• Über Marlowes
  • Kontakt

Sehen können, was sein kann


Städte und Dörfer bleiben dann vital, wenn sie immer wieder neu belebt werden. Dazu braucht es Fantasie und Leidenschaft, mitunter auch Geduld. Und die Freude daran, im Kleinen das zu entdecken, was das Wesen eines Ortes ausmacht, wie man an einer Geschichte weiterschreiben kann, ohne sie lediglich zu wiederholen. Zwei Projekte in der Stadt Stuttgart und deren Region zeigen, was Erfinder und Entdecker leisten.

1846_AT_akoerner_Schlosserhof_innen2

Im Innern des wiederhergestellten Werkstattraums, nun mit zwei Oberlichtern ausgestattet. (Bild: Andreas Körner, bildhübsche fotografie. >>>)

Revitalisierter Hofkern

Dichter geht es eigentlich nicht – heute würde man bestimmt nicht so dicht bauen, wie man es oftmals im 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht hat – aller Forderungen zum Trotz. So ist denn es oft auch nur durch Bestandsschutz möglich, die bestehende Struktur zu erhalten und fortzuschreiben. Die Schlosserei, um die es hier geht, hat vor wenigen Jahren den Betrieb eingestellt. Das in der Hofmitte eines Blocks in einem Gründerzeitviertel in Stuttgart liegende Werkstattgebäude verfiel zusehens, und es bedurfte einer guten Portion Mut und Fantasie, dieses Gebäude zu erwerben. Doch es gab ihn, diesen mutigen Bauherren. Er hat Tina Kammer beauftragt, sich des Gebäudes anzunehmen, es behutsam und sorgfältig zu sanieren und es durch einen Zwischenbau an das Erdgeschoss des benachbarten Hauses anzuschließen; hier war früher Lager- und Büro des Schlosserbetriebs untergebracht gewesen. Das Dach des Werkstattgebäudes war bereits eingestürzt, und wären während des Baus auch die Wände eingefallen, wäre die Baugenehmigung verfallen – und aus wäre der Traum von einer modernen Wohnung mit separat zu erschließenden Einliegerwohnung gewesen. Neu errichten durfte man die Backsteinwände nicht, sie durch eine innenliegende Konstruktion zu stützen auch nicht. Bauherr und Architektin gingen ein hohes Risiko ein.

Die Rettung macht erst sichtbar, was verloren gegangen wäre

Das Konzept – Wiederherstellung und Neuinterpretation – inszeniert die einzelnen Bauteile in einer fast schon an eine Collage denken lassenden Weise. Gezielt wurde dabei darauf geachtet, die Spuren der Vergangenheit sichtbar zu lassen oder sie als solche zu betonen. Im ehemaligen Büro-und Lager dessen für heutige Erwartungen gewöhnungsbedürftige Grundriss aus statischen Gründen so belassen werden musste, wie er war, wurden die Innenwände vom Putz befreit und als Mauerwerksflächen in aller Ruppigkeit belassen. Der Eindruck des Improvisierten bleibt, die Wohnung bekommt nicht den Charakter, zu Tode modernisiert worden zu sein und in einem blank geleckten Galerienschick überführt worden zu sein. Das Konzept ist nicht ohne Tücke – es signalisiert pragmatische Loft-Ästhetik des Unfertigen, das sich unkompliziert nutzen und verändern lässt, ist aber sorgfältig komponiert und verlangt auch vom Nutzer ein Gespür für dieses Arrangement von Materialien und Oberflächen. Dennoch ist es robust: Möblierung und Einrichtung müssen nicht aus einer Hand sein, Dinge mit Geschichte, die (nur) dem Bewohner etwas bedeuten, werden hier nicht stören.

Großer Wert wurde dabei auf die Qualität der Baustoffe gelegt – nachhaltig und der Gesundheit förderlich sollten die Materialien sein, und so kamen Lehmputz, Sumpfkalkputz sowie Kalkfarben, Holzfaserdämmung und Linoleum zum Einsatz. Die Rahmen der neuen Fenster und der neuen Oberlichter im Werkstattgebäude sind aus massiver Eiche, Armaturen und Steckdosen kommen aus Traditionsunternehmen, Türelemente restauriert und wiederverwendet. Das alles hat seinen Preis – sicherlich. Es hat aber mehr Charme, Unscheinbares und Altes zu retten und den Bestand aufzuwerten, als öffentlichkeitswirksam aufwändige Rekonstruktionen als vermeintliche Identitätsstifter zu inszenieren. Dieser Bestand wäre ohne mutige Bauherrschaft und risikofreudige Architekten verloren gegangen, kaum einer hätte ihm eine Träne nachgeweint, wenn er denn je davon erfahren hätte. Jetzt erst wissen wir, was hier eigentlich gerettet wurde: Architektur bedarf der Augen, die sehen, was sein kann.


