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Charlotte Perriands politisches Engagement

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Charlotte Perriand: Gouache und Fotomontage der Innenausstattung einer Wohnung, ausgestellt 1929 im Salon d’Automne. Veröffentlicht in L’Architecture vivante, 1930 (Bild: Collection Kunstmuseen Krefeld © FLC, VG Bild-Kunst, Bonn, 2025, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)

Die französische Architektin, Innenarchitektin und Designerin Charlotte Perriand (1903-1999) ist lange Zeit ausschließlich als Assistentin von Le Corbusier gesehen worden. Die Ausstellung „L’Art d’habiter / Die Kunst des Wohnens“ in den Krefelder Kunstmuseen korrigiert diese Wahrnehmung.

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Charlotte Perriand auf der Chaise longue basculante von Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Charlotte Perriand, 1928. (Archives Charlotte Perriand © FLC, VG Bild-Kunst, Bonn, 2025, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)

Zehn Jahre lang, von 1927 bis 1937, hatte sie im Atelier von Le Corbusier gearbeitet, in einem intensiven Trio mit ihm und seinem Vetter Pierre Jeanneret. Zur eingeschränkten Rezeption des umfangreichen Werkes von Charlotte Perriand zählt auch eine neue, daran anknüpfende Erzählweise: dass sie nämlich als die eigentliche Schöpferin einiger der berühmten Möbelklassiker aus Stahlrohr ausgeschaltet wurde. Vor allem betrifft dies den Sessel „Chaise longue basculante“, im Handel als „Chaise longue LC 4“ (LC sind die Initialen von Le Corbusier) des Möbelsystems Équipement de l’habitation von 1928. Er wurde neben anderen Stahlrohrmöbeln 1929 auf dem Salon d’Automne im Pariser Grand Palais ausgestellt. Tatsächlich war sie ursprünglich im Patentantrag als erste in dem Dreiergespann genannt: “Charlotte Perriand, Le Corbusier, Pierre Jeanneret“. Le Corbusier war dann aber schnell darin, auf alles nur seinen Namen zu schreiben. Dieses Thema der Ab- und Zuschreibung bei den Möbelklassikern wird neuerdings häufig behandelt, wenn es um Designerinnen in der männerdominierten Moderne geht.


Das erste Mal in Deutschland

Nachdem Charlotte Perriands Werk in Frankreich bereits einige Würdigungen erhalten hat – die größte wurde 2019/20 in der Fondation Louis Vuitton in Paris gezeigt –, wird sie nun zum ersten Mal in Deutschland vorgestellt. Seit Anfang November ist in den Krefeld Kunstmuseen ein umfassender monografischer Überblick unter dem Titel  „L’Art d’habiter / Die Kunst des Wohnens“ zu sehen – und das nicht nur im Haupthaus, dem Kaiser Wilhelm Museum, sondern auch in den Mies van der Rohe-Villen Haus Esters und Haus Lange, insgesamt auf 1200 Quadratmetern.

Es wundert nicht, dass die Möbelklassiker am Anfang der Schau im Vordergrund stehen. Die 63 Quadratmeter große Fläche der Ausstellung im Grand Palais von 1929, in der die Serie vorgestellt wurde, ist in Originalgröße nachgebaut und von der italienischen Möbelfirma Cassina, die die Lizenz zum Nachbau der Klassiker seit den 1960er Jahren erwarb, zur Verfügung gestellt. Aber dabei bleibt es dann doch nicht, und das ist äußerst verdienstvoll.

