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Sie finden sich nur noch selten in den Städten: Tankstellen. Und sie werden vielleicht dort sogar ganz verschwinden. Doch damit würde auch ein urbaner Sozialraum verloren gehen. Wie könnte man darauf reagieren?

„‚Geschockt‘ und ‚traurig‘: Die traditionsreiche Tankstelle in Frankfurt schließt ihre Tore. Nach über sechs Jahrzehnten soll das Gelände einer Tankstelle in Frankfurt verkauft werden. Die Bewohner von Heddernheim und Römerstadt können die Nachricht noch gar nicht fassen.“ So lauteten die einleitenden Zeilen eines Artikels, der im Januar 2022 in der Frankfurter Neuen Presse (FNP) erschien (1). Die Autorin beschrieb den Unmut der Bevölkerung über das Ende einer Tankstelle – die Eigentümer:innen hatten beschlossen, die Tankstelle zugunsten von Wohnungsbauten zu veräußern. Der Artikel zitiert einen Facebook-Nutzer mit den Worten: „Wenn ein Wille dagewesen wäre, um die Tankstelle und damit auch ein Stück Tradition für den Stadtteil zu erhalten, wäre bestimmt auch ein Weg gefunden worden. Hier wird alles geopfert für Wohnungen.“ Warum löst die Obsoleszenz einer Mineralöl-Tankstelle solch sentimentale Gefühle aus, 2022, in dem Jahr, in dem ein mögliches Aus des Verbrennungsmotors im Kontext des europäischen Green Deals bereits diskutiert wurde, der Übergang zu nachhaltigen Mobilitätsformen für jede und jeden nachvollziehbar sein sollte, der Druck auf den Frankfurter Wohnungsmarkt eklatant hoch ist? Die Heddernheimer bezeichneten ihre Tankstelle als eine der „tragenden Säulen des Heddernheimer Gemeindewesen“. Was aber macht die Bedeutung von Tankstellen für die lokale Bevölkerungen eigentlich aus? Handelt es sich bei Tankstellen um einen urbanen Sozialraum, der allmählich verschwindet?

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Geschlossene Tankstelle in Frankfurt. (Bild: Marie Luisa Jünger)

Immer weniger Großstadttankstellen

Bis zum Jahr 2030 werden circa 33 Prozent der Tankstellen in Großstädten außer Betrieb genommen (2). Dies lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen: Die Zulassungen von Elektrofahrzeugen sind in den letzten zehn Jahren von circa 3.000 pro Jahr auf circa 470.000 gestiegen (3) und durch den europäischen Green Deal wird die Trendkurve anhalten. Elektroautos können einfach dezentral aufgeladen werden, mit Elektroladesäulen in Parkhäusern, an Bürostandorten oder in der Nähe von Nahversorgungseinrichtungen lassen sich die Ladezeiten für andere Aktivitäten nutzen. Zusätzlich nimmt vor allem in Großstädten, begünstigt durch die Digitalisierung, die „intelligente Nutzung“ von Verkehrsmitteln zu. Seit 2013 stieg die Anzahl der Carsharing-Nutzer um 900 Prozent (4) und gerade bei den jungen Generationen ist die Sharing-Economy angekommen, und das Besitzen eines privaten Kraftfahrzeugs verliert immer mehr an persönlichem Wert (5). Nicht zuletzt nehmen bereits seit den 1990er Jahren alternative Mobilitätsformen wie das Radfahren oder die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs zu (6).

Zwar lassen die Bilder von Autos, die tagtäglich die Innenstädte verstopfen, einen kaum vorstellen, dass sich perspektivisch viel ändern wird. Das Handeln der großen Mineralölkonzerne macht jedoch Hoffnung, dass die klassische Mineralöltankstelle in nicht allzu ferner Zukunft einer autogerechten Vergangenheit angehören wird: Exxon Mobil, Betreiber der Esso-Tankstellen, und der französische Mineralölkonzern Total verkauften in den letzten Jahren ihre deutschen Tankstellennetze und beschränken sich seitdem auf die Belieferung mit Kraftstoffen. Aral und Shell setzen dagegen darauf, die Tankstellen an perspektivische Bedarfe anzupassen: Das Verkaufs- und Nutzungsangebot soll steigen. Aral möchte zudem Tankstellen mit Schnellladesäulen für E-Autos ausstatten. Allerdings ist das deutsche Stromnetz einem flächendeckenden Netz an Schnellladesäulen noch nicht gewachsen ist.

