„So schön beiseit“ heißt das Buch des Schweizer Literaturkritikers und Schriftstellers Werner Morlang (1949-2015) über „Sonderlinge und Sonderfälle der Weltliteratur“: ein Plädoyer dafür, dass die Größen, die uns die offizielle Geschichtsschreibung und Kritik anbieten, keineswegs die einzigen wertvollen Personen sind, die es sich lohnt zu studieren. Der deutsch-britische Architekt Walter Segal (1907-1985) beispielsweise ist eine jener Figuren, die zu oft übersehen werden.
Seit den 1970er Jahren ist Segal als Selbstbau-Pionier bekannt, doch dem Radar manches Standardwerks ist er entgangen. Und Segal selbst scheint, um mit dem Philosophen Günther Anders zu sprechen, „die hohe Kunst des Unterfliegens“ (1) vorgezogen zu haben. Im Alter von 45 Jahren entscheidet er sich dafür, allein zu arbeiten. „[M]it dem Selbstschutz bleibe ich ungestört. Es gibt andere Dinge im Leben als nur ein Architekt zu sein. Die Ein-Mann-Firma braucht Zeit, [um] sich zu entwickeln. Es ist auch nicht der Weg, der zum Reichtum führt oder ins Rampenlicht. Aber man gewinnt Freunde, die wiederkommen und – das ist das [W]ichtigste, sie lässt Spielraum zur Muße und zum Leben.“ (2)
Sein Vater, Arthur Segal (1875-1944), war ein expressionistischer Berliner Maler rumänisch-jüdischer Herkunft und DADA-Mitbegründer in Zürich. (3) In künstlerischen Kreisen in Berlin und der Schweiz aufgewachsen (zum Bekannten- und Freundeskreis seines Vaters gehörten Hans Arp, Walter Gropius, Hugo Häring, Raoul Hausmann, Ludwig Hilberseimer, Erich Mendelsohn, Mies van der Rohe, Kurt Schwitters), entwickelte Walter Segal früh einen kritischen Abstand zu namhaften Figuren der Kunst- und Architekturszene. Als Architekt mit Bruno Taut und Julius Posener befreundet, mit Walter Gropius, Erich Mendelsohn und Sir Raymond Unwin bekannt, bewahrte Walter Segal diesen kritischen Abstand zeitlebens.
Nach seinem Studium an der Technischen Hochschule Charlottenburg (insbesondere bei Hans Poelzig) baut Segal 1932 sein erstes Haus: La Casa Piccola in Ascona am Lago Maggiore. Von 1932 bis 1934 lebt die Familie auf Mallorca, wo Walter Segals zweiter Bau entsteht, eine Villa. 1934 schließt er sich dem Schweizer archäologischen Borchardt-Institut in Kairo an. 1935 lockt ihn Erich Mendelsohn nach Jerusalem, doch ohne Erfolg: Segal gibt vor, seine altägyptischen Studien im British Museum fortführen zu wollen. Bruno Taut, der im türkischen Exil Professor an der Istanbuler Kunstakademie Mimar Sinan ist, bietet Segal 1937 eine Assistentenstelle an, aber kurz danach stirbt Segals väterlicher Freund. Segal bleibt in London, eine Metropole, die fortan seinen Lebensmittelpunkt bildet (die britische Staatsangehörigkeit erwirbt er 1948). Eine karge Zeit, er überbrückt sie mit einer Anstellung als Architekt im britischen Versorgungsministerium (1940–42), als Dozent an der Architectural Association in London (1944–48) und als Publizist. Zudem widmet er sich Studien zum sozialen Wohnungsbau; gelegentlich baut er auch – Wohnhäuser. Mitte der 1950er Jahre verbessert sich seine Lage, er baut vermehrt Wohnhäuser, dazu zwei mehrgeschossige Apartmenthäuser, auch Industrie- und Verwaltungsgebäude.
Selbstbau mit Methode
Seine intellektuelle Unabhängigkeit und sein ausgeprägter Bürgersinn bewegen Segal in den 1960er Jahren, eine konstruktive Selbstbau-Methode (4) zu entwickeln. Sein Vorgehen: Zuerst entwarf er den Grundriss (oder er überließ es den Bauherren). Daraufhin gab er dem Entwurf eine konstruktiv-räumliche Gestalt auf der Grundlage seines Ansatzes: ein- bis zweigeschossige Holzrahmenkonstruktionen in Zangenbauweise auf einem orthogonalen Achsraster von 60 Zentimetern, ausgesteift in entsprechenden Feldern durch diagonal angebrachte Stahlstäbe, mit leicht auskragenden Flachdächern zum konstruktivem Holzschutz und mit Stützen, die, aufgeständert auf Punktfundamenten aus Ortbeton, in ihrer Höhe dem jeweiligen Geländeverlauf angepasst sind.