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Charlotte Perriand, Andre Tournon: Refuge Bivouak (Schutzhütte, Mont Joly, Saint Nicolas-de-Veroce, 1938/39). (Foto: Charlotte Perriand, Archives Charlotte Perriand © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)

Die Retrospektive zeigt ein facettenreiches Bild der Designerin, die sich bereits als junge Frau – mit 24 Jahren kam sie in das Atelier von Le Corbusier – einen Namen gemacht hatte und in vielen eigenen Projekten mit bedeutenden Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitete. Dazu zählen die experimentellen Minimalbehausungen wie die unter anderem vom CIAM projektierten Wohnungen für das Existenzminimum – Perriand war Sekretärin der französischen CIAM und gehörte 1937 zur Vorbereitungsgruppe des CIAM-Kongresses in Paris. Hinzu kamen die „cellules“, die Fluchtorte für Skifahrer oder tiny houses für die Freizeit. Dazu zählen auch die stapelbaren Möbel und modularen Aufbewahrungssysteme, die Stauräume, die Platz in beengten Wohnungen schufen. Immer wieder arbeitet sie zusammen mit Jean Prouvé, der die Metallarbeiten schuf, mit ihrem Freund Fernand Léger, mit Pierre Jeanneret, bei den Farbkonzepten auch mit Sonia Delaunay und in Japan mit Isamu Noguchi und Sori Yanagi.

Die Ausstellung gibt einem für sie charakteristischen Konzept breiten Raum: den „formes libres“, die sich undogmatisch nach dem Gebrauch richten, und den an der „art brut“ orientierten vorgefundenen Objekten, insbesondere aus der Natur. Sie waren ihr Inspiration für ihre Gestaltung. Dann sind da noch die für sie entscheidenden Anregungen aus ihren jahrelangen Aufenthalten in Japan, Indochina und Brasilien. Und nicht zuletzt die Rolle, die sie der bildenden Kunst zusprach, von denen so viele Vertreter der Moderne in ihrem Umfeld waren. Fernand Léger, Pablo Picasso, Alexander Calder, Joan Miro, Le Corbusier mit ihren Grafiken, Keramiken und Wandteppichen sind wie selbstverständlich integriert.

Links: Ausstellungsansicht im Kaiser Wilhelm Museum mit Art Brut-Fotoreihe im Hintergrund. (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025, Foto: Dirk Rose)
Mitte: Charlotte Perriand Studio in Montparnasse, 1938. (Bild: Archives Charlotte Perriand, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)
Rechts: Charlotte Perriands Art Brut: Foto eines Steins im Steinbruch von Bourron bei Fontainebleau, 1935 (Bild: Archives Charlotte Perriand Photo: Charlotte Perriand
© VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)

Perriands politisches Engagement

Ganz besonders verdienstvoll ist in dieser Ausstellung darüber hinaus, die Zeit ihres sozialen Engagements während der Zeit der französischen Front populaire, der Volksfront unter Léon Blum, gebührend zu behandeln. Verdienstvoll auch deshalb, weil diese Zeit durchweg keine Beachtung findet, auch nicht in den Presseberichten über die Krefelder Schau.

1931 begann Perriand, sich politisch zu engagieren, und trat der KP-nahen Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR) bei. Sie wandte sich zunehmend kommunistischen und marxistischen Ideen zu, die ihren Wunsch nach einer menschenbezogenen Gestaltung verstärkten. Sie besuchte die „Université Ouvrière“, eine unabhängige marxistische Institution für Arbeiter:innen und Intellektuelle. Die Internationale Vereinigung revolutionärer Schriftsteller und Künstler, zu der André Gide, André Malraux, Claude Cahun und in den Anfängen Max Ernst gehörten, richtete sich vor allem gegen Kriegstreiberei und den Faschismus. Als Reaktion auf den Hitler-Stalin-Pakt verließ Perriand 1939 allerdings die Vereinigung, ohne jedoch ihre sozialistischen Überzeugungen aufzugeben.

Anfangs war ihr Interesse für das nachrevolutionäre Russland groß und sie reiste 1931 und noch einmal 1934 in die Sowjetunion, nicht unbedingt zum Gefallen von Le Corbusier, der sich eher opportunistisch den politischen Gegebenheiten anpaßte. Wie sie in ihrer Autobiographie berichtet, trennte sie sich von ihm, als er zwei Vertreter der äußersten Rechten ins Komitee der CIAM aufnahm, um seine Stellung zu stärken. Von seinen gestalterische Fähigkeiten blieb sie bis zuletzt überzeugt, die menschlichen Seiten konnte sie nicht akzeptieren. Es störte sie sein autoritärer Habitus im Umgang mit Menschen, das Selbstdarstellerische und Selbstbezogene – sein Atelier in der Pariser Rue de Sèvres sei ihr vorgekommen wie ein Kloster, in dem man die Regeln zu befolgen habe.