Die Faszination Tankstelle


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Tankstellen der Reichskraftsprit GmbH, Berlin (1927-1928), Perspektivische Ansicht Wärterhaus großer Typ, Hans Poelzig, 1927. (Public Domain, Architekturmuseum der TU Berlin)

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Elemente einer Tankstelle – bis heute kaum verändert. (
Grafik: Sabine Tastel)

Mineralöl-Tankstellen üben nicht nur auf die Heddernheimer eine Faszination aus. Architektonisch betrachtet ist dies schwer nachzuvollziehen. Seit die Mineralölkonzerne Anfang der 1980er Jahre, als Folge der globalen Ölkrisen, begannen, ihre Bauten zu rationalisieren, bestehen Tankstellen aus standardisierten Billigarchitekturen. Die Tankstellen der Vor- und Nachkriegsmoderne, die teilweise von Architekt:innen mit Weltruhm entworfen wurden – wie Arne Jacobsen, Peter Behrens, Mies van der Rohe – sind Relikte einer anderen Zeit. Heute ist die Architektur von Tankstellen auf der gesamten Welt gleich, ob sie im „Nirgendwo“ oder im hochverdichteten Stadtzentrum stehen: Ein kleiner Kubus als Verkaufsraum, davor ein großes ausladendes Dach, das sich zum Straßenraum hin öffnet, große Werbezeichen und auffällige Farben, die in der Nacht die Tankstelle in grelles Licht hüllen und zur leuchtenden Landmarke werden lassen.

Immer noch werden Tankstellen romantisiert und mit Worten wie Freiheit, Wanderlust, zufällige und unerwartete Begegnungen, nächtlicher Treffpunkt in Verbindung gebracht. Dass die Tankstelle zum Symbol für Fortschritt und Freiheit wurde, stammt aus einer Zeit, in der Mineralöl für die Allgemeinheit preiswert wurde und als unerschöpflich galt. In Filmen und der Literatur werden Tankstellen häufig als Kulissen für zufällige, unerwartete, aber auch explosive und kriminelle Begegnungen verwendet. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Kultfilm „Die Drei von der Tankstelle“, bei dem die Tankstelle zum zentralen Ort des Geschehens wird. Das Phänomen junger Erwachsener, die ihre Abende an Tankstellen verbringen, wurde 2004 von dem Fotografen Tobias Zielony in einer eindrucksvollen Fotoserie dokumentiert. Begleitende Texte des Verlegers Jan Wenzel untermalen die Bilder mit Aussagen der Jugendlichen, die die Tankstellen als verlässlichen Treffpunkt der lokalen Jugend beschreiben (7).

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Tankstelle, 2004 (Bild:
 Tobias Zielony )

Repräsentant einer globalen Megaindustrie

Aber es gibt auch eine andere, kritischere Sichtweise: Tankstellen repräsentieren die Gesichter einer globalen Megaindustrie, und hinter jedem auffällig leuchtenden Stadtbaustein steht ein Mineralölriese. Vor allem nach den beiden Weltkriegen, im Zuge des Wirtschaftswachstums, wurde Erdöl – und damit auch Benzin und Diesel – günstig gehalten, um einen dauerhaften Zugang für eine breite Gesellschaftsschicht zu ermöglichen. Zur gleichen Zeit – und in direkter Abhängigkeit – erlebte das Einfamilienhaus einen Boom. Dem konventionellen Bild entsprechenden Familien konnten sich nun ihr eigenes „Häuschen“ verwirklichen – mit dem PKW vor der Tür und der nächsten Tankstelle in der Nähe. Wenn man den Blick in die aktuelle Politik richtet, sind es die Anhänger autoritärer Regime (wie Donald Trump), die an diesem heteronormativ geprägten Familienbild festhalten. Und um dieses Bild stabil zu halten, bedarf es weiterhin billigen Treibstoffs an den Tankstellen und einer Verleugnung des Klimawandels. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Cara New Daggett bringt es in ihrem Buch „Petromaskulinität“ auf den Punkt, indem sie die Zusammenhänge zwischen der Mineralölindustrie, autoritären Systemen und heteronormativen Geschlechterrollen in Zusammenhang setzt (8).

