Mit abklingender Pandemie freut man sich wieder auf Aufenthalte und Begegnungen im öffentlichen Raum. Raus aus dem Home-Office, raus aus Cyberspace und Metaverse. Und jetzt wieder buisiness as usual? Kaum, es steht eine Transformation öffentlicher, analoger Räume an, die überaus komplex im Sortieren vielfältiger Ansprüche und im Ausgleich unvereinbarer Interessen sein wird. Mit einem nachpandemischen Revival des herkömmlichen öffentlichen Raums ist es nicht getan.
Sprühgrund und Protestkulisse
Funktionen des öffentlichen Raums ändern sich. Widerstand und Protest greifen gerade mal wieder Raum, stören den kommoden Alltag, die prekäre Infrastruktur, das geordnete Dasein. Das ist insofern nichts grundlegend Neues, als dass vor Jahrzehnten bereits Studentenrevolten und Atomkraftgegner draußen protestierten – und immerhin Gesetzesänderungen bewirkt haben. Maydan, Tahrir-Platz kontextualisieren global die Bildkraft des Protests im öffentlichen Raum, der seit jeher Protestkulisse ist und diese Funktion auch im digitalen Zeitalter nicht verliert.
Es geht den heute Protestierenden um globale Probleme, die auch lokal angegangen werden müssen. Zwar gehen ihre Proteste derzeit im allgemeinen Aufrüstungsgetöse unter, aber Vertreter der »Letzten Generation«, der Umweltschützerinnen und sehr vieler Anderer sind sich der Aufmerksamkeit bewusst, die sie im öffentlichen Raum entwickeln können, wie sie sich dort das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit verschaffen können. Derartiges wurde befürchtet, als im Hinblick auf Energiepreiserhöhungen von einem »heißen Herbst« die Rede war: Es sind die Bilder solcher Aktionen, die sich im Gedächtnis einnisten. Im Kontext dessen sind Phänomene zu beobachten, die mit weniger klaren Anliegen auf der Protestwelle mitschwimmen. Um im öffentlichen Raum zu bleiben: Die Ansprüche an ihn und wie sie in einem Interessensausgleich verhandelt werden können, sind nach der Pandemie, die Gesellschaften ins Private und Virtuelle zwang, andere als zuvor.
Urban und Street Art
In einer dreiteiligen Sendung thematisierte 3sat unlängst »Urban Art« – leider unter dem sehr einengenden Titel »Wem gehört die Stadt?« – und erläuterte dazu, dass die »derzeit aufregendste Galerie der Welt (…) die Straße« sei.1) Das Rebellische der Graffiti beziehungsweise des Grafitti Writing, wie wir sie aus den 1970er Jahren kennen, ist allerdings verblasst, und so wundert es nicht, wenn zum Beispiel das Mural Fest 2021 von einer Immobiliengesellschaft gesponsert wird oder im biederen Osnabrück eine Urban Art-Schau in einem Gebäudebestand stattfindet, der anschließend einem Investorenprojekt weicht.2) Urban Art ist in Museen gelandet, private Galerien suchen ihren Anschluss an den Kunstmarkt.
Graffiti-Selbstdarstellungen mit der Anfangsaussage »ich bin hier« sind immer noch weit verbreitet, die Szene drängt sich noch in der Stadt, an Zügen, an Schallschutzwänden dermaßen auf, dass man nicht wegsehen kann. Die Sprühereien gleichen durchaus Beschallungsanlagen, denen man im öffentlichen Raum auch nicht entkommen kann. In Frankreich waren solche Beschallungsanlagen mal extrem verbreitet, das war akustischer Terror.
Eigentum und Macht
Als viel Bahn-Reisende sehe ich Sprühereien omnipräsent. Es ist zu einfach, Schmiererei oder Vandalismus generell als Ausdruck von Protest oder politischem Engagement zu deuten – was nicht legal ist, ist noch lange nicht politisch. Wenn die Autorin Friederike Häuser behauptet, dass „Graffiti durch die Illegalität eine Form von Widerstand« sei, mit dem »alles infrage gestellt« werden könne, greift das Argument deutlich zu kurz.3) Man fragt sich, wieso gerade Züge besprüht werden – aber keiner traut sich, die innerstädtischen Blechwände aus geparkten Privatautos zu besprühen. Die Präsenz von Graffiti im öffentlichen Raum spart inzwischen jene Orte aus, an denen sie noch Protestcharakter entwickeln könnte und hat den ursprünglich provokanten Charakter zum großen Teil schon eingebüßt.
So kann man durchaus nachvollziehen, dass beispielsweise die Deutsche Bahn im Besprühen ihrer Züge Sachbeschädigung sieht, die sie – die Bahn – etwa 12 Mio Euro im Jahr kostet.4) Die Frage, ob die Bahn oder wer auch immer nun entscheidet, was ästhetische Qualität hat und was nicht, spielt dabei keine Rolle. Dass es sich bei besprühten Zügen um eine »Auflehnung gegen Eigentumsaspekte« handele, impliziert eine Heroisierung der Sprayer, die – siehe oben – kaum gerechtfertigt ist. Wie Architekten reagieren, wenn ihre Kreationen »nachgestaltet«, weil besprüht werden, sei hier nicht weiter thematisiert. Festzuhalten bleibt, dass die Differenzierung von Urban Art, Graffiti und Vandalismus insofern wichtig ist, als dass der öffentliche Raum genau nicht Privateigentum, sondern eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit ist.