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, der spanische Bürgerkrieg, dessen Ende der Beginn der Diktatur unter General Franco war, der allgemein in Europa aufkommende Faschismus, dann der Einmarsch der Deutschen in Polen 1939 und die Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht 1940 bedeuteten für viele engagierte Künstlerinnen und Künstler einen tiefen Einschnitt. Perriand begriff sich ab dieser Zeit als politische Aktivistin im Dienst des Volkes, und ihre Entwürfe gehen weit über Möbel für die Massenindustrie oder preiswerte Wohnungen hinaus.

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Installationsansicht im Kaiser Wilhelm Museum, 
mit der Fotomontage von „La Grande Misère de Paris“ (Bild 
© VG Bild-Kunst, Bonn, 2025 
Foto: Dirk Rose)

„La Grande Misère de Paris“

Ermutigt durch die linke Volksfront unter Léon Blum von 1934 bis 38 nahm sie mehrmals dezidiert Stellung. Für den Pariser Salon des Arts Ménagers im Grand Palais entwarf sie 1936, zusammen mit jungen Architekten der Union des Artistes Modernes (UAM), einer Gruppe avantgardistischer Architekten und Künstler, eine monumentale Fotomontage. Die Bildcollage mit dem Titel „La Grande Misère de Paris“ prangert die sozialen Missstände, die Armut und die mangelnden hygienischen Bedingungen in den Wohnungen der Hauptstadt an, die Luftverschmutzung durch die Fabriken, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Wohnungsspekulationen von Investoren. Sie plädiert für Grünzonen um Fabriken herum und die Ausrichtung ihrer Lage entsprechend den Himmelsrichtungen, die die Luftverschmutzung verhindern. Perriand kombinierte Pressefotografien, Statistiken, Kartenmaterial, Dokumentaraufnahmen und typografische Elemente im Stil sowjetischer Agitprop-Montagen. In der Krefelder Ausstellung wird die monumentale Arbeit in epischer Breite gezeigt.

1936 gestaltete sie, die auf dem Land bei ihren Großeltern aufwuchs und zeitlebens der Natur zugewandt war, mit Fernand Léger die grafische Präsentation des Agrarprogramms der Volksfront-Regierung im Büro des Landwirtschaftsministers Georges Monnier mit ähnlichen Fotomontagen. Sie machte Vorschläge, wie sich preiswerte Wohneinrichtungen herstellen lassen. Immer wieder arbeitete Perriand mit wiederverwendeten und lokal verfügbaren Materialien, entwickelte Standard-Bausteine, die käuflich zu erwerben waren und im Do-it-yourself-Verfahren für kleinere Bauten verwertbar waren.

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Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Charlotte Perriand: „La maison du jeune homme“ auf der Weltausstellung in Brüssel 1935. (Photo: Vandenberghe, Archives Charlotte Perriand, © FLC, VG Bild-Kunst, 2025, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025)

Aber sie äußerte sich auch dort kritisch, wo ähnliche Ideen im sozialen Wohnungsbau verfolgt wurden. In der Stadt Frankfurt am Main, die sie besuchte und die auf dem Kongress des CIAM unter dem Titel „Die Wohnung für das Existenzminimum“ 1929 menschenwürdige Wohnstandards für Menschen mit niedrigem Einkommen diskutierte,  war sie entsetzt über die Kälte der realisierten Projekte des Neuen Frankfurt. Angesichts des Altenheims von Ferdinand Kramer schrieb sie als 94-Jährige rückblickend in ihrer Autobiografie: „J’en ai encore froid dans le dos […] deux ailes, l’une pour les hommes, l’autre pour les femmes, la ségrégation des âges, des sexes; des mouroirs adeptes – rien à reprocher, efficaces, ultra-propres, déshumanisés, sordidement fonctionnels.“ Bereits 1930 betrachtete sie ihre Arbeit als „Contrepoint“ zum deutschen Funktionalismus, zum Bauhaus, als sie die Werkbund-Ausstellung mit den Bauhausvertretern in Paris besuchte und dabei Walter Gropius begegnete.