Beobachtungen in Frankfurt am Main

Die theoretische Betrachtung stellt die Bedeutung der Tankstellen in ein unterschiedliches Licht. Um ein reales Gespür zu bekommen, ob es sich bei Tankstellen auch um urbane Sozialräume handelt, half mir eine Raumbeobachtung an einem konkreten Untersuchungsort: Als erste Fallstudie diente mir eine Frankfurter Tankstelle im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen-Süd, die mir möglichst repräsentativ erschien. In Frankfurt gab es zum Zeitpunkt der Erhebung 66 Tankstellen, die in Betrieb waren (9). Diese wurden über georeferenzierte Datensätze ermittelt und in ihrer Lage abgebildet. Die Tankstellen liegen über das gesamte Stadtgebiet verteilt und unterscheiden sich bezüglich ihrer umliegenden Bebauungsstruktur, Anbindung und Erreichbarkeit, Öffnungszeiten und Angebote.

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Inventur der Tankstellen in Frankfurt/Main. (Grafik: Sabine Tastel)

Bei der ausgewählten Tankstelle in Sachsenhausen-Süd handelt es sich um eine Aral-Tankstelle, die 24/7 geöffnet hat und eine breite Palette an Dienstleistungen anbietet – wie die meisten der Frankfurter Tankstellen. Neben dem klassischen Minisupermarkt verfügt sie über eine Autowaschanlage, mehrere Autopflegestationen, eine Reifenservicestation und eine DHL Paketstation. Die Tankstelle ist direkt bei der zentralen S-Bahnhaltestelle Lokalbahnhof gelegen und befindet sich somit in zentraler Stadtlage mit einer urbanen und bevölkerungsreichen Umgebung.

Ich führte nun zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten in einer warmen Woche im August 2022 Raumbeobachtungen entsprechend der Burano-Methode durch, die folgendes ergaben: Am Samstagnachmittag bei 33° Celsius Außentemperatur wurde der eigentliche Tankvorgang zur Nebentätigkeit. Die zentrale Aktivität bestand im ausgiebigen Waschen von Autos durch mehrheitlich männlich gelesene Personen. Trotz regen Treibens und Warteschlangen bei der Autodusche entstand keine Hektik auf dem Grundstück. „Männer“ unterbrachen ihren Putzvorgang, lehnten an ihren Autos und beobachteten das Geschehen. Neben dem ausgiebigen Waschen von Autos waren am Samstagnachmittag eine Vielzahl an Einzelaktivitäten zu beobachten, die der Multifunktionalität des Raumes gerecht wurden. Obwohl sich ein Discounter-Supermarkt auf dem direkt angrenzenden Grundstück befindet, kamen einige Personen zur Tankstelle, um sich dort im Shop zu versorgen, vermutlich, um lange Warteschlangen im Supermarkt zu vermeiden. Sonntagnacht wurde die Tankstelle, wie zu erwarten, zum Nahversorger. Personen kamen zu Fuß oder mit dem Auto, um sich im kleinen Tankstellenshop mit allerlei zu versorgen.

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Tankstelle in Sachsenhausen-Süd, an der die Raumbeobachtungen entstanden sind. (Bild: Sabine Tastel)

Die Aktivitäten am Sonntagvormittag waren vergleichbar mit denen am Samstagnachmittag, und die Tankstelle wurde zum multifunktionalen Mikrokosmos und zu einem Ort für eine Vielzahl an Erledigungen: Autos wurden betankt, gewaschen oder einfach nur geparkt, Pakete aus der DHL Paketbox geholt, Reifen von Autos und Zweirädern aufgepumpt oder kontrolliert, Kleinigkeiten im Shop gekauft, die öffentliche Toilette benutzt. Aber es kam auch zu einer überraschend hohen Dichte an Kommunikation: Männlich gelesene Personen standen, saßen, lehnten am Geländer, rauchten, nahmen ein Getränk zu sich, beobachteten das Geschehen und unterhielten sich. Dienstagnachmittags – sinnbildlich für einen Wochentag – wurde die Tankstelle zu klassischen Infrastrukturraum, denn der große Unterschied zu den anderen Zeitfenstern war jedoch, dass Personen kamen, ihrem Anliegen nachgingen und die Tankstelle wieder verließen. Die zwischenmenschliche Kommunikation spielte dabei keine Rolle.