Panzer und Paraden
Bildhaftigkeit im öffentlichen Raum hängt an Codierungen. Gegenwärtige, oben bereits angesprochene Proteste nutzen den öffentlichen Raum durchaus bildhaft, sie suchen sich dabei ihre funktionalen Kulissen – Straßenkreuzungen, Einkaufszonen und mehr. Die derzeitige Krisenhäufung lässt erwarten, dass der funktionale Druck auf den öffentlichen Raum weiter wächst. Sehen wir jetzt schon alle möglichen Panzertypen in den Zeitungen und Nachrichten, gibt es vielleicht bald wieder Militärparaden, um das Ansehen der Bundeswehr zu stärken und bildhaft die »Wehrhaftigkeit und Robustheit der Republik“ (Marie-Agnes Strack-Zimmermann) zu präsentieren? Wenn die Bundeswehr denn genug Panzer für die Parade hätte …
Wer den öffentlichen Raum wie nutzen soll und darf, muss verhandelt werden. Damit sei kurz mal an eine Zeit nach dem Auto, dem massenhaft im öffentlichen Raum deponierten Blech gedacht. Ansprüche auf Teile des öffentlichen Raums müssen für Kinder angemeldet werden, die derzeit noch auf Kinderspielplätzen eingehegt sind. Ansprüche auf öffentlichen, zentralen Raum haben auch nicht kommerzielle, wohltätige Einrichtungen. Oder die Wissenschaften, die das Vertrauen der Bürger kontinuierlich durch Vermittlung aufrecht erhalten müssen. Es sind die Wissenschaften, die ihre Erkenntnisse mal anschaulich, mal verbal vermitteln und zur Diskussion stellen müssen, um Menschen zur erreichen, die im Internet keineswegs nach ihnen oder ihrem Forschungsthema suchen. Wie flexibel grundsätzlich auch Leerstände genutzt werden könnten, zeigte ausgerechnet die Pandemie: Wo überall Impf- und Testzentren eingerichtet worden sind, lässt im Nachhinein staunen – kommerzielle Begehrlichkeiten standen oft hintan. Es geht doch. Nicht-kommerziell genutzte Häuser wirken in den öffentlichen Raum hinein und verändern ihn.
mein, dein, unser Raum
Unterstützen können dabei auf jeden Fall anspruchsvolle Eingriffe in die Bildhaftigkeit des öffentlichen Raums im Sinne der Urban Art. Bemerkenswert ist beispielsweise, wie die Künstler ”Innerfields“ (Holger Weißflog & Jakob Bardou) in der Tradition Banksy argumentieren: Sie gestalten ihre Motive so, ”dass alle Menschen, die jetzt keinen kunsthistorischen Hintergrund haben, die [Motive, Anm. d. A.] auch erkennen können.«5) Es sind im wesentlichen die genannten, potenziellen Nutzer selbst, die ihre Ansprüche anmelden und ihre Wirkung im öffentlichen Raum selbst entfalten müssen.
Der jetzt verstorbene Kunsthistoriker Hans Belting (1935-2023), exzellenter, kritischer Bild-Analysierer in Theorie und Gegenständlichkeit, hatte zunächst sein Fach infrage gestellt und sich später an einer seiner vielen Wirkungsstätten, der HfG Karlsruhe, mehr und mehr zeitgenössischen medien- und bildwissenschaftlichen Fragen gewidmet. Wie bei ihm Erkenntnis aus historischem Wissen und zwingender Gegenwärtigkeit erwächst, zeichnet ihn als Wissenschafts-Avantgardist aus – er war alles andere als ein netzwerkender Karrierist. Beltings Auseinandersetzung mit dem Bild gipfelt unter anderem in seiner Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (2001), in der die wachsende, weltweite Bedeutung der Bildwirkung jenseits eurozentrischen Denkens antizipiert ist.6) Auch die Bildhaftigkeit des öffentlichen Raums war für ihn ein selbstverständliches Thema, das für unsere Gegenwart wichtige Impulse liefert: Wer warum wie den öffentlichen Raum nutzen will und soll, sich in ihm aufhalten, in ihm demonstrieren möchte, ist Teil der auszuhandelnden Gesellschaftsinszenierung und -selbstvergewisserung. Cyberspace und Metaverse können da bis auf weiteres nicht mithalten.
2) FamOS Festival, https://famos-festival.de/
3) Friederike Häuser (Hrsg.): Graffiti. Interdisziplinäre und kontemporäre Perspektiven. Weinheim 2021
4) lt. Achim Staub, Konzernsprecher der Deutschen Bahn
5) s. Anm. 1), 2:20 ff.
6) Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. 2001. Und: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 2008