir ebenfalls seit langem irgnorieren: Das Gesundheitswesen und Pflegefürsorge sind genauso vorzuhalten wie Kitas, Schulen und Universitäten – und vieles mehr. Vor allem Bestandsbauten werden beschämend vernachlässigt, Eltern streichen und putzen die Schulen, Studenten arbeiten in zugigen Arbeitsräumen.
Aber nur wenn Kapazitäten vorgehalten werden, lassen sich Krisen ohne horrende, zum Teil unkontrollierbar verteilte Sonderausgaben managen.

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„G“ | Bundesfinanzminister Olaf Scholz gießt Geld ins Land: „Wir können uns das leisten“. (Bild: BMF/Thomas Koehler/photothek.net)

Demokratie ≠ Wohlstand

Es war auf ein Mal da, das böse Virus. Nach den Virologen (siehe oben) standen in den Diskursen der letzten Tage kurz die Soziologen und Philosophen hoch im Kurs und repetierten, was hinlänglich bekannt ist.2) Wenn sich Solidaritäts- und Gerechtigkeitsfragen stellen, traut man ihren umsichtigen und zeitübergreifenden, intellektuellen Fähigkeiten. Aber mehr und langfristig leider nicht.

Denn jetzt, wo die Regierungen in Bund, Ländern und Kommunen rasch ihre „Hilfspakete“ geschnürt und ihre „Rettungsschirme“ aufgespannt haben, geht es wie in den vorangegangenen „Krisen“ um so viele Milliarden, dass die nächsten Währungsdimension Billion ins Vokabular sickert und Begehrlichkeiten geweckt sind. Flugs sind in dieser jüngsten Krisenphase also wieder alle zur Stelle, die sich nur in wirtschaftlichem Sinne und primär im Eigeninteresse äußern und dabei gern mit dem Adjektiv „systemrelevant“ in machtvolle Einflusspositionen rücken. Architekten sind in dieser Dringlichkeit noch nicht relevant.

Auf dem Spiel steht sehr, sehr viel. Grundrechte werden eingeschränkt, Beschränkungen aller Art in Gesetzte verankert, vom „Notparlament“ wird geredet – geht’s noch? Welche Relevanz hier der Datenschutz hat, greifen wir in Kürze auf.

Das durch Politik geschwächte Gesundheitswesen ist in Bedrängnis – und diese Bedrängnis wird zu stark zur Demonstration politischer „Handlungsfähigkeit“ missbraucht. Infolge derzeitiger politischer Entscheidungen scheinen demokratisch mühsam erarbeitete Strategien irrelevant zu werden. Alles, aber auch wirklich alles, was derzeit Corona-Virus-bedingt justitiabel geändert wird, müsste deswegen zwingend in regelmäßigen, kurzen Abständen von den Parlamenten bestätigt werden. Corona-gemäß alle 14 Tage!

Staatliche Macht muss auch in akuten Krisen Entscheidungs- und Machtkontrollen und einer öffentlichen Transparenz unterworfen werden. Viktor Orbán mag das anders sehen. Aber an den demokratischen Krisenbewältigungsritualen ändert sich nichts, wenn die betroffene Gesellschaft nicht in der Lage ist, diskursiv Machtstrukturen inklusive des Wirtschaftssystems zu ändern. Diskursiv: Da wären wir bei Jürgen Habermas, der Demokratie, Kommunikation und offene Gesellschaft über Jahrzehnte durchdenkt. Aber das führt hier und heute zu weit und endet deswegen in einer Leseempfehlung: Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bde., 2019. Darin weist er auf jenen „Fatalismus, der sich in dem Maße ausbreitet, wie sich die Menschheit in die Komplexität der unbeherrschten Nebenfolgen ihrer selbsterzeugten ökonomischen und technologischen Wachstumsdynamik verstrickt“ (Seite 14).

Die "Süddeutsche" vom heutigen Tag (31.3.2020): Frohe Botschaft vom baldigen, 2021 sogar ungewöhnlich hohen Wirtschaftswachstum. Damit wird alles gut?

Die „Süddeutsche“ vom heutigen Tag (31.3.2020): Frohe Botschaft vom baldigen, 2021 sogar ungewöhnlich hohen Wirtschaftswachstum. Damit wird alles gut?

