Wir müssen reden. Über Politik. Schon 2017 sprach Olaf Scholz – damals Erster Bürgermeister Hamburgs – von einer »Zeitenwende« und wies mit ihr auf eine rosige Zukunft. So funktionieren Politik und auch Wissenschaft leider allzuoft: Mit werbetauglichen Begriffen und Narrativen inszenieren und historisieren sich Personen, die selbst- und machtbewusst sind. Denn was Kanzler Scholz jetzt als »Zeitenwende« bezeichnet, soll eine 100 und mehr Milliarden Euro teure Aufrüstung der Bundesrepublik und einen politischen Kurswechsel rechtfertigen. Aber zum einen lässt sich kaum von einer Zeitenwende sprechen, zum andern fehlen die 100 Milliarden an anderen, für eine friedliche Zukunft wichtigeren Stellen.
Die Fraktion wusste von nichts, das Parlament erst recht nicht und schon gar nicht die europäischen Nachbarn: Olaf Scholz sprach am 27. Februar 2022 im Bundestag angesichts der Entwicklung in der Ukraine von einer »Zeitenwende« und kündigte an, der Bundeswehr 100 Mrd. Euro mit einem »Sondervermögen« zur Verfügung zu stellen.1) »An diesem Tag wird die Zukunft Deutschlands von einem Küchenkabinett beraten und vom Kanzler allein entschieden.«2) Davon wusste offenbar nur Christian Lindner, der alle für doof verkauft, wenn er verkündet, das Sondervermögen belaste den Haushalt nicht.3) Dass mit einer proklamierten Zeitenwende und immens viel Geld für Rüstung eine politische Kursänderung mit Grundgesetzänderung eingeleitet wird, ohne dass eine parlamentarische, gesellschaftliche, breite und im europäischen Kontext geführte Debatte dafür vorgesehen ist, halte (nicht nur) ich für einen politischen Skandal.
Lobbys folgen, Wähler pampern – versäumte »Wenden«
An keiner Stelle lässt sich der menschenverachtende Vernichtungskrieg in der Ukraine leugnen, an eine Fürsprache für Putin lässt sich nie und nimmer denken. Aber es gibt Alternativen zur Aufrüstung und zum politischen Kurswechsel, der – und das ist das Beschämende hierzulande – nur mit Waffenanschaffung und dort vorgenommen wird, wo er die Komfortzonen der deutschen Wähler nicht betrifft.
Dagegen dürfte jedoch nichts unversucht bleiben, Kriege mit vernünftigen Instrumenten, Verfahren, Strategien statt mit Waffen so schnell es eben geht ein Ende zu bereiten. Zum Beispiel mit einem Verzicht auf russische Energielieferungen und jetzt radikal anzugehenden »Wenden«, die seit Jahrzehnten versprochen werden, aber an Lobbyisten und am Blick auf den Wählerwohlstand gescheitert und politische Lachnummern geworden sind: Energie- und Verkehrswenden, die eklatant wichtig für unsere Infrastruktur, Städte, Architektur und Landschaften sind. Und jetzt hilfreich im Widerstand gegen Putins Aggressionen wären.
So finanzieren wir Russlands Krieg, aber keinem Autofahrer darf der Verzicht auf seine Vergnügungsfahrten oder die Benutzung von ÖPNV oder die Fahrt mit dem Fahrrad zugemutet werden. Lindner schlägt allen Ernstes Tankrabatte vor, die auch jedem Porsche- und SUV-Fahrer zugute kämen. Keiner Wählerin darf man offenbar androhen, dass sie ihre Wohnung ein bis zwei Grad kühler halten solle. Kein Unternehmen darf offenbar leiden, obwohl mit Kurzarbeit und eben Teilen der 100 Milliarden gegengesteuert werden könnte. Stattdessen geht ausgerechnet Robert Habeck bei den Saudis betteln.