Diese leicht verständliche Methode erlaubte es auch Laien, das eigene Wohnhaus mit herkömmlichen Werkzeugen und standardisierten Materialien aus dem Baumarkt (Holzbalken, Holzbretter, Holzwolleplatten, Faserzementpaneele, Gipskartonplatten, Nägel, Bitumendachpappen, Stahlschuhe, Stahlstäbe zur diagonalen Aussteifung der Holzrahmen) weitgehend preiswert zu errichten.
Ausnahme: Für die tragenden Holzteile bevorzugte Segal kanadische oder sibirische Douglasie – teurer, dafür dauerhafter.
Kurz, eine bewegliche Methode, die ausgeklügelte innenräumliche Details und Erweiterungen ebenso zulässt wie sie Balkone, Loggien, Terrassen, Treppen oder Rampen mühelos integriert. Die Erscheinungsform: Eine patina-freudige minimalistische Architektur, die an die Anmut traditioneller japanischer Holzbauten erinnert (Bruno Tauts Liebe für die traditionelle japanische Architektur mag Segal angeregt haben) – und auch an die aristotelische Auffassung der Architektur als pragmatische Kunst (5)
Die Wohnhäuser in Segal Close und Walter´s Way erscheinen mit Gusto in die Landschaft eingebettet, oder, besser, sie gehen eine heitere Symbiose ein mit den inzwischen üppigen Bäumen und Gewächsen, die sie umgeben. Die Aufnahmen von Taran Wilkhu, zu bewundern im Buch „Walters´ Way“ (2017) (6), fangen diese heitere Atmosphäre kongenial ein. Innen- und Außenräume sind gleichermaßen durchtränkt von dieser farbenfrohen, behaglichen, springlebendigen Atmosphäre. Vielleicht auch ein Echo der Persönlichkeit Walter Segals: Er galt als begnadeter Erzähler voller Energie, mit einer bemerkenswert dichten Präsenz und zugleich mit der Gabe ausgestattet, den Menschen in seiner Umgebung das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein.
Selbstbau in der Lehre
Auf Einladung des Instituts für Baukonstruktion und Entwerfen (IBK1) der Universität Stuttgart kam Segal 1975/76 nach Stuttgart, wo er Studenten um Professor Peter Sulzer und Manfred Goss bei einer Lehrveranstaltung zum Thema „Experimentelles Bauen (Holzbau) / Selbstbau“ begleitete. Die Studenten hatten Segals Methode an die deutschen Baunormen angepasst und einen Versuchsbau auf dem Campus Vaihingen errichtet. (7)
Dieses Projekt inspirierte das Team des IBK 1 mit den Professoren Peter Sulzer und Peter Hübner und dem Dozenten Manfred Goss dazu, mit Studenten ein dauerhaftes Gebäude auf dem Campus Vaihingen zu planen. Das Ergebnis: das Bauhäusle, ein heute noch beliebtes Wohnheim für 30 Studenten, 1983 eingeweiht. (8)
Segals Vermächtnis
Die Londoner Selbstbau-Projekte waren frühe Formen von Baugemeinschaften. Sie konnten nur entstehen, weil die damalige Labour-Bezirksverwaltung von Lewisham den Baugemeinschaften das Bauland zu günstigen Bedingungen in Erbpacht zur Verfügung stellte. Und heute? Die Neo-Liberalisierung des Immobilien- und Wohnungsmarkts, die erhöhten Anforderung an energetische Standards, das aufwendige Baurecht und die dadurch gesteigerten Planungs- und Grundstückskosten sind Gründe dafür, weshalb der Selbstbau in weite Ferne gerückt zu sein scheint.
Doch zwei Aspekte bleiben. Zuerst das Konzept des gemeinschaftlichen Bauens, das seit einigen Jahren eine Wiedergeburt erlebt, fortgeführt, verfeinert und an heutige Gegebenheiten angepasst. Jon Broome, Segals früherer Mitarbeiter an den zwei Siedlungen in Lewisham, entwickelt Segals Erbe weiter (9); Peter Hübner ließ sich ebenfalls von Segal inspirieren (10) und Andreas Hofer, künstlerischer Intendant der IBA Region Stuttgart 2027, prägt mit Projekten wie „Mehr als Wohnen“ das gemeinschaftliche Bauen heute.
Der zweite Aspekt gilt dem Selbstbau – ursprünglich ein Kennzeichen des vernakulären Bauens weltweit: in ihrer jeweils eigenen Region sind Bauern seit alters her die besten Erbauer ihrer Dörfer und Häuser gewesen. Vielmehr, sie waren es, jedenfalls gilt das für weite Teile Europas, vor allem Mittel- und Westeuropas.
Nun hatten Protagonisten von Spielarten der frühen Moderne das vernakuläre Bauen als Inspirationsquelle verwertet. Segal hatte selbst stadtbau- und baugeschichtliche Studien im Mittelmeerraum unternommen, etwa zu dörflichen Siedlungsstrukturen mit ihren Bauern- und Handwerkerhäusern auf Ibiza und Mallorca, und zu Fellachenhäusern in Ägypten.
