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In tiefer Verbundenheit


Im Oktober starben zwei Persönlichkeiten, deren Werke in ihrer Bedeutung für Architektur und Planung nicht zu unterschätzen sind: Bruno Latour und Mike Davis. Beide haben dem Glauben, es sei möglich, eine neutrale Beobachterposition einzunehmen, auf je eigene Weise misstraut. Entsprechend sind für beide Architektur und Planung immer Teil eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses.


Bruno Latour (1947–2022)

Er habe schon immer ein besonderes Talent dafür gehabt, Dinge zusammenzubringen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. So wurde er 2018 charakterisiert: Bruno Latour, dessen hybrides Denken so zeitgemäß sei wie nie. (1) Man muss sich fragen, warum denn die Dinge nicht zusammengehören wollen – oder ob sie nur deswegen so oft getrennt von einander betrachtet werden, weil wir es so lange eingeübt haben, dass es uns selbstverständlich erscheint.

Latour, Soziologe und Philosoph, gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Akteurs-Netzwerk-Theorie. Diese Theorie beschreibt das Soziale als ein Geflecht aus Wechselbeziehungen, innerhalb derer auch Dinge den Status von Akteuren bekommen. Sein umfangreiches Werk ist in den letzten Jahren vor allem deswegen populär geworden, weil darin die Klimakrise zentraler Aspekt seiner Arbeit geworden ist. Er reagierte auf die Krise mit bereits früher entwickelten Konzepten, die das Gegenüber von Natur und Gesellschaft in Frage gestellt hatten. Latour hat diese Trennung auch für den Umgang mit der Klimakrise als problematisch beschrieben, weil mit ihr verhindert wird, dass wir die Verflechtungen und Rückkopplungen unseres Tuns in der Welt wahrnehmen  – die Trennungen verhindern, dass wir wahrnehmen, was unser Tun in der Welt gerade für uns bedeutet: „Innen und Außen sind (…) Resultate, keine Ursachen“ hatte er 2005 geschrieben.(2)  Dem ist er nicht nur in wissenschaftlichen Arbeiten nachgegangen, er hat den Kontakt zu anderen Wissenschaften und Künstler:innen gesucht. Im Karlsruher ZKM waren etwa »reset Modernity!“ (2016) oder „Critical Zones“ (2020) zu sehen gewesen, beide hatte Latour mitkuratiert und sich damit auch auf Vermittlungsebenen begeben, die nicht allein auf der Ebene des Intellekts angesiedelt sind, sondern andere Ausdrucksformen und Praktiken aktivieren. Das schien ihm wesentlich, um das Leben in der „kritischen Zone“ zu bewältigen: „Auf die Erde acht zu geben ist nicht einfach: Wir haben kein Gespür dafür, woraus sie gemacht ist und wie sie auf unser Handeln reagiert“, hieß es etwa im Begleitheft zur „Critical Zones“. Eine der Forderungen, die er dabei erhebt ist die, „terrestrisch“ zu werden. Das bedeute, „einen gemeinsamen Grund zu schaffen. Diese Aufgabe kann nur kollektiv und mit einer Vielzahl von Stimmen und Akteuren – menschlichen wie nicht-menschlichen bewältigt werden“; statt auf der Erde zu leben, heiße das, „in einen Raum eingebettet zu sein, der sensibel auf unsere Handlungen reagiert.“(3)

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Braunkohletagebau: Eine der vielen Beispiel dafür, dass wir Natur als etwas von uns Getrenntes verstehen und behandeln. (Bild: © Raimond Spekking & Elke Wetzig / CC BY-SA 4.0; via Wikimedia Commons)

Für den Diskurs über Architektur waren Latours Arbeiten fruchtbar, weil sie dem Bauen und dem Handeln nicht das Nicht-Bauen, das Nicht-Handeln gegenüberstellte, sondern sie als wesentlich für unsere Existenz, unserer Ko-Existenz mit anderen Lebewesen und Dingen verstand – und gerade deswegen muss das Bauen, muss das Handeln sich ändern, muss ein Verständnis für die Beziehungsgeflechte aufgebaut werden, die wir durch unser Tun prägen und die auf uns zurückwirken. Die Bedeutung des Gemeinsamen wird dabei hervorgehoben. Architektur hört auf Objekt zu sein, wird zu einem Akteur innerhalb eines intensiven Geflechts aus Räumen, Stoff- und Energieströmen. Dann – und das ist der zweite Aspekt, der für Architektur und Planung wichtig ist, werden auch ohnehin veralteten Trennung zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land obsolet, weil sich unser Leben und Agieren in Wirkungen und Rückkopplungen vollzieht, in dem die nahen und fernen Zonen gleichermaßen eingebunden sind. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, sich von der Vorstellung der dichten Stadt als dem Gegenüber des Landes zu lösen, um beide in ihren Wechselbeziehungen zueinander diskutieren und gestalten zu können. Von Latour lernen hieße nicht zuletzt dieses: sich der Verbuindungen und Abhängigkeiten, die unsere Existenz prägen, bewusst zu werden und sie in unser Handeln einzubeziehen.