Die Panik, mit der sich Bundespolitiker derzeit bewegen, rührt auch daher, dass der Krieg »in Europa« geführt wird. Grausame Zerstörungskriege gibt es aber weltweit kontinuierlich – Krim, Tschetschenien, Jemen, Afghanistan, Syrien und so weiter liegen aber nicht vor der Haustür. Ich kann nicht nachvollziehen, dass ein Krieg eine »Zeitenwende« bewirken soll, bloß weil er näher als andere Kriege geführt wird. Aufgeschreckt ist auch die Nato, obwohl alle, die sich mit Sicherheitspolitik befassen, Putins aggressive Kriegsführung und seine Großmachtgelüste kennen.4) Und wissen, dass man ihn mit Waffen nicht gewinnen kann.5)
Diplomatie, Hilfe, Verzicht
Rückblickend war die deutsche Abrüstungspolitik der Bundesrepublik das Erfolgreichste, was ihr international je gelungen ist. Mit einer »friedlichen Revolution« – egal, wie sie im Detail zu bewerten ist – kam 1989 etwas zustande, was es so noch nicht gab. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, die friedensorientierte, auf Diplomatie und humanitäre Hilfsbereitschaft zählende Politik im Handstreich aufzugeben. »Nicht Putins Invasion, sondern die Reaktion darauf bringt eine Zeitenwende, einen Paradigmenwechsel in die falsche Richtung – sofern es der neuen, diversen Friedensbewegung nicht gelingt, andere Prioritäten zu setzen, gegen das eisenhaltige Große Sprechen.«6) Solche Initiativen gibt es.7) Der Soziologe Andreas Reckwitz argumentierte allerdings in einer Vermischung von Geschichtsphilosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie, dass sich unterschiedliche Friedensstrategien mit dem Ukraine-Krieg als »Illusion« erwiesen haben – und folgt damit einer kruden Kriegslogik.8) Friedensstrategien folgen aber keineswegs einem abstrakten historischen Fortschrittsgedanken. Ihr Erfolg zeigt vielmehr, dass sie keine »Illusion« sind. Doch die alten und neuen Säbelrassler schieben jetzt diejenigen, die in der Diplomatie und Friedenspolitik Großes geleistet haben, in die Ecke der Realitätsfernen, der Naiven, der Spinner.
100.000.000.000,00 Euro
In diesem Sinne ließen sich die 100.000.000.000,00 Euro anders ausgeben. Wenn es um die Verteidigung Europas und seiner Demokratien geht, stehen viele Aufgaben an, die nicht alle Nationen gleichermaßen schnell oder effizient oder strukturell gut erledigen können. Gerade Aufrüstung geht alles andere als schnell, und wer glaubt, ausgerechnet die Bundeswehr schnell auf Vordermann bringen zu können, macht sich lächerlich. Eine Bundeswehr-Struktur-Kommission (Weise-Kommission, benannt nach Frank-Jürgen Weise) meinte bereits 2010, die Anzahl der Dienststellen müsse mehr als halbiert werden.9) Von den 100 Mrd. könnte das meiste Geld in dunklen Kanälen, auch auf bürokratischen Wegen und wer-weiß-wo versickern.
800 bis 2.500 Euro zusätzlich pro Jahr und Haushalt sind zu erwarten, wenn auf russische Energielieferungen verzichtet würde.10) Solche Belastungen sind für manche Haushalte ein Witz, für andere eine existenzielle Bedrohung. Alle pauschalen Entlastungen in den Energiebereichen sind also nutzlos. Sofort gehören Subventionen auf den Prüfstand, müssen Vorschriften wegfallen, die privatwirtschaftlich unkontrollierte Gewinne im Energiesektor sichern. Dem ist das Bundeskartellamt ohnehin auf der Spur. Und konkret: Wir wollten beispielsweise mehr Solarzellen auf unserem Dach montieren lassen – das gehe nicht, meinte ein Anlagenwarter, weil die vorhandenen noch nicht abgeschrieben sind und nicht einfach erweitert werden könnten. Anlagen werden ständig kleiner erlaubt als möglich.
