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Immer was zu tun, immer was zu sehen

2506_KF_RezTitel

Das weite und unerschöpfliche Feld der Stadt bietet regelmäßig Stoff für immer wieder neue, erhellende und inspirierende Publikationen. Drei Neuerscheinungen befassen sich mit dem Wohnen, einem Meilenstein des Nachkriegsstädtebaus und der Faszination Barcelonas

2506_KF_CoverWohnen

Carolin Genz, Olaf Schnur. Jürgen Aring (Hg.: WohnWissen. 100 Begriffe des Wohnens. 336 Seiten, 17 × 24 cm, 80 farbige Abbildungen, 38 Euro
Jovis Verlag, Berlin, 2024

„100 Begriffe des Wohnens“ verspricht einen Einstieg und einen Überblick über aktuelle Diskurse – und löst diesen Anspruch auch dadurch ein, dass die Zusammenstellung der Begriffe eine erfrischende Unkonventionalität an den Tag legt. Hier geht es nicht um Kategorienschärfe, objektive Distanz oder eine wie auch immer verstandene Neutralität. Es finden sich unter den hundert ausgewählten Begriffen solche wie „Solidarität“ und „Klimagerechtigkeit“, „Mieterproteste“, „Housing first“ oder „Leerstandsmelder“, Begriffe also, die das Wohnen als ein umkämpftes Feld sichtbar machen – hier eindeutig aus der Sicht von denen, die unter steigenden Preise und dem privatisierten Markt leiden. „Flucht“, „Geldwäsche“, „Obdachlosigkeit“: Die gesamtgesellschaftliche Relevanz wird in einer vielfach aufgefächerten Maßstäblichkeit abgebildet. Man findet Texte zu Initiativen wie dem „Bündnis Bodenwende“; das „Netzwerk Immovielien“ ist ebenso vertreten wie relativ neue Marktakteure, etwa das Mietshäusersyndikat. Dafür wurde auf schon lange präsente Bündnisse wie den Deutschen Mieterbund oder den Verein Haus & Grund verzichtet.

Um Geschichte, Grundrisse, Konstruktion oder Ästhetik geht es nicht, die Auswahl der Begriffe ist stark aus der Perspektive der Sozialwissenschaften und der Geographie bestimmt. Das ist mehr als zulässig: Man kann dieses komplexe Thema nur mit einer beherzten Fokussierung auf ein verdauliches Maß bringen; die Chance wird genutzt, mit verwandten Begriffen („Care“ und „Sorgetragen“ , „Gentrifizierung“ und „Verdrängung“ etwa) auch die Tiefe und Differenzierung des Diskurses zu sichtbar zu machen. Von Expert:innen verfasst, sind die breit gefächerten Informationen dank der Kürze der Beiträge gut zu bewältigen – jedem Begriff wurde in der Regel eine Seite gewidmet. Verweise auf jeweils wenige Schlüsselpublikationen helfen denen, die sich thematisch weiter in eine Richtung vertiefen wollen. Dazu kommt eine Gestaltung, die den Verdacht einer altväterlichen Gelehrigkeit schnell vertreibt; sieben Fotoserien erweitern zudem den Gedankenraum mit künstlerischen Mitteln.

Ein wenig Kritik scheint dennoch angebracht: Die bau- und immobilienwirtschaftlichen Perspektiven sind schwach vertreten, Begriffe wie „Abschreibung“, „Baukosten“, „Pensionsfond“ oder „Rendite“ fehlen – und das soll hier nicht vermerkt werden, weil es wohl jedem einigermaßen mit dem Diskurs vertrauten gelingen wird, Lücken auszumachen. Es ist wohl eher Teil der Qualität dieses Glossars, den Mut zur Lücke aufgebracht zu haben. Warum aber das Wohnen so teuer geworden ist, lässt sich vielleicht doch nur verstehen, wenn man auch die Denkweisen derer einbezieht, die mit dem Wohnen verdienen oder es zumindest wollen.



2506_KF_CoverMagistrale

Irma Leinauer: Magistrale der Moderne. Das Wohngebiet an der Karl-Marx-Allee im Zentrum von Berlin, Planungs- und Baugeschichte. 600 Seiten, 22 x 28 cm, 500 teils fabrige Abbildungen, 60 Euro
Lukas Verlag, Berlin, 2023

Einem der wichtigsten Zeugnisse des Wohnungsbaus aus der DDR ist die Dissertation von Irma Leinauer gewidmet: den Wohngebieten nördlich und südlich der Karl-Marx-Allee in Berlin. Sie firmieren als der zweite Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee, der 1959 begonnen wurde und sich dezidiert von den Leitbildern des ersten abhebt, den Bruch mit diesen Leitbildern demonstrativ und damit auch repräsentativ vollzieht. Keine vermeintlich nationalen Traditionen, kein eklektizistischer Monumentalklassizismus mehr, sondern rationale Planung, offene Raumstrukturen, sichtbar industrialisierte Produktion, großzügige Freiräume. Zu den großstädtischen Bauten wie dem Restaurant Café Moskau oder dem Hotel Berolina tritt vor allem ein innerstädtisches Wohngebiet, das als Musterbeispiel moderner Planung und als Meilenstein des modernen Städtebaus gelten muss und gelten sollte.

Sehr genau und umfangreich vollzieht Leinauer nach, wie sich Entscheidungsfindung und -strukturen entwickelten, wie Vorgaben erarbeitet wurden. Sehr detailliert wird auf die einzelnen Phasen, Fachplanungen und den Bau eingegangen, die einzelnen Gebäude werden eingehend vorgestellt. Es wird ausgebreitet, wie ein Wettbewerb durchgeführt wurde, der keinen offiziellen Sieger fand. Statt dessen wurden im wesentlichen zwei der Wettbewerbsarbeiten weiterentwickelt. Die Autorin macht sichtbar, welche Zwänge sich daraus ergaben, den ersten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee nicht in Frage stellen zu können oder zu dürfen und sich dennoch von dieser Architektur abzuwenden. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die ideologische Vorgabe, die Planung der Lebensbereiche „nicht einem freien Markt mit zersplitterten Entscheidungskompetenzen zu überlassen“ zu Beeinträchtigkungen führte, da die starre Vorstellungen der Planung die für den Alltag wichtigen kleinteiligen Versorgungsstrukturen wie Läden nicht mehr zuließ. Hier mit der Kritik anzusetzen und über eine Weiterentwicklung nachzudenken, wäre dem Wert dieses Erbes angemessener als die pauschalen Kritiken und vorurteilsbesetzte Bilder vom vermeintlich richtigen Städtebau, dem dieses Gebiet nicht gerecht wird, wie sie so vielfach nach 1990 geäußert wurde und im abschließenden Kapitel dargestellt werden.

Dass die Berichte über die Rezeption nach 1990 im Jahr 2010 abbricht, hat einen einfachen Grund: Die Dissertation wurde bereits 2011 abgeschlossen, sie zu veröffentlichen war offensichtlich