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Ergänzend zur Analyse der Dekanonisierung der Baugeschichte lohnt der Blick auf eine andere Quelle des bauhistorischen Wissens: In den – teils regionalen – Kunstführern wird seit Jahrhunderten vermittelt, was Fachleute und interessierte Laien anschauen sollten. Es sind darin keine Baugeschichten, die zusammengetragen werden. Vielmehr bedienen sich die AutorInnen einer eigenen Sprache, als gelte es, die zur Ruhe gekommene Architektur zum Leben zu erwecken: mit einer Art Hagiographie der Baukunst.


Für Architekten sind Bau- und Kunstführer obligatorische Reisebegleiter. Sie vertrauen auf Goethes Merksatz: „Man sieht nur, was man weiß.“ Gleichzeitig bedauert der Architekturinteressierte, dass die Herausgeber Baukunst erst inventarisieren, wenn sie so gut abgelagert ist, dass sich kein Zeitgenosse mehr an ihre Entstehung erinnern kann. Karljosef Schattner hatte bereits 25 Jahre sehr erfolgreich gebaut und war mit Preisen ausgezeichnet, aber in den Neuauflagen besagter Fachliteratur blieb er beim Lemma „Eichstätt“ unerwähnt.

Jetzt fahren wir nach Hohenlohe, das ist die Region im Nordosten Baden-Württembergs und dem bayrischen Franken. Drei Bücher sind mit im Gepäck.1) Es verspricht eine Bildungsreise zu werden. Kein Ort, der nicht wenigstens ein paar Meter mittelalterliche Stadtmauer, ein Schloss, ein Kloster oder eine sehenswerte Kirche zwischen Gotik und Barock aufzuweisen hat. Unsere Literatur spornt an, wir kennen das gut, mit klammen Fingern an einem Beichtstuhl zu lehnen und sich beim Licht einer Opferkerze durch die vom Nieselregen getauften Buchseiten zu blättern. Vielleicht sind diese Kunstführer eher für die Daheimgebliebenen gedacht? Oder zur Vor- und Nachbereitung einer Reise?

Theaterdonner

Georg Dehio (1850-1932) Aufnahme von 1892 im Album der Professoren der Kaiser-Wilhelms-Universitaet Strassburg. - Strassburg: Kaiser-Wilhelms-Universitaet, 1872-1896, pl. 155; NBI 1 (Wiki gemeinfrei)

Georg Dehio (1850-1932) Aufnahme von 1892 im Album der Professoren der Kaiser-Wilhelms-Universitaet Strassburg. – Strassburg: Kaiser-Wilhelms-Universitaet, 1872-1896, pl. 155; NBI 1 (Wiki gemeinfrei)

Die Texte lesen sich, als würde man einer Theateraufführung beiwohnen. Im „Dehio“ wird uns das Kloster Schöntal so vorgestellt: „Im heutigen Zustand das Musterbild einer in Reichtum und Behagen sich sonnenden Abtei der Barockzeit; die dem Betrachter zunächst entgegentretenden weitgestreckten Außenbauten 16. und 17. Jh…“ Erzählton und Telegrammstil wechseln sich ab, einmal dient das Verb dazu, Leben in die zu Denkmälern erstarrte Materie zu bringen, andermal soll die knappe Inventarisation reichen. Aber es überwiegt eine schwelgerische Plüschigkeit.

In den „Belser Kunstwanderungen“ heißt es zur „Kleinresidenz“ Weikersheim: „Alte Häuser aus der Renaissance- und Barockzeit stehen an den engen gewundenen Gassen wie an dem geräumigen Marktplatz, der Schloss und Kirche verbindet und in behaglicher Weise eine bescheidene Monumentalität entfaltet.“ Man sucht bei dieser Expertise unvermeidlich nach einem Gasthaus, weil einem nach Rostbraten, Spätzlen und einem Viertele Trollinger zumute ist. Zum Schloss, als dessen Baumeister „wohl“ Georg Robin gilt, wird eine romantische Staffage ausgeschnitten: „Märchenhaft das Bild dieses stillen Innenhofs mit dem Brunnen in der Mitte, dessen Rokokosäule von Moos und Kräutern umhüllt ist.“

In diesem Kunstführer ist Ochsenfurt natürlich nicht zu finden, aber die Reclam-Führer sehen als Buchreihe gleich aus. (Bild: Ursula Baus)

In diesem Kunstführer ist Ochsenfurt natürlich nicht zu finden, aber die Reclam-Führer sind als Buchreihe gleich strukturiert und gestaltet. (Bild: Ursula Baus)

Auch Reclam steht um nichts nach. Dort wird Ochsenfurt mit einem heute ungebräuchlichen Superlativ ausgezeichnet: „Das Rathaus, breit gegen den Markt gestellt, 2 der dem Markt von O her zustrebenden Gassen an seinen Schmalseiten vorbeilassend, ist eines der rühmlichsten in Franken.“ Diese grammatische Volte wird uns noch öfter begegnen: Partizipien, die entweder die Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen oder eine abgeschlossene Tatsache festhalten. Selbst die Leserin kann mit dieser Konstruktion einbezogen werden. Spazieren wir durch Rothenburg ob der Tauber, könnten wir wie folgt erfasst werden: „Der die Obere Schmiedgasse Heraufkommende ergreift die große vielteilige schmuckreiche Masse des Rathauses, stößt aber zugleich auch schon, an den beiden Giebelstirnen vorbei, in die Herrngasse vor, die ihrem Namen fast Haus für Haus – stattliche selbstbewusste Häuser, und doch kaum je mehr bietend als das vom Zweck Geforderte – Ehre macht.“ Huch, da ist was los – und alles ohne Navi! Heute würde man gendertreu lieber den Plural bemühen, weil dann die Heraufkommenden Frauen und Männer sein könnten, obwohl man bei den schmalen Gassen besser einzeln und hintereinander laufen sollte.

Reiselust

Nun, von Architekturkritik sind diese erzählenden Blickführungen weit entfernt. Die Beschreibungen stellen fest, was als gesichert gilt, und nicht in Frage. Und tatsächlich ist es auch kein schlechter Ansatz, anstelle toter Adjektive die Bauwerke selbst als Handelnde mitwirken zu lassen. Vielleicht gehört es sogar dazu, wenn man sich mit Baudenkmälern beschäftigt, dass einem die Sprache wie aus einem anderen Jahrhundert vorkommt. Die Lektüre der verschwurbelten Betrachtungen verstärkt die Ausnahmesituation des Reisens. Ein Blick in den Baukunstführer und man kann es spüren: Wir sind wieder unterwegs.


1) „Klassiker“ fachbezogener Reiseliteratur, die über den Baedeker hinausgehen:
> Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Baden-Württemberg. Bearbeitet von Friedrich Piel. München 1964
> Belser Kunstwanderungen in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 19795;
> Reclams Kunstführer Deutschland Band I,2. Bayern Nord. Franken, Oberpfalz. Von Alexander von Reitzenstein und Herbert Brunner. Stuttgart 1983