Mit seinem Ansatz aktualisiert Segal nun das Konzept des Selbstbaus, er holt es in die Gegenwart, haucht ihm neuen Lebensatem ein – und ermöglicht es seinen Bauherren, nicht allein selbst zu bauen, sondern gleichzeitig an sich selbst zu arbeiten, sich selbst zu erbauen. Bauherren wussten dies auch zu schätzen: „Er lehrte uns, selbst zu denken, und gab uns soviel Selbstvertrauen, dass wir, nachdem unsere Häuser fertig waren, das Gefühl hatten, dass wir alles tun könnten, wonach uns der Kopf stände – er änderte buchstäblich unser Leben.“ (11) Ganz im Sinne von Paul Valérys „Eupalinos oder Der Architekt“, dem imaginären Dialog zwischen Sokrates und dem Baukünstler Eupalinos, der Walter Segal besonders am Herzen lag. Dort lässt Valéry Eupalinos Sokrates entgegnen: „Indem ich baute, warf er lächelnd hinzu, habe ich mich, glaube ich, selbst erbaut …“ (12)
(1) Günther Anders, Ketzereien. München: C.H. Beck, 1991, S. 15
(2) John McKean, Learning from Segal. Von Segal lernen. Basel / Boston / Berlin: Birkhäuser, 1989, S. 119
(3) Vgl. Wulf Herzogenrath, Wulf / Paul Liška (Hg.), Arthur Segal 1875-1944. Berlin: Argon, 1987
(4) Vgl. The Architects’ Journal (AJ): Special Issue: The Segal Method. Themenheft, London 5. November 1986, S. 31-68
(5) Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2006, Buch IV, S. 157–158
(6) Alice Grahame / Taran Wilkhu, Celebrating Segal: Walters Way & Segal Close. A look at London’s most unusual streets. Forest Hill Press: London, 2016. 2. Auflage: Park Books, Zürich, 2017
Siehe auch die Rezension von Christian Holl >>>
(7) Peter Sulzer / Lehrstuhl I für Baukonstruktion und Entwerfen, Universität Stuttgart (Hg.), Selbstbau als Lehrform. Studenten planen und bauen ein Haus. Schriftenreihe Baukonstruktion, Heft 19. Lehrstuhl I für Baukonstruktion und Entwerfen, Universität Stuttgart: Stuttgart 1981
(8) Zum Bauhäusle siehe: Manfred Sack, Mit dem Kopf und mit den Händen. Ein Praktikum mit sehr praktischen Folgen: Studentenwohnungen als Lehrgegenstand. In: DIE ZEIT, 24. Juni 1983
Alice Grahame, ‚A playground for grown up kids‘: inside the student housing built by its residents. In: The Guardian, London, Online-Ausgabe, 26. November 2018
(9) Jon Broome, The Green Self-Build Book. How to design and build your own eco-home. Cambridge: Green Books, 2014 (1. Auflage 2007)
(10) Peter Hübner, Holzleichtbau – gebaute Geschichten aus schlanken Hölzern als eine Anleitung zum Bauenlernen. Mit einem Beitrag von Manfred Goss. Schriftenreihe Baukonstruktion, Heft 23. Lehrstuhl I für Baukonstruktion und Entwerfen, Universität Stuttgart: Stuttgart 1990;
Peter Blundell Jones, Peter Hübner. Bauen als ein sozialer Prozess. Stuttgart / London: Edition Axel Menges, 2007
(11) McKean op. cit., S. 177
(12) Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt. Frankfurt am Main / Leipzig: Suhrkamp, 1991, S. 55
Ausstellungen über Walter Segal
Die erste Ausstellung über Segal richtete die TH Eindhoven 1978 aus, die zweite Schau kuratierte Florian Beigel an der Royal Festival Hall in London 1988. Die dritte Ausstellung war 2016 an der Architectural Association in London zu sehen: Walter’s Way: The Self-Build Revolution, widmete sich den zwei Wohnsiedlungen, die von 1977 bis 1987 nach Segals Selbstbau-Methode in Lewisham (Süd-London) entstanden und nach ihm benannt sind (Alice Grahame, die Kuratorin, und Taran Wilkhu, der Fotograf, leben mit ihren Familien selbst dort). Diese Schau regte dazu an, in Stuttgart eine monografische Segal-Ausstellung auf die Beine zu stellen, die im November 2018 in der Universitätsbibliothek Stuttgart (Stadtmitte) zu sehen war. Professor Peter Cheret, dem Nachfolger von Peter Sulzer am IBK1, ist es zu verdanken, dass diese Ausstellung stattfinden konnte. Kuratiert haben sie Dan Teodorovici und Stefan Brech.