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Aluminium Rohlinge mit Anguss des Modell „FSB 1035“. (Bild © FSB)
Warum sollte man sich mit Türgriffen beschäftigen? Auf diese Fragen haben Barbara Glasner vom Verlag form und Wolfgang Reul vom Hersteller FSB mehr als eine Antwort. Zusammen haben sie drei Publikationen zu dem Thema auf den Weg gebracht. Im Interview mit Martina Metzner sprechen sie über Griffe an Nachkriegskirchen, Türklinken in Social Media, teilen ihre Faszination und ihr Wissen über Griffe als „Architecture en miniature“. Und sie verraten, wo man beim Öffnen nach Brillanten greift.

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Barbara Glasner vom Verlag form und Wolfgang Reul von FSB haben drei Publikationen über Türgriffe auf den Weg gebracht. (Bild: © Anton Rahlwes, FSB)

Wer Barbara Glasner vom Verlag form in Frankfurt am Main kennt, weiß um ihre Leidenschaft für Türklinken. Allein ihre Instagram-Stories zeigen eine fortlaufende Recherche zum Thema. Zusammen mit Wolfgang Reul vom Hersteller FSB aus Brakel, der sich seit 36 Jahren als „Türklinkenphilosoph“ für die Kultur des Greifens einsetzt, hat die studierte Innenarchitektin vier Publikationen verantwortet – darunter „Griff zum Himmel“ über Griffe in der Sakralarchitektur (Herausgeber: FSB) sowie das in Eigenregie herausgegebene Buch „Most Touched“ (Herausgeber: Verlag form), eine einzigartige Sammlung von Türklinken unterschiedlicher Typen aus der ganzen Welt.

Manche würden sagen, das ist doch nur eine Türklinke. Was sagen Sie?

Barbara Glasner: Ich frage mich immer: Was bedeutet eine Türklinke? Warum brauchen wir sie? Sie ist einer der wenigen Artefakte auf der Welt, die jeden Tag milliardenfach berührt werden. Statistisch gesehen fassen wir eine Türklinke mindestens dreimal am Tag an – weltweit, ohne jegliche Zuordnung zu kulturellen Unterschieden. Das fasziniert mich.

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„Türklinken-Workshop“ bei FSB in Brakel 1986 (von links nach rechts): Angela Knoop, Shoji Hayashi, Dieter Rams, Alessandro Mendini, Hans-Ulrich Bitsch, Mario Botta, Jürgen W. Braun, Hans Hollein, Peter Eisenman, Petr Tučný. (Bild © Tim Rautert)

Wolfgang Reul: Die Türklinke ist aus Sicht von FSB der wichtigste Teil der Architektur. Weil sie eines der wenigen Elemente in der Architektur ist, die wir Menschen noch berühren. Eine Türklinke, die gut in der Hand liegt, wird von uns ganz anders wahrgenommen. Sie öffnet uns bestenfalls den Weg in eine ganz neue Welt, zum Beispiel in einen sakralen Raum.

Das Greifen mit der Hand steht im Zusammenhang mit dem Begreifen des Gehirns – die Verbindung von Hand und Denken wurde ja schon in der Antike behandelt. Wie wichtig sind solche theoretischen und philosophischen Überlegungen, wenn man sich ganz konkret mit dem Produkt Türgriff beschäftigt?

Wolfgang Reul: Das Philosophische über die Türklinke wurde ausgehend von Wittgensteins Griff im Rahmen der Zusammenarbeit mit Otl Aicher sehr intensiv betrachtet und von FSB in 16 Büchern zum Thema „Greifen und Griffe“ festgehalten und publiziert.

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Im Buch „Griff zum Himmel“ wird ein Blick auf Griffe der Sakralarchitektur geworfen. (Bild © FSB)

Barbara Glasner: Für das Buch „Griff zum Himmel“ haben wir philosophische Ansätze aufgegriffen, weil es sich bei Griffen an Kirchenportalen um größere Fragen handelt – etwa den Übergang von der profanen in die geistliche Welt. Ludwig Wittgenstein als Maschinenbauingenieur und Philosoph ist da auch eine wichtige Referenz.

Wolfgang Reul, wie kam es zur Zusammenarbeit mit Otl Aicher?