So zeigt sich nach stürmischem Corona-Krisenbeginn: Virologen und Soziologen und Philosophen sind auf ein Mal als „Wissenschaftler“ gefragt – und bewähren sich in ihrem öffentlichen Auftrag weitgehend. In der Wirtschaft und ihren Gremien und Verbänden sitzen dagegen „Experten“, die „Sachverständigen“. Ihnen misstraue ich aufs äußerste, weil sie samt und sonders seit Jahrzehnten systemkonform und nicht systemkritisch ausgebildet werden. Wachstumsspiralen sind die heiligen Kühe jener, die jetzt die Lockerungen aller Sparsamkeitsregeln nicht nur national, sondern im lädierten europäischen Rahmen fordern. Künstler, Kleinunternehmer usw. sind dabei mengenmäßig kaum relevant. Die Milliarden im Paket und unterm Schirm werden zum allergrößten Teil wieder in privaten Wirtschaftswohlstand fließen, der sich in steigenden Börsenkurven manifestieren wird. Ich fürchte, dass sich an diesen mechanisierten Ritualen nichts, aber auch gar nichts ändern wird.

ABC, D und G

Gesellschaften, die sich bewusst sind, dass Krisen und Gefahren der Art ABC und inzwischen D (Kriege atomar, biologisch, chemisch und digital) historisch betrachtet quasi an der Tagesordnung sind, müssten sich – eigentlich – neu organisieren und daran mit aller Kraft arbeiten. Das Corona-Virus ließe sich hier zu den – allerdings naturgegebenen – biologischen Waffen „B“ zählen, die an den popeligen nationalen Grenzen einfach nicht halt machen wollen.
Sehen wir dieser Tage aber, welche organisatorischen und sozialen Vorteile digitale Kommunikation haben kann, so weist der Sprachgebrauch mit dem Wort „Virus“ darauf, dass diese digitale Organisation und Kommunikation extrem anfällig für Angriffe aller Art sind. Unsere gesamte Infrastruktur lässt sich mit einem klug entwickelten, digitalen Virus der Kategorie „D“ (= digital) lahmlegen. Und unsere Demokratien steuern auf bislang demokratisch unkontrollierte Weise in Überwachungsstaaten über.

Zuvor aber wirkt die Kraft G = Geld. Denn inzwischen kommen die ganzen Lobbyisten, Verbandssprecher und sonstigen Interessenvertreter aus ihren Löchern und fordern die Rückkehr zum „Normalzustand“. Heißt: Weiter wie bisher, nur mit größerer finanzieller Unterstützung durch den Staat. Adidas – die Aktie kostete 2015 lt. Frankfurter Aktienindex 56,52, im Januar 2020 satte 311,90 Euro – will beispielsweise keine Miete mehr zahlen, wälzt damit Krisenfolgen auf die nächst Schwächeren – die Ladenvermieter – ab, diese wiederum auf das Gemeinwesen uns so weiter.
Staatliche Rücklagen werden gießkannenartig als letztlich korrumpierende Wohltat ausgegossen. Politisch weitsichtige Investitionen, die in allen zugutekommende Infrastruktur geplant waren, werden jetzt effektlos, aber imagefördernd für die Politik auf privaten Konten landen. Und von dort in vielen unnützen bis schädlichen Konsumsektoren. Wer in dieser Geldvergabesparte derzeit nichts zu verteilen hat – Friedrich Merz, Norbert Röttgen und viele andere –, schweigt symptomatisch.


1) Virologe Drosten weiß sein Fachwissen brillant zu vermitteln: https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html

2) Heinz Bude: In: ZEIT online, 21.3.2020

https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2020-03/corona-krise-folgen-neoliberalismus-gerechtigkeit-solidaritaet-heinz-bude / Zur „experimentellen Intellektualität: „(Sie) fehlt in unserer Gesellschaft und es hat damit zu tun, dass wir die letzten zehn Jahre relativ paradiesisch gelebt haben. Die Irritationen unter vielen Deutschen hängen damit zusammen, dass den Leuten irgendwie klar ist, dass es so nicht weitergeht, wir aber überhaupt nicht wissen, wie wir jetzt neu ansetzen. Die Fragen, die für die meisten relevant sind, lauten: Worin besteht der Reichtum unserer Gesellschaft? Wie können öffentliche Güter wiederhergestellt werden? Was bedeutet Geld, was bedeuten Schulden?“
Siehe auch Udo di Fabio: Dein Staat und Retter. In: Die ZEIT, 19. März 2020. Der Autor benennt unter anderem die „Notwendigkeit einer reflexiven Globalisierung“.