Zu den Plänen >>>

Größe: 200 qm; Bauzeit: 2015 – 2017
Architektur: Dipl. Ing. Tina Kammer, InteriorPark, Stuttgart
Statik: Reinhard Kaltenbach | Ingenieurbüro für Tragwerksplanung
Bauphysik: Harriet Dittmer | planungsgruppe kuhn GmbH & Co. KG
Fotos: Andreas Körner, bildhübsche fotografie, Stuttgart

1846_AT_stocker_Minimalhaus1Nord

Einfach, aber alles andere als banal. Das Minimalhaus als preiswerter Wohnraum (Bild: Architekturbüro Stocker)


Poesie des Pragmatischen

Anders stellte sich die Sache in Leutenbach vor den Toren Stuttgarts dar. Das Haus, das sich dort Werkzeugmacher gekauft hatte, sollte nicht erhalten werden – zu marode die Bausubstanz; statt dessen sollte in gleicher Kubatur ein Neubau für wenig Geld entstehen. Weil für den Großteil potenzieller Käufer ein solcher Neubau nicht vorstellbar war, lag der Preis außerordentlich niedrig: 90.000 Euro haben Haus und Grund gekostet. Mit dem Bau eines möglichst preisgünstigen Neubaus wurde das Architekturbüro Stocker aus Remshalden beauftragt – das diese Aufgabe gerne annahm. Kostengünstig heißt hier zwar, wie Florian Stocker meint, „jede Schraube herumzudrehen“ – aber dieses Haus, das am Ende inklusive Grundstücke und Bestandsabriss gerade mal 337.000 Euro kostete, ist kein Ergebnis, das durch standardisierte Billigheimerei erzielt wurde – deren banale Erscheinung kann man viel eher im angrenzenden Neubaugebiet studieren. Wobei die Häuser dort in der Regel sicher deutlich teurer waren. Denn das zeigt das Minimalhaus von Florian Stocker: Um wenig Geld auszugeben, braucht man Witz und Fantasie, also genau das, woran in der Regel am meisten gespart wird.

Fantasie ist und war nicht nur vom Architekten gefragt – sondern auch vom Bauherrn. Der Clou des Häuschens ist der Verzicht auf einen statusorientierten Ausbau; wie sich das rohe Haus mit Leben füllen lässt, ist ganz Sache der Nutzer – Freiheit, die man nutzen können muss. Der Architekt stellte einen Stahlbetonrohbau im Sinne von Le Corbusiers Domino her, für die wieder aufgenommene Kubatur im Dachgeschoss kurzerhand mit schrägen Balken ausgestattet. Die Wände des Obergeschosses wurden mit einem normalerweise für den Industriebau verwendeten Sandwichsystem mit Außenflächen aus Blech bekleidet, dem weder innen noch außen eine Schicht hinzugefügt wurde: Rohbau gleich Ausbau. In diese großen Elemente wurden die Fenster eingeschnitten, der dunkle Außenton gibt dem ganzen noch eine noble Note. Umlaufend wurde in die Betonkonstruktion ein Kanal für die Elektroinstallation eingelassen, eine Fußbodenheizung und eine Lüftung mit Wärmerückgewinnung konnten trotz des knappen Budgets auch noch realisiert werden.

Ländlich bauen heißt, das ländliche Bauen nicht zu verklären.

Im leicht eingerückten Erdgeschoss, das als unbeheizte Werkstatt und damit auch als Puffer gegenüber dem ersten Obergeschoss dient, wurde auf einer Ständerkonstruktion Hölzer angebracht, die besonders billig zu haben waren: Schwartenbretter, Ausschuss. Restmaterial mit kräftigem Ausdruck, wie er sonst aufwändig produziert oftmals aufdringlich wirkt – hier ist er gerechtfertigt, weil er keine Attitüde von hohler Authentizität inszeniert.

Weil der Eingang unten liegt, kommt die kalte Luft nicht ins erste beheizte Geschoss, der Wohnebene. Von ihr aus betritt man das nach Süden orientierte Holzdeck – das wiederum auf einer Stahlkonstruktion ruht, die aus einem alten Industriebetrieb gerettet werden konnte; das Geländer hat der Bauherr selbst geschweißt. Die Gaube wurde als sichtbar gebliebene Stahlkonstruktion eingestellt, Ausbauwände sind erst im zweiten Obergeschoss zu finden. Aus dem Sockel des abgerissenen Hauses konnten die Sandsteine als Fassung des Gartens genutzt werden, der sich bis zu einer großen, mächtigen Eiche erstreckt.

Das Haus schließt an den Kontext des dörflichen Bauens nicht in erster Linie als formale Idee an, sondern als eine des Umgangs mit Material und Artefakten, es knüpft so direkt an ein ländliches Bauen an, das stets eines war, das knapper Ressourcen wegen erfinderisch sein musste und dessen Poesie sich aus dem Pragmatischen speist. Seinem Erläuterungstext hat der Architekt ein Haiku vorangestellt, das diese besondere Form der Poesie aufgreift:

Bei jedem Windhauch
Setzt sich der Falter anders
Dort auf der Weide.


Zu den Plänen >>>

Ort: Am Überbach 14, 71397 Leutenbach
Bauherrschaft: Lorena und Johannes Müller
Architektur: Architekturbüro Stocker BDA, Remshalden
Projektteam: Florian Stocker, David Diorio, Norbert König
Tragwerksplanung: Ingenieurbüro für Bauwesen, Mathias Seiler www.ifb-seiler.de
Umbauter Raum: 802 cbm
Nutzfläche: Ebene 0: 60 qm, Ebene 1-3 innen: 173 qm, Nutzflächen außen: 80 qm
Fotografie: Architekturbüro Stocker; Georg Drexel, Krumbach