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Otl Aicher arbeitete viele Jahre für FSB und stellte die „Vier Gebote des Greifens“ auf – hier mit dem damaligen Geschäftsführer Jürgen Werner Braun. (Bild © Tim Rautert)

Wolfgang Reul: Jürgen Werner Braun, der in den 1970er Jahren als Geschäftsführer zu FSB kam, wollte das Unternehmen weiterentwickeln und stieß dabei auf Otl Aicher, der bereits das Erscheinungsbild für die Olympischen Spiele 1972 in München gestaltet hatte. Braun fuhr also zu Otl Aicher und fragte ihn, ob er die grafische Gestaltung für einen neuen Katalog übernehmen könne. Aicher antwortete sinngemäß: „Ist ja schön, aber ich bin kein Firmenanstreicher. Denken Sie mal darüber nach, ob da mehr dahintersteckt.“ Und schickte ihn nach Hause. Kurz danach entdeckte Braun zufällig ein Buch über Handlesekunst – und dachte sich: „Das ist es! Wir machen Produkte für die menschliche Hand.“ Dann kaufte er Bücher über Waffen, Haushaltsgeräte, Zahnarztbesteck und Bügeleisen – eben alles, was mit Greifen und Ergonomie zu tun hat. Und hat das als Vortrag für Otl Aicher zusammengestellt. Aicher sagte daraufhin: „Da haben wir doch das Mauseloch, da gehen wir jetzt durch und schreiben ein Buch.“ Daraus wurden 16 Publikationen, die sich mit dem Thema Greifen und Griffe beschäftigen.

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Heilig-Geist-Kirche von Alvar Aalto in Wolfsburg (Bild © hiepler, brunier)

FSB und der Verlag form haben drei Publikationen auf den Weg gebracht – darunter das Buch „Griff zum Himmel“. Es widmet sich Griffen in der Sakralarchitektur, zum Teil eigens fotografiert von hiepler, brunier. Gibt es besonders prägnante Beispiele?

Barbara Glasner: Besonders beeindruckt hat mich die Matthäus-Kirche in Pforzheim von Egon Eiermann, die er, inspiriert von Auguste Perret, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut hat. Die wabenartigen Wandelemente sind aus dem Trümmersplit des zerstörten Pforzheims geformt. Eiermann hat die Form dieser Bauelemente dann in Gedächtniskirche in Berlin nochmals verwendet. In die Foyertüren beider Kirchen hat er kreisrunde, große Griffe aus Glas und Metall eingebaut. Je nachdem, wie die Lichtsituation außen oder innen ist, sieht man das Licht von der anderen Seite durchschimmern.

Wolfgang Reul: Beeindruckend ist der Türgriff an der Kirche von Gottfried Böhm in Neviges, der die Architektur aufnimmt. Leider gibt es dazu keine Belege, aber man kann annehmen, dass Gottfried Böhm diese abstrahierte Taube als Griff zumindest mitgedacht hat. Auch in der Marienkirche in Lübeck befindet sich eine beeindruckende Eingangssituation – ein Griff aus Bronze, auf dem Menschen unter Regenschirmen dargestellt sind. Ein Werk aus dem Jahr 1976 von der Künstlerin Ingeborg Bukor. Es steht sinnbildlich für die Stadtgesellschaft, die sich unter dem Segen Gottes versammelt.

Barbara Glasner: Wolfgang Reul und ich haben uns sehr viele Kirchen angeschaut. Was uns fasziniert hat: Bei den Notkirchen der Nachkriegszeit in Deutschland wurde oft auf standardisierte Griffe von FSB zurückgegriffen. Wir haben Eingänge von Bauten aller großen Religionen aus aller Welt im Buch. Es ist eine Art Standardwerk und dokumentiert etwas, was immer mehr verloren geht – vor allem Kirchen werden immer häufiger profaniert oder abgerissen.

Barbara, du bist durch die Zusammenarbeit zur Türklinken-Multiplikatorin geworden. 2023 erschien dein Buch „Most Touched“ mit 1.000 Bildern von Türklinken jeglicher Art. Wie hast du die Auswahl getroffen und zusammengestellt?

Barbara Glasner: Im Laufe der Zeit habe ich persönlich an die 3.000 Bilder von Türgriffen gesammelt. Viele Fotografien stammen von befreundeten Kulturschaffenden. Insgesamt haben mir rund 100 Personen Fotos zur Verfügung gestellt. Für „Most Touched“ musste ich 1.000 Bilder aussuchen – das war herausfordernd. Letztendlich ist es ein Querschnitt durch viele Epochen, Stile, Forme und Materialien. Ich will damit die Vielfalt von Türgriffen zeigen und veranschaulichen, dass es sich eben nicht um ein banales Alltagsobjekt handelt. Wir haben in der Bildstrecke immer zwei Türgriffe einander gegenübergestellt, da haben wir viel ausprobiert, bis die Zusammenstellung feststand.

Kannst du ein paar Türklinken-Geschichten preisgeben?