Die Liste dessen, was einer Energiewende seit Jahrzehnten entgegengesetzt wird, ist unüberschaubar lang. Wenn es jetzt nicht geboten ist, dem ein Ende zu setzen, wann dann? Auch von der Industrie kann erwartet werden, dass sie massiv in neue Energiekonzepte investiert und Konsequenzen für ihre weltweiten Billigstproduktionsketten zieht.
Das Gleiche gilt für den Verkehrssektor. Autofreie Sonntage, Tempolimits, Straßen entlasten, bezahlbare ÖPNV- und Zug-Tickets – dergleichen bedingt, dass in effiziente Verkehrsstrukturen investiert wird. Das könnte schnell gehen, und viele der 100 Bundeswehrmilliarden währen dabei besser investiert.
Zeitenwende
Wenn die reale Bedrohung durch Putin größer wird, lässt sich eine rasante Energiewende gar nicht vermeiden. Darin liegt – es scheint zynisch – immerhin eine Chance, die jahrzehntelang vernachlässigte Transformation einer in jeder Hinsicht verschwenderischen Konsumgesellschaft zu beginnen. Mit Tempo, und im Vertrauen auf die Vernunft ihrer Mitglieder. Reden wir also über Politik – und beobachten wir, wer in den Abgeordnetenhäusern ein- und ausgeht. Wer die Politik berät. Wer zum Beispiel auch Klara Geywitz erklärt, wer, wozu und wo flugs 400.000 Wohnungen bauen soll. Die Zeitenwenden müssen anders motiviert und verortet werden als in der militärischen Aufrüstung, wenn ein globales, friedliches Miteinander unterschiedlicher Gesellschaften, Glaubensrichtungen und Politsysteme erreicht werden soll. Bittere, grausame Rückschläge bleiben dabei nicht aus.
1) https://www.youtube.com/watch?v=1T8VtNxBWWA
2021 betrug der Bundeshalt inklusive Nachtragshaushalt etwa 550 Mrd. Euro.
2) Peter Dausend, Robert Pausch, Mark Schieritz, Holger Stark: What a day. Eine Rekonstruktion. In: DIE ZEIT, 10. März 2022, Seite 6-7
3) »Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen wollen es so nicht gewusst haben. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich auch nicht. Der Kanzler setzt auf die Überwältigung des Moments, und darauf, dass sich der Rest findet. Es ist ein Rendezvous mit der Geschichte.« Daniel Brössler: Stille Macht. In: Süddeutsche Zeitung, 18. März 2022, Seite 3
4) »Putin sagt sehr wohl, was er denkt. Er sagt es seit Jahren, nur wollte man im Westen nicht so genau hinhören.« Catherine Merridale im Gespräch mit Christian Mayer, Süddeutsche Zeitung, 5./6. März 2022, Seite 54
5) »Der Krieg wird so lange andauern, bis entweder Putin tot ist oder bis die Ukraine in eine unfassbare Katastrophe stürzt: Wenn also alle Menschen hier getötet worden sind und es keine Menschen und keine Armee mehr im Land gibt.« Andrej Kurkow im Gespräch. In: Süddeutsche Zeitung, 26./27. März 2022
6) Charlotte Wiedemann: Das Große Sprechen. Der neue Sound der Wehrhaftigkeit. In: taz, 2. März 2022
7) Es gibt zahlreiche Initiativen, die sich gegen die abrupte Aufrüstung richten, unter anderem https://derappell.de/
8) Andreas Reckwitz: Der Optimismus verbrennt. In: DIE ZEIT, 17. März 2022, Seite 47
9) Sebastian Balzter, Ralph Bollmann: Das 100-Milliarden-Manöver. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6. März 2022, Seite 17
10) Studie des Mercator Resaerch Institute on Global Commons and Climate Change, zit. nach Süddeutsche Zeitung, 24. März 2022, Seite 15