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Die separierte Stadt

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Bild aus dem besprochenen Band. © Michael von Graffenried

Das Alltägliche jenseits des Alltäglichen – wie ein Fotobuch eine Kraft entfalten kann, die über das hinausgeht, was man über dessen Bilder sagen kann.

Seit einiger Zeit erscheinen immer öfter Fotobücher, die sich ganz auf die Kraft der Bilder verlassen. So auch bei Michael von Graffenrieds neuem Band „Our Town“. Kein begleitender Text führt in das Werk ein, nur eine kurze Vorbemerkung erlaubt sich der Fotograf: „The small town of New Bern is situated in North Carolina with a population of 30,000, conspicuously composed of 55% white and 35% black citizens. The city was named after Bern, Switzerland, and today stands where the Bernese Christoph von Graffenried began building the first houses in 1710 at the confluence of the Neuse and Trent rivers.”

Und weiter: “In June 2020, following the killing of George Floyd, the largest demonstration New Bern hat ever seen took place on Broad Street, parallel to many Black Lives Matter protests throughout the country and marking the first time the issue of black-white race relations had been thus proclaimed in the city. Our Town shows everyday life over a period of 15 years in this rather separated city.”

Der einzige Text in diesem in Leinen gebundenen Buch wird hier komplett wiedergegeben, weil man tatsächlich kaum mehr über die gezeigten Panoramabilder wissen muss. Sie alle werden auf 240 Seiten immer über eine Doppelseite im Querformat präsentiert. Es sind also 120 Bilder zu sehen. Ein weißer Rand sorgt für eine strenge Rahmung der glänzend gedruckten Bilder. Der Schweizer Fotograf Michael von Graffenried begann schon früh mit der Panorama-Fotografie, dokumentierte etwa das Alltagsleben in Algerien, ein Nudistenzentrum der Schweiz oder in seinem Buch „Bierfest“ auch das Oktoberfest in München: Unterschiedlicher geht’s thematisch wohl kaum.

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Bild aus dem besprochenen Band. © Michael von Graffenrieds

Oft sind Graffenrieds fotografische Projekte auf mehrere Jahre ausgelegt, so auch hier, in New Bern, in der Stadt, die sein Vorfahre 1710 gegründet hat. 15 Jahre hat er in New Bern immer wieder fotografiert. Er beginnt sein Buch mit der Fotografie einer Baseball-Mannschaft, die von der Bank aus das laufende Spiel betrachtet. Die nächste Doppelseite zeigt zwei Männer im Fonds eines Autos – einer davon ist gerade dabei, sich eine Krawatte zu binden. Der andere, ein Polizist, lächelt überaus freundlich in die Kamera.

So geht es weiter mit den Farbfotografien und eingestreuten Schwarzweißaufnahmen: Schwimmer am Rand eines Pools, Soldaten bei einer Übung im Schwimmbad, die Festnahme eines Mannes, eine schwarze Stipperin vor einem weißen Mann mit sehr kurz rasierten Haaren. Eine schwarze Kirchengemeinde, junge weiße Mädchen beim Üben mit Waffen, schwarze Männer, die auf der Straße Geld tauschen, ein weißes Paar mit seiner Waffensammlung. Eine Flagge mit dem Stadtwappen, dem Berner Bär.

Es sind ganz alltägliche Szenen aus den USA, die Graffenried hier versammelt – und dennoch geht ein Sog von ihnen aus, der sie aus dem Alltäglichen heraushebt. Das Thema des Rassismus ist präsent, doch unterschwellig. Und gerade in dieser unterschwelligen Präsenz liegt die Kraft der seit 2006 entstehenden Bilder, die uns tief ins Leben der Menschen, in ihr Gefühlsleben blicken lassen. Die Konflikte werden vor allem in der Trennung von schwarz und weiß augenfällig: Ganz selten finden Weiße und Schwarze in dieser Welt zusammen. Selbst in dem kleinen Ort im bible belt, wo doch die Religion sie einen könnte, scheinen sie sich nicht zu treffen. Die Welten der Weißen und Schwarzen, sie sind in New Bern zumeist streng getrennt.

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Black New Bern. Bild aus dem besprochenen Band. © Michael von Graffenrieds

Graffenrieds Bilder haben in New Bern eine Diskussion darüber ausgelöst, ob das, was er zeigt, denn bildwürdig ist. Denn auch wenn er sich nicht darauf fokussiert, so offenbaren manche der Arbeiten doch auch die Abgründe, die dunklen Seiten des US-Alltags: Eine junge weiße Frau schießt mit einer Pumpgun. Ein schwarzer Mann in Handschellen ist nur von hinten zu sehen. Die Polizei fährt mit Motorrädern durch die schwarze Nachbarschaft.

Graffenrieds Bilder sind auch Dokumente einer gesellschaftlichen Spaltung, deren Demarkationslinien in diesem Buch wie unter einem Mikroskop sichtbar werden. Dass Graffenried diesen Umstand dennoch nicht offensichtlich zum Hauptinhalt des Buches macht: umso besser. Warum diese Bilder? Graffenried hat sehr lakonisch auf diese Frage geantwortet: „Meine Aufgabe ist nicht, der Stadt dabei zu helfen, vorwärtszukommen … Meine Bilder lösen hoffentlich in einem lahmen Hirn den einen oder anderen zusätzlichen Gedanken aus, das ist meine künstlerische Existenzberechtigung.“

Die Panoramafotografie mit ihrem erweitertem Blickwinkel und dadurch höherem Informationsgehalt ist ähnlich wie die Perspektive aus der Luft womöglich ein besonders geeignetes Mittel, ins produktive Nachdenken über gesellschaftliche Fragen zu kommen, denn hier wird besonders deutlich, was Vilém Flusser für die Fotografie allgemein festgestellt hat: Wenn unser Blick über die jeweils zwei Seiten, über die breiten Panoramen schweift, so wird hier nicht historische Linearität, Ursache und Folge deutlich, sehr wohl aber eine substanzielle Verbundenheit all derer, die hier, in „Our Town“ zu sehen sind.


2145_KF_Graffenried_CoverMichael von Graffenried: Our Town. 240 Seiten, 120 Abbildungen, 30,5 x 24 cm, 45 Euro
Steidl Verlag, 2021. Weitere Information >>>