Barbara Glasner: Ich habe Bekannte, die weltweit unterwegs sind, zu Gebäuden geschickt. So habe ich einen Berliner Grafiker zu einem 1970er Jahre Tempel in Tokio gesendet, damit er den Griff fotografiert. Vielen bereitet dieses Aufspüren und Festhalten von besonderen Klinken Freude, auch weil sie diesem Detail nun mehr Aufmerksamkeit schenken. Auch die Architekturbiennale 2014 in Venedig, zu der Rem Koolhaas die Hauptausstellung „Elements of Architecture“ kuratiert hat, hat dazu beigetragen, das Augenmerk auf Details wie Türgriffe in der Architektur zu lenken.

Gibt es kulturelle Unterschiede im Umgang mit Türgriffen?

Wolfgang Reul: In den USA zum Beispiel dominieren Türknöpfe. In Südeuropa, sind die Türklinken etwas filigraner und kleiner, oft auch historisierend. Während im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren Materialien wie Edelstahl und Aluminium bevorzugt werden, wird in Südeuropa immer noch gern Messing verwendet. Schaut man in die arabische Welt, findet man auch schon mal Türklinken, die mit Brillanten besetzt sind. Grundsätzlich sollte man sich, wenn man in die Zukunft blickt, für Materialien einsetzen, die nachhaltig sind und trotzdem Aspekte wie Schönheit und Anmut erfüllen. Da sind wir in Deutschland weiter als in anderen Ländern.

Barbara Glasner: In Italien fällt auf, dass Kirchen von außen gar keine Griffe haben, weil sie meist von innen geöffnet werden. Was auch immer missverstanden wird, sind die großen Klopfer an den hohen Portalen von mittelalterlichen Kirchen. Sie sind nicht zum Anklopfen für den Einlass da, sondern als Klopfzeichen, dass die Stadtgesellschaft für Bekanntmachungen zusammenkommen soll.

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Aus „Most Touched“ (Bild © Verlag form)

Ist Deutschland eine Fundgrube für Türgriffe?

Barbara Glasner: Ja, absolut. Frankreich auch. Und Belgien – dort gibt es diese extrem farbigen Keramikgriffe. Überall dort, wo der Jugendstil bedeutend war oder wo durch den Zweiten Weltkrieg viel zerstört und wiederaufgebaut werden musste.

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Aus der Reihe „Klinken-Phantasien“ von Künstler Tomi Ungerer für FSB. (Bild © FSB)

Steht hinter den Büchern auch die Angst vor dem Verlust einer Vielfalt, wie es sie in Zukunft vielleicht nicht mehr geben könnte? Weil Türen immer mehr automatisch, per Voice- oder Face-ID, geöffnet werden?

Wolfgang Reul: Diese Entwicklung ist ein Stück weit absehbar. Türen in öffentlichen Bereichen wird man immer mehr öffnen oder schließen können, ohne eine Türklinke zu drücken. Aber sobald wir uns in Wohnungen oder Büros bewegen, wird die Klinke nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen.

Barbara Glasner: Ich glaube nicht, dass die Griffe so zahlreich verschwinden werden. Weil Menschen bei aller Digitalität auch fühlen möchten, um sich mit der Welt zu verbinden. Wir sehen das ja auch an der Renaissance von Manufakturen, von DIY, von analoger Fotografie. Wenn Menschen den Türgriff betätigen, dann ist das auch eine Form der Selbstbestimmtheit.


Weiterführende Literatur
Otl Aicher, Robert Kuhn: Griffe und Greifen, Walther König, Köln, 1987
FSB Franz Schneider Brakel GmbH + Co. KG: Die Sprache der Hände, Verlag Hermann Schmidt, Mainz, 2005
FSB Franz Schneider Brakel GmbH + Co. KG in Zusammenarbeit mit der Internationalen Bauakademie Berlin und dem Deutschen Werkbund: Begreifbare Baukunst. Die Bedeutung von Türgriffen in der Architektur, FSB, Brakel, 2011
FSB Franz Schneider Brakel GmbH + Co. KG: Griff zum Himmel – Handle to Heaven, FSB, Brakel, Eigenpublikation, 2021, online unter >>>
Bernd Kreutz (Hg.); Wilhelm Vossenkuhl, Jürgen Werner Braun: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Über Otl Aicher, Ludwig Wittgenstein und Türklinken, 2021
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2424_AT_Glasnerform_1000xcoverBarbara Glasner: Most Touched, Verlag form, Frankfurt am Main, 2023
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FSB Franz Schneider Brakel GmbH + Co KG: An der Oberfläche: Metalle in Architektur und Design – On the surface: Metals in architecture and design, FSB, Brakel, Eigenpublikation, 2020
Jasmin Jouhar: Türklinke FSB 1144 von Jasper Morrison – Door handle FSB 1144 by Jasper Morrison, Reihe form Designklassiker, Verlag form, Frankfurt, 2019
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