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Balkrishna Doshi (1927–2023)


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Balkrishna Doshi, 2018 Preisträger des Pritzkerpreises. (Bild: The Hyatt Foundation)

Er war einer derjenigen, die uns immer wieder schmerzlich vor Augen führen, wie wenig wir über die Architektur und die Architekten anderer Kontinente wissen. Dabei war er unter ihnen einer der Großen und bereits 90, als er mit dem Pritzkerpreis geehrt wurde. Und auch das ist bezeichnend: Er war immer neugierig, hat bei Le Corbusier und von Louis Kahn gelernt, und auf dieser Basis eine ganz eigene Sprache entwickelt, die die Lehrer genau so wenig verleugnet wie die Orte, für die es zu entwerfen galt. Nun ist Balkrishna Doshi im Alter von 95 gestorben.

 

Lernen, verlernen und wieder erlernen

Der wohl bekannteste indische Architekt erblickt am 26. August 1927 das Licht der Welt, die damals eine völlige andere als heute ist. Im Mai dieses Jahres war Charles Lindbergh erstmals nonstop von New York nach Paris geflogen, Schwarz-Weiß-Fernsehen gibt es zwar schon, verbreitet ist diese 1924 erfundene Technologie aber noch nicht; Alexander Flemming wird die ersten Antibiotika erst ein Jahr später, 1928, entwickeln, dafür schaffen britische Armee und Reichswehr in diesem Jahr die Lanze als offizielle Gefechtswaffe ab. Den indischen Staat gibt es genauso wenig wie die Bundesrepublik Deutschland, in Berlin liefern sich Nationalsozialisten und Kommunisten schwere Straßenschlachten, George V. ist König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, König der britischen Dominions sowie Kaiser von Indien. Balkrishna Vithaldas Doshi, von den allermeisten später nur B.V. Doshi genannt, wird in Pune geboren, einer der Hauptstädte der damaligen britisch-indischen Provinz Bombay. Zehn Monate nach der Geburt stirbt die Mutter, der Vater heiratet erneut, Großvater und Tanten ziehen den Jungen mit groß, der im Alter von elf Jahren bei einem Brand derartig verletzt werden sollte, dass er fortan leicht hinkt. In Bombay, wie Mumbai bis 1995 offiziell heißt, nimmt Doshi 1947 im Alter von 20 Jahren an der Sir J. J. School of Art das Architekturstudium auf – in genau jenem Jahr, in dem Indien seine Unabhängigkeit erlangt.

Von Pune nach Mumbai, von Paris nach Ahmedabad

Drei Jahre später, 1950, zieht es B.V. Doshi nach Europa, wo er bei Le Corbusier arbeitet. Im Büro des seinerzeit bereits weltweit tätigen Franko-Schweizers in Paris entstehen damals die Planungen für den Kapitol-Komplex im indischen Chandigarh (1952–65), die Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1951–55) und die wunderschönen Maisons Jaoul in Neuilly-sur-Seine. 1952, nach sechsjähriger Bauzeit wird die Unité d’Habitation am Boulevard Michelet in Marseille fertiggestellt. In Folge der Projekte in Chandigarh erhält Le Corbusier zudem Aufträge im nordwestindischen Ahmedabad, und dafür braucht er einen verlässlichen Mann vor Ort. Balkrishna Doshi zieht also 1954 als Projektarchitekt für die Villen Sarabhai und Shodhan (beide 1951–56), für den Sitz des Textilherstellerverbands, das Mill Owners‘ Association Building (1951–54) und das Museum Sanskar Kendra (1953–56) nach Indien zurück und wohnt fortan in der Wirtschaftsmetropole des Bundesstaates Gujarat.

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Indian Institute of Management, Bangalore, 1977–92, das zeigt, wie Doshi regionale klimatische Erfordernisse in seine Architektur integriert. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Sanyam Bahga)

1955 heiratet Balkrishna Doshi Kamala Parikh. Aus der Ehe gehen drei Töchter hervor: Tejal, Radhika und Maneesha, die später als Stoffdesignerin, Architektin und Malerin Karriere machen werden. Im gleichen Jahr gründet Doshi das eigene Architekturbüro Vatsushilpa in Ahmedabad. Es entstehen erste Projekte wie das nach der Ehefrau benannte Kamala House, in dem die Familie ab 1963 lebt, oder das Ensemble aus Wohn- und Gästehaus Atira Peon (1958–1960). Ab 1962 arbeitet Doshi erneut mit einem Vertreter der globalen Avantgarde-Architektur zusammen und realisiert gemeinsam mit Louis Kahn die Campusbauten der Wirtschaftshochschule Indian Institute of Management Ahmedabad, die bis 1974 fertiggestellt werden. Mit dem Institute of Indology (1959–62), dem Theater Tagore Memorial Hall (1961–71) und der Hochschule Centre for Environmental Planning and Technology (1966–2012) entstehen zur selben Zeit in Ahmedabad gleich drei Paradebeispiele für den indischen Brutalismus, der raumbildend auf die lokalen klimatischen Bedingungen eingeht. Doshi vereint hier die in der Zusammenarbeit mit Le Corbusier oder Kahn erlernten formalästhetischen Versatzstücke zu einem beeindruckend spezifischen Amalgam.

