Zehn und mehr Jahre Vorlaufzeit sind im öffentlichen Bauwesen nicht ungewöhnlich. Dumm nur, wenn in diesen Zeitraum ein echter Paradigmenwechsel fällt. Und auf einmal ist Eile geboten, um zu retten, was gerettet werden muss. Es steht Spitz‘ auf Knopf, die Frist endet am 3. September!
Wenn ein altehrwürdiger Verband wie der BDA, in den überwiegend freischaffende Architektinnen und Architekten aufgrund beruflicher Verdienste berufen werden und den daher immer noch ein wenig die Aura handgebundener Fliegen umweht, wenn ein solcher Verband in seinem Manifest „Das Haus der Erde“ (2019) zu zivilem Ungehorsam aufruft , dann muss etwas passiert sein. Wir nennen es die Bauwende.
Projekte, die seither nicht an die keineswegs neuen, aber nun plötzlich ernstzunehmenden Rahmenbedingungen, die die Klimaschädigung setzt, angepasst wurden, wirken auf einmal hoffnungslos aus der Zeit gefallen.
Neubau? Aus der Zeit gestürzt!
Eines dieser Projekte ist der Neubau des Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadions in Berlin, das schon mehrfach Thema in marlowes war – siehe Seitenspalte. Eine recht brachiale Machbarkeitsstudie propagierte 2014 den Abriss des bestehenden Stadions von 1951 inklusive der Haupttribüne von 1987 zugunsten eines „Leuchtturmprojekts des Inklusionssports“, ohne die Möglichkeiten eines Um- und Weiterbaus geprüft zu haben. In fahrlässiger Weise wurde auch fortan nicht zwischen Sanierung und Umbau unterschieden und der zunehmende Sanierungsstau sowie einige hanebüchene Behauptungen dienten als Begründung, warum Abriss und Ersatzneubau alternativlos seien.
Auf Betreiben der 2020 gegründeten Bürgerinitiative Jahnsportpark und mit Unterstützung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, beide damals noch Regierungsparteien in Berlin, sowie – siehe oben – des BDA und der Architektenkammer wendete sich manches zum Besseren. Es gab ein Werkstattverfahren mit Bürgerbeteiligung zur Untersuchung von drei Planungsvarianten, die Einsicht, dass es für ein Fußballstadion mit 20.000 Sitzplätzen mitten im Wohngebiet wohl doch eines Bebauungsplans bedürfe, und die Durchführung eines interdisziplinären Planungswettbewerbs. Zwei Geburtsfehler des Projekts, die vorzeitige Fixierung auf Abriss und Neubau sowie das überdimensionierte Bedarfsprogramm, ließen sich nicht mehr korrigieren. Im Wettbewerb wurde die Integration des Bestandsbaus zwar als Möglichkeit zugelassen, blieb textlich jedoch als eher unerwünscht erkennbar und wurde durch das Fehlen brauchbarer Bestandspläne nicht gerade gefördert.
Jetzt befindet sich das Projekt in einer entscheidenden Spielphase. Abpfiff oder Verlängerung? Vielleicht gar ein Rückspiel?
Frist: 3. September
Bis zum 3. September können Angebote für den „konstruktiven Rückbau Tribünen- und Nebengebäude, Gegentribüne und Wallaufbauten“ abgegeben werden. Gleichzeitig läuft eine von Prof. Tuczek von der FH Erfurt initiierte WeAct-Petition mit sehr prominenten Erstunterzeichnern, darunter der Pritzker-Preisträger Jean-Philippe Vassal und die kürzlich mit dem International Booker Price ausgezeichnete Autorin Jenny Erpenbeck. Die Petition hat in weniger als drei Wochen über 10.000 Unterschriften eingesammelt und macht einige Furore, denn der Berliner Finanzsenator steht vor der nicht ganz einfachen Aufgabe allein im kommenden Jahr rund drei Milliarden Euro einsparen zu müssen. Da kommt alles auf den Prüfstand, sogar die bereits laufende Sanierung und Erweiterung der überaus erfolgreichen Komischen Oper.
Weniger erfolgreich sind die Berliner Fußballvereine. Wozu also das Ganze? Kann das Projekt auf einige der drängenden Fragen unserer Zeit – Klima und Ressourcen, Haushalt, Verkehr – eine vernünftige Antwort geben?
In der angeblichen Stadionruine gastierte kürzlich der Fußballbundesligist FC Augsburg, der bis vor ein paar Jahren in einem ebenfalls 1951 errichteten und ebenfalls in einen Trümmerschuttwall eingebetteten Stadion spielte. Die Rosenau wurde jedoch nicht abgerissen, sondern steht heute unter Denkmalschutz, der FC Augsburg verfügt über ein neues Stadion an anderer Stelle.
Was ganz nebenbei die Frage aufwirft, welches Gesamtkonzept der Berliner Senat verfolgt, wenn Hertha BSC irgendwann den lange gehegten Wunsch nach einem reinen Fußballstadion realisiert. Was passiert dann mit dem Olympiastadion, und wofür braucht es im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ein Fußball-Leichtathletik-Stadion mit 20.000 Plätzen?
Dessen Kosten sind übrigens, Stand Entwurfsplanung, von 97 Mio. € auf schlappe 167 Mio. € gestiegen, die Gesamtkosten des Leuchtturm-Projekts von 171 Mio. € auf 307 Mio. €. Nur zu verständlich, dass der Berliner Finanzsenator diese Woche in einem Interview meinte: „Um es klar zu sagen: Es ist jetzt nicht die Zeit für Leuchttürme.“ Der Initiator der Petition, so ist anzunehmen, freut sich unterdessen über weitere Mitzeichner:innen zur Ermutigung des Senators.
[1] https://www.bda-bund.de/2019/08/das-haus-der-erde_bda-position/
[3] https://weact.campact.de/petitions/kein-abriss-des-friedrich-ludwig-jahn-stadions-1