Mike Davis (1946–2022)

Mike Davis wurde 1990 mit einem Buch berühmt, das heute als Klassiker der Stadtsoziologie gilt. „City of Quartz,“ auf deutsch 1994 erschienen, legt den Finger in die Wunde des neoliberalen Amerika. Davis beschreibt in diesem Buch sehr anschaulich, wie sehr die Geschichte von L.A. eine der Ausbeutung von Menschen und Natur war und es bis in die Gegenwart ist, wie der öffentliche Raum privatisiert, wie die Mittel der öffentlichen Hand dort eingesetzt werden, wo sie denen zugute kommen, die über den größten Einfluss verfügen. Es ist so eine Spirale, die das erzeugt, was als gegeben zu sein behauptet wird. Privilegien werden so produziert, dass sie denen zugute kommen, die Privilegien haben. Das erzeugt die Atmosphäre, die sich durch Fakten nicht mehr beeinflussen lässt: „Die gesellschaftlich empfundene Bedrohung hat mehr mit dem Ruf nach Sicherheit zu tun als mit der Kriminalstatistik.“ Die konstruiert Ungerechtigkeit setzt sich  in der Architektur fort: „Die schicke, pseudoöffentlichen Räume von heute (…) sind voll unsichtbarer Zeichen, die den „Anderen“ aus der Unterschicht zum Gehen auffordern. Architekturkritikern entgeht zwar meist, wie die gebaute Umwelt zur Segregation beiträgt, aber die Parias – arme Latinofamilien, junge schwarze Männer oder obdachlose alte Frauen – verstehen ihre Bedeutung sofort.“ (4) Solche Diagnosen sind inzwischen auch in anderen Städten gemacht, die Kämpfe, subtile wie direkte, um Macht und Raum sind auch anderswo analysiert worden, in Ausstellungen untersucht und veranschaulicht – der Einfluss, den Davis dabei hatte, ist nicht zu überschätzen. Es ist deswegen schon lange nicht mehr angemessen, ihm als Marxisten und Kommunisten den Vorwurf zu machen, er sei „alles andere als ein unparteiischer Sammler von Tatsachen“, wie das Andreas Kilb in der Zeit 1999 getan hatte. (5)

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Mike Davis hat Los Angeles schärfer analysiert, als es so manchem lieb war. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Tuxyso)

Doch damit ist die Bedeutung von Davis nicht erschöpft. In „Ökologie der Angst“ (1998, 1999 auf deutsch erschienen) hat Davis – auch auf Los Angeles bezogen – die Zusammenwirkung von räumlicher Segregation einerseits und ökologischen Folgen andererseits drastisch verdeutlicht. Dass sich die Reichen zuerst segregieren, ist heute ein Gemeinplatz, dass der damit verbundene Prozess für wesentliche Umweltschäden verantwortlich ist, will man bis heute nicht hören. Und ein weiteres Buch verdient, in Erinnerung gerufen zu werden: „Die Geburt der Dritten Welt“ (2001, deutsch 2004) erinnert an Hungerkatastrophen, die im 19. Jahrhundert in Indien, China, Brasilien und Äthopien bis zu 60 Millionen Menschen das Leben kosteten – und die allein deswegen so verheerend sein konnten, weil die imperialistische Politik zugunsten der reichen Länder gewirkt hatte. Mit der Folge, dass die Folgen der Naturkatastrophen nicht mehr wie bislang gemildert, mit lokalen Netzwerken und tradierten Praktiken aufgefangen werden konnten. Auch solche Zusammenhänge lassen sich ohne Weiteres auf heutige Verhältnisse und Prozesse übertragen.

Dass Davis in einem zugleich messerscharfen, bisweilen reportageartigen und überaus engagierten Stil schrieb, ist ihm bisweilen vorgeworfen worden. Am Kern dessen, was seine Arbeit ausmacht, geht dieser Vorwurf vorbei – im Gegenteil ist es genau diese undistanzierte Art, die Nähe und Verbundenheit mit dem, was er analysiert, die Davis bis heute aktuell macht. L.A. brauche Leute wie Mike Davis, „deren Imagination das ergänzt, was in der Wirklichkeit der Stadt nicht mehr oder noch nicht sichtbar ist“, schrieb Andreas Kilb 1999 im bereits erwähnten Text. (6) Es scheint, als brauche heute nicht nur L.A. Menschen wie Davis, weil es schon lange nicht mehr reicht, das Sichtbare zu analysieren. Heute wissen wir, dass es zu spät ist, auf die globale Bedrohungen dann zu reagieren, wenn sie sichtbar geworden ist. Bis heute werden die ignoriert, die beschreiben, was noch nicht vollständig gegenwärtig ist.


(1) Harald Staun, „Wir sind alle wie Trump“. Interview mit Bruno Latour, FAZ am Sonntag, 13 Mai 2018
(2) Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt 2010, S. 371 (Original 2005)
(3) Aus dem Begleitheft zur Ausstellung, Online unter: https://zkm.de/de/publikation/critical-zones-2,  S. 42, sowie S. 93 und 94
(4) Mike Davis: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, S. 262
(5) Andreas Kilb: Das Lied vom untergang. Die Zeit, 28. Oktober 1999.
(6) ebd.