• Über Marlowes
  • Kontakt

Stilkritik (147) | Es spricht zwar einiges dagegen, den Buchtitel eines ehemaligen SPD-Politikers zu verwenden. Und er hat eingedenk der gestrigen Ereignisse im Bundesparlament einen noch bittereren Klang. Aber er passt ausnahmsweise, um die partielle Selbstaufgabe unseres Gemeinwesens hinsichtlich der täglichen Versorgung zu beschreiben.


Seit zehn Jahren wohnen wir in D. Der Name des Städtchens spielt keine Rolle, da es in allen Nachbargemeinden nicht anders aussieht. Wir wollen uns auch nicht beklagen, sondern einfach eine Beobachtung festhalten. Dass überall Wohnungen fehlen und die Politik sich mit Zahlen belastet (400.000 W/a) ist bekannt. Wer passabel wohnt, kennt das Gefühl: Glück gehabt! Sprechen wir von dem Dazwischen, von dem, was eine Stadt eben auch ausmacht. Den Geschäften, den Läden, dem Einzelhandel.

Unser Ort hat 3773 Einwohner. Wir können uns mit den „Gütern des täglichen Bedarfs“ noch fußläufig versorgen, außerdem gibt es einen Bahnhof für kleine Fluchten. Aber was eine Untersuchung des Bundesministeriums BMWSB vor zehn Jahren mitteilte, dass sich im ländlichen Raum zwischen 1990 und 2010 die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte halbiert hat, bestätigt sich unablässig weiter. In den Großstädten sind es die Kaufhäuser, die ehemals ein mondänes Flair verbreitet haben und inzwischen als Wirtschaftswunder-Ruinen in den Fußgängerzonen herumstehen. René Benko ist nur einer der Mitwirkenden (Tristesse zentral, Süddeutsche Zeitung, 1./2. Februar 2025, Seite 22). Man könnte sagen, der Stadt-Land-Gegensatz hat sich in dieser Hinsicht ausgeglichen.

Schön hier. Kein Fußgänger weit und breit, auch das Resultat autogerechter Stadtplanung. (Bild: Wolfgang Bachmann)

Schön hier. Kein Fußgänger weit und breit, auch das Resultat autogerechter Stadtplanung. (Bild: Wolfgang Bachmann)

Wo gibt es noch etwas?

Konkret: Wo uns vor kurzem noch ein Bäcker versorgte, ist nun eine Art Galerie eingezogen, die pastose Schinken anbietet. Von hier lässt sich überleiten zur aufgegebenen Metzgereifiliale, in der sich ein Immobilienmakler ausgebreitet hat. In einer anderen Bäckerei verbirgt sich ein Landschaftsarchitekturbüro. Auch die Grünen haben einen Stützpunkt hinter einem Schaufenster bezogen, ebenso arrangierten sich leidlich eine Fahrschule (inzwischen bereits wieder leerstehend) und ein Friseur mit der falschen Umgebung, sie haben ja nichts auszustellen. Unsere Apotheke ist seit dem Jahresende geschlossen, der Elektroladen ebenfalls, die Fahrradwerkstatt schon länger.
Gemeinsam ist den neuen Verwertungen, dass es sich um Angebote handelt, die man eben nicht täglich, sondern nur selten aufsucht. Oder nie. Oft wird das Ladenschild oder die Beschriftung an der Fassade nicht mal entfernt. Es liest sich wie eine denkmalgerechte Deklaration. Oder eine Anklage. Einige Nutzungen wirken wie vorübergehende Platzhalter. Weingüter stellen dort ihre Werbetafeln auf oder deuten mit ihren Flaschenbatterien eine Behelfsvinothek an. Im ehemaligen Fischgeschäft stehen die Urnen eines Bestattungsinstituts. Solche neuen Funktionen erzeugen kein Miteinander, hier trifft man niemanden. Die Urnen sagen es: Alles tot.

Einstmals Karstadt, dann Hertie, dann Ruine. Interimsweise Abriss, dann Parkplatz. (Bild: Ursula Baus)

Einstmals Karstadt, dann Hertie, dann Ruine. Interimsweise Abriss, dann Parkplatz. (Bild: Ursula Baus)

Von wegen Konsumverweigerung!

Aber neu ist dieser Exodus nicht. Wenn man als Bauhistoriker durch die Gassen streift, könnte man annehmen, dass eine Pandemie oder die Konversion zu einer Sekte zur Abkehr vom Einzelhandel geführt hat: Konsumverweigerung. Tatsächlich hat diese Verelendung eine Geschichte. Studiert man die Fassaden in unserer Umgebung, kommt es einem so vor, als sei der kleine Ort einmal ein florierendes Handelszentrum gewesen. Denn zahllose Häuser verraten noch, dass in ihren Erdgeschossen einmal kleine Läden eingerichtet waren. Tief herunterreichende Fensterbänke und ein etwas einladender modelliertes Treppchen lassen auf die ehemaligen Nutzungen schließen. Davon gab es viele. Harmlose Warenabgabestellen für selbst Geerntetes, Gefangenes, Gebackenes, Gebranntes, Gekeltertes, Genähtes – ohne Marketing und Kommunikationsberatung. Man kann es sich lebhaft vorstellen, wie man hier noch in den 50er und 60er Jahren mit seiner Einkaufstasche loslaufen und sich in maximal hundert Meter Entfernung alle Zutaten für eine passable Mahlzeit besorgen konnte. Und dabei die Nachbarinnen getroffen hat, die brühwarm erzählten, dass… Fast wirkt es, als habe man früher nicht mal Geld gebraucht, sondern hätte die Waren einfach über die Straße getauscht.

Wir sind selber schuld!

Ein Zurück wird es nicht geben. Wir haben zu viel verändert, uns verändert. Uns an eingeflogene Kiwis und Krabben gewöhnt. Dass man die aufgegebenen Nutzungen an den Häusern noch ablesen kann, dass hinter dem knittrig zugehängten Fenster des Tante-Emma-Ladens jetzt jemand wohnt, lässt sich wie eine Rache des vernachlässigten Hauses lesen.