Architektur nicht als Objekt, sondern als Beziehungen gestaltendes System: diese Verständnis liegt den bereichernd aktuellen Arbeiten von Cedric Price und Walter Segal zugrunde. Aber auch, wer ein von Leerstand betroffenes Dorf beleben will, sollte nicht allein auf die Häuser schauen, sondern die Beziehungen in den Blick nehmen, die sich zwischen ihnen aufspannen. Drei Buchempfehlungen.
„Vielen Stadtbewohnern fehlt das Selbstvertrauen, auf dem Land zu leben.“ Ein markiger Satz, Einstieg zum Theoriekurs „Leben auf dem Lande“ von Elise Broeks, der in die Dokumentation über ein Projekt der Kunstuniversität Linz eingestreut ist. Dort, in Linz, ist Ton Matton seit 2014 Professor. Er hat sich schon einige Zeit damit beschäftigt, welche Potenziale für künstlerisches Arbeiten das Leben auf dem Land bietet. Im Sommer 2016 ist er mit 13 Studierenden für wenige Wochen in das nordhessische Gottsbüren gezogen, ein Dorf, das wie viele von Leerstand und Abwanderung betroffen ist. Eingeladen hatten Bürgermeister und Landrat. Der Auftrag: das Thema Leerstand auf dem Land zu erforschen. Mit Kunstprojekten, Kartierungen, Gesprächen, Festen hat das Team diesen Auftrag erfüllt und um reflektierende, aktivierende und provozierende Elemente ergänzt. Es wurde das Leben aus der Sicht einer Kuh gezeigt, Wohnzimmer auf dem Marktplatz eingerichtet, eine geschlossene Gaststätte temporär wieder eröffnet, die Sängern Bernadette La Hengst trat mit dem Dorfchor auf. Man wollte zeigen, dass es sich lohnt, aufs Dorf zu ziehen, dort zu bleiben, es nicht aufzugeben und hat dabei eine neue Sicht auf die Besonderheiten des Lebens eröffnet, die Pioniere ermutigen könnte. Nicht alles glückte: Ein spontan aufgrund der Kinderwünsche mit Kalkfarbe aufgebrachter Zebrastreifen musste umgehend wieder entfernt werden. Dies alles wird im Buch anschaulich dokumentiert. Das Fazit fällt dennoch zwiespältig aus. Es gebe Kaufinteressenten für einige Häuser, „das Dorf scheint seinen Tiefpunkt überwunden“, so wird einerseits am Ende berichtet. Im Interview gesteht andererseits ein Dorfbewohner, trotz „kleinen documenta-Gefühls“ ein bisschen erschüttert zu sein, „wie wenig von der ganzen Geschichte hängen geblieben ist.“ Eine solche Meinung dem Leser nicht vorzuenthalten, spricht für das Buch. Denn auch wenn Aufmerksamkeit erzeugt wurde: Das Dorf wird nur am Leben bleiben, wenn Menschen (mit Selbstvertrauen) nicht nur kommen, sondern auch bleiben.
Von seinen bekannteren Gebäuden steht nur noch die Vogelvoliere im Londoner Zoo, das Interaction Centre in Camden Town wurde im Jahr seines Todes abgerissen, und das vielleicht bekannteste und folgenreichste – der Fun Palace – ist nie gebaut worden. Dennoch ist Cedric Price eine einflussreiche Persönlichkeit, die Bernhard Tschumi, Richard Rogers und Rem Koolhaas geprägt hat. Ihm ist eine ausgezeichnete Monographie gewidmet, die sich auf die Spuren seines Denkens und Wirkens begibt. Ihn zu verstehen, so die Autorin Tanja Herdt, sei erst möglich, wenn man ihn im Kontext seiner Zeit sehe und der angelsächischen Architekturtradition sehe – und erfüllt selbst dann den Anspruch, den sie mit dieser Aussage an sich selbst richtet: Sie macht nachvollziehbar, was das Besondere, Charismatische und Beeindruckende im Denken und Arbeiten von Cedric Price war, stellt die Bezüge zu den Zeitgenossen, zu den Smithsons, Buckminster Fuller, Louis Kahn her. Price hatte sich nie als Theoretiker oder Visionär verstanden, sondern als Pragmatiker, der die Konzepte der modernen Architektur auf ihre Relevanz befragte. Architektur brauche, so beschreibt Herdt die Haltung von Price, nicht länger Fragen der Gesundheit und Hygiene zu beantworten; statt dessen solle sie Zugang zu Wissen und Bildung, Kultur und zu Orten des öffentlichen Austauschs gewähren. Die Offenheit der Entwürfe, die daraus entstand, folgte dabei damals schon dem heute aktuellen Raumbegriff, der Raum als ein sich aus Beziehungen konstituierendes Konstrukt versteht. Mit einem solchen Denken konnte er auch Aufgaben angehen, wie die des McAppy Projekts, das Arbeitsabläufe auf Baustellen und deren Organisation verbessern sollte. Es ist eines der vielen Verdienste dieses Buchs, dass auch solch wenig bekannte Arbeiten vorgestellt werden. Price erweist sich als ungemein aktuell: seine Architektur und sein städtebauliches Denken zielten darauf, Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen, ohne dabei den gesellschaftspolitischen Prozess der sozialen Interaktion gleich mit gestalten zu wollen. Seine Arbeit zeichnete sich nicht zuletzt darin durch einen tief empfunden Humanismus aus. Er stellte den Einsatz der Technik in den Dienst der Wünsche und Aktivitäten des Individuums; Technik und Architektur sollten dazu dienen, den Handlungsspielraum des Einzelnen zu erweitern, weswegen er den Einsatz neuer Technologien kritisch hinterfragt hat. Das zeugt von einer Freiheit im Denken, die, so die Autorin, es sich lohne, heute wiederzuentdecken. Dem kann uneingeschränkt zugestimmt werden.
Ebenfalls als Pragmatiker kann man Walter Segal einordnen – als Pragmatiker, dessen Arbeit mehr denn je eine aktuelle Relevanz hat. Der wegen seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland vertriebene Architekt hatte ein Systemhaus in Holzrahmenbauweise entwickelt, das Bewohner im Eigenbau errichten konnten: Bauherrschaft im wahrsten Sinn des Wortes. In London, wo Segal sich niedergelassen hatte, entstanden in den 1970er und 1980er Jahren zwanzig Häuser nach diesem System als kleine Siedlung an zwei Straßen im Stadtteil Lewisham: Walters Way und Segal Close. Diesen Häusern ist die Veröffentlichung der Journalistin Alice Graham und des Fotografen Taran Wilkhu gewidmet, die beide Bewohner von Segal Häusern in Lewisham. Alle Häuser stehen noch, aber nur noch vier werden von den Erstbewohnern genutzt, alle anderen aktuellen Bewohner, so auch die beiden Buchautoren, sind später eingezogen. Das Buch lässt die heutigen Nutzer zu Wort kommen und zeigt den aktuellen Zustand der Häuser. Obwohl jedes von ihnen durch Zutaten und Ergänzungen der Bewohner seinen eigenen Charakter hat, atmen sie alle einen ähnlichen Geist einer heiteren Offenheit und Ungezwungenheit – und sie sind alle noch nach wie vor eindeutig Segal-Häuser, genauer gesagt: sie sind es geworden. Das Buch ist eine wunderbare Expedition in eine Welt des Alltags der Architektur, eine, die zeigt, wie es gelingen kann, wie sich der Sinn von Architektur im Gebrauch erfüllen kann und trotzdem einen eigenen, starken Charakter bewahren kann.