 

Vom Sozialraum für den „Mann“ zum Sozialraum für Alle


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Raumbeobachtungen an der Aral-Tankstelle Sachsenhausen-Süd. (
Grafik: Sabine Tastel)

Die Raumbeobachtungen an einer Tankstelle geben nur einen limitierten Einblick in das „Leben“ an diesem Ort. Zwei Aspekte traten dabei trotzdem deutlich hervor: An den Wochenenden erfolgte zwar das Betanken von Fahrzeugen, doch dies wirkte beinahe wie eine Randaktivität – geprägt von einer gewissen Kommunikationsarmut und einem schnellen Ablauf von Ankommen, Tanken und Weiterfahren. Tätigkeiten, die in anderen, von Einfamilienhäusern dominierten Stadtteilen oft auf dem privaten Parkplatz oder im Vorgarten vollzogen werden, fanden hier an der städtischen Tankstelle ihren Platz. Das Autowaschen, die Reparatur von Fahrrädern oder das ungezwungene Plaudern mit Nachbarn aus dem Stadtquartier – all dies fand an der Tankstelle in einer entspannten Atmosphäre statt, geprägt von einer hohen sozialen Interaktion. Zugleich fiel jedoch auf, dass überwiegend männlich gelesene Personen präsent waren und die Tankstelle zu einem Sozialraum für den „Mann“ zu werden schien. Dies bestätigte Michelle Spinners Beschreibung in ihrem Artikel für die FNP, in der sie feststellte, dass es die „Großväter, Väter, Söhne und Enkel waren, die hier tankten oder sich mit kleinen Leckereien versorgten.“

Angesichts der sich abzeichnenden Perspektive, dass Tankstellen allmählich aus dem Stadtbild verschwinden könnten und das Waschen von Elektroautos vermehrt in große Waschstraßen am Stadtrand verlegt wird, bleibt dennoch der Wunsch, dass die eine oder andere Tankstelle als informeller Begegnungsort in der Stadt erhalten bleibt – jedoch ohne Verbindung zu den großen Mineralölunternehmen und unbedingt als Sozialraum für Alle.

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Hang in Hang Out (Grafik: Thomas Rustemeyer auf Grundlage von Ariane Kuntzsch, Uni Kassel)


(1) Spillner, Michelle: „Geschockt“ und „traurig“: Traditions-Tankstelle in Frankfurt macht dicht. In: Frankfurter Neue Presse, 15.01.2022.
(2) Rettich, Stefan / Tastel, Sabine (2022): Modellannahmen für Hamburg. https://obsolete-stadt.net/wpcontent/uploads/2022/09/03_Hamburg_Modellannahmen_220808.pdf (letzter Zugriff am 08.09.2023).
(3) KBA (2024): Anzahl der Neuzulassungen von Elektroautos in Deutschland von 2003 bis Januar 2024. In: Statista. Statista GmbH. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/244000/umfrage/neuzulassungen-von-elektroautos-in-deutschland/ (letzter Zugriff am 21.02.2024).
(4) Bundesverband CarSharing (2023): Anzahl registrierter Carsharing-Nutzer in Deutschland von 2013 bis 2023. In: Statista. Statista GmbH. https://de-1statista-1com-196zxkc1g2fda.han.ub.uni-kassel.de/statistik/daten/studie/324692/umfrage/carsharing-nutzer-in-deutschland/ (letzter Zugriff am 11.09.2023).
(5) Zukunftsinstitut GmbH; Ford-Werke GmbH : Mobility-Zeitgeiststudie-Studie 2020. Die mobile Generation Z. https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Auftragsstudien/Ford_Mobility_Zeitgeist_Studie_2020-Zukunftsinstitut.pdf (letzter Zugriff am 08.09.2023).
(6) Ahrens Gerd-Axel (2011): Zur Zukunft von Mobilität und Verkehr. Auswertung wissenschaftlicher Grunddaten, Erwartungen und abgeleiteter Perspektiven des Verkehrswesens in Deutschland. Forschungsbericht FE-Nr. 96.0957/2010 TU Dresden, Verkehrs- und Infrastrukturplanung, S.20 ff.
(7) Oswalt, Philipp (2004): Schrumpfende Städte / Shrinking Cities. Berlin: Hatje Cantz, 582 f.
(8) Dagett, Cara New (2023): Petromaskulinität. Fossile Energieträger und autoritäres Begehren. Berlin: Matthes & Seitz. (Übers. David Frühauf)
(9) OpenStreetMap Mitwirkende (2021): Open Street Map. Open Data Commons Open Database-Lizenz (ODbL). https://www.openstreetmap.org/ – map=7/49.493/14.183 (letzter Zugriff am 21.02.2024).