Bilder und Assoziationen indischen Lebens

Zwischen 1979 und 1980 realisiert Doshi das eigene Büro als Einheit aus Architektur und Landschaft und nennt es Sangath, was sich als „Zusammenrücken“ oder „Gemeinsam bewegen“ übersetzen lässt. Der Architekt schreibt selbst über das Projekt: „Sangath vereint Bilder und Assoziationen indischen Lebens. Der Campus integriert vergessene Episoden, ruft sie wieder hervor und verbindet sie – Erinnerungen von besuchten Orten prallen aufeinander. Sangath ist eine fortlaufende Schule, in der man lernt, verlernt und wieder erlernt. Es ist zu einem Heiligtum von Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit geworden, in dem Forschung, institutionelle Einrichtungen und größtmögliche Nachhaltigkeit hervorgehoben werden.“ Wie schon im Atira Peon Guesthouse scheinen auch hier die Maisons Jaoul wieder auf, an deren Entstehung der junge Architekt 30 Jahre zuvor im Pariser Studio von Le Corbusier beteiligt war. Das Projekt fügt mehrere, von Halbtonnen überwölbte, schmalrechteckige Gebäude auf unterschiedlichen Höhenniveaus kunstvoll in eine Gartenlandschaft, verbunden durch Terrassen und Wasserbecken, teilweise in die Erde eingelassen. Das ist nicht nur als Anlage malerisch, sondern führt im trocken-heißen Klima Ahmedabads auch zu einem angenehmen Raumklima.

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Galerie Amdavad ni Gufa (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Vaishal Dalal)

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Galerie Amdavad ni Gufa (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, Pratyush thaker)

Auf die Spitze treibt Doshi diese Einschreibung in die Erde des Ortes mit der Galerie Amdavad ni Gufa, die den Arbeiten des Künstlers Maqbool Fida Husain einen permanenten Raum gibt. Auf Basis von Kreissegmenten und Ellipsen wölben sich selbsttragende und mit Mosaiken kunstvoll besetzte Kuppeln über unregelmäßig schräggestellte Säulen und vielfach gekrümmte, hauchdünne Stahlbetonwänden. Präzise gesetzte Lichtkanonen nehmen einmal mehr ein bereits bei Le Corbusier erprobtes Element auf und führen natürliches Licht in die Tiefen dieser Kunsthöhle.

Im Laufe der Jahre entstehen mehrere Wohnsiedlungen, die ebenfalls den International Style um lokale architektonische Traditionen bereichern. Dabei steht immer auch ein gesellschaftlicher und sozialer Anspruch an die Produktion von Architektur im Fokus der Arbeit des Architekten und seines stetig wachsenden Teams. In Kalol, Hyderabad und Baroda entstehen so Anfang der 1970-er bemerkenswerte Beispiele lokalen Städtebaus, der indische Dorfstrukturen mit europäischen Architekturelementen verbindet. Das Projekt Aranya, bei dem ab 1982 preiswerter Wohnraum in Indore entsteht, wird 1995 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet, dem wichtigsten Architekturpreis der muslimischen Welt. 2018 erfährt Doshi mit dem Pritzker Preis die höchsten Weihen der westlichen Architekturwelt, im Jahr 2022 folgt die Königliche Goldmedaille des Royal Institute of British Architects, darüber hinaus wird Doshi mit zahlreichen indischen Preisen ausgezeichnet.

Vater und Großvater, Lehrer und Lernender

B.V. Doshi bleibt all die Jahre Lernender wie Lehrender. 1966 ist er Gründungsdirektor der School of Architecture, deren Gebäude er selbst entwirft und bis 2012 unter ihrem späteren Namen CEPT stetig erweitert; er ist Gründungsmitglied des Visual Arts Centre und Gründungsdirektor des Kanoria Centre for Arts in Ahmedabad. 1978 hebt er die Vastushilpa Foundation for Studies and Research in Enviromental Design mit dem Ziel aus der Taufe, einheimische Standards für Entwurf und Planung von Projekten in Indien zu entwickeln. Stetig ist er um Austausch bemüht, kooperiert mit ausländischen Hochschulen und lädt zu jährlichen Summer Schools ein.

Unterdessen gründet Tochter Radhika 1987 gemeinsam mit Rajeev Kathpalia das eigene Architekturbüro Mansar, das 1995 mit Vastu Shilpa Consultants, wie das Büro seit 1981 heißt, vereinigt wird. Inzwischen ist mit Doshis Enkelin Khushnu Panthaki Hoof die nächste Generation im Büro eingezogen, die VSC mit ihrem Ehemann, dem gebürtigen Stuttgarter Sönke Hoof, führt. Am 24. Januar nun ist Balkrishna Vithaldas Doshi, der Pionier des indischen Brutalismus und Modernismus, der immer neugierig gebliebene Architekt, Lehrer, Vater und Großvater im Alter von 95 Jahren in Ahmedabad gestorben.


Eine Video-Serie dokumentiert den Werdegang und die Arbeit Doshis >>>