Jenseits übergeordneter programmatischer Konzepte unternahm sie bei jedem ihrer Projekte wochenlange Untersuchungen mit den Menschen vor Ort, um zu verstehen, wie sie deren Bedürfnisse durch ihre Entwürfe erreichen kann. Wohlbefinden, Erholung, Freizeit waren ihr besonders wichtig. Unter Léon Blum wurden zahlreiche soziale Reformen durchgesetzt, so etwa die 40-Stundenwoche und der bezahlte Urlaub.

Nach dem Krieg bat sie Le Corbusier, für die Unité d’Habitation in Marseille einen Küchenprototyp zu entwerfen und das Gebäude einzurichten. Sie führte die offene Küchenbar ein, die es Frauen ermöglichte, am Familienleben teilzunehmen, statt „wie Sklavinnen am Ende eines Flurs“ (Perriand) isoliert zu sein.

Synthese der Künste

In den kleinsten Objekten lässt sich die Rolle erkennen, die sie der Kunst bei der Gestaltung der privaten wie öffentlichen Umwelt zusprach, so an einem Beistelltisch im Büro des jüdischen Schriftstellers und Journalisten Jean-Richard Bloch. Gemeinsam mit Louis Aragon gab er die kommunistische Zeitschrift „Ce Soir“ heraus, die sich besonders mit dem spanischen Bürgerkrieg auseinandersetzte. Sie gewann Pablo Picasso, neben Fernand Léger, für zwei Radierungen auf einem Beistelltisch, die Manifestcharakter hatten: „Die Träume und Lügen Francos“ zeigen den spanischen Diktator als groteskes Monster. Picassos Zeichnung greifen die alptraumhaften Figuren seines größten Werks „Guernica“ auf, das im selben Jahr entstand.

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Charlotte Perriand, Gaston Regairas, Residence La Cascade (Are 1600) (Foto: Pernette Perriand Barsac, Archives Charlotte Perriand)

Angesichts ihres durchgängigen Engagements für eine moderne, fortschrittliche und humanistische Kultur nimmt sich die Rezeptionsgeschichte von Charlotte Perriands Werk seltsam aus. Dass ihre Möbel heute wie luxuriöse Möbelklassiker gehandelt werden und die Originale auf internationalen Auktionen horrende Preise erzielen, erscheint vor dem Hintergrund ihres Lebenswerks wie eine Perversion. Sie hatte grundsätzlich eine antibourgeoise Haltung, bis zuletzt. Während sie im hohen Alter zwischen 1967 und 1989 das riesige Ski-Resort „Les Arcs“ in den französischen Alpen entwirft, baut sie sich selbst eine Steinhütte in den Bergen, das Chalet „Méribel“. Hier wird ihre Liebe zum einfachen Leben auf dem Land und in der Natur besonders deutlich. Sie wollte keine edlen Möbel für Reiche entwerfen, sondern schlichte, kluge und erschwingliche Lösungen für alle. Ein Film am Schluss der Ausstellung in Haus Lange lässt die sympathische 72-Jährige ihre Ziele und die „Kunst des Wohnens“ in Méribel zusammen mit Freunden selbst erklären.

 


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Ausstellungsansicht Haus Lange mit Buchregal Nuage (Rekonstruktion Cassina) und Tabouret Berger Hocker (Cassina iMaestri Collection). Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025, Foto: Dirk Rose

Charlotte Perriand
L’Art d’habiter / Die Kunst des Wohnens
2. November 2025–15. März 2026
Kaiser Wilhelm Museum, Haus Esters, Haus Lange, Krefeld
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Im INTeF (Institut für Neue Technische Form) Darmstadt ist die Ausstellung „Charlotte Perriand. Unkonventionell und einflussreich“ vom 25. November 2025 bis 8. März 2026 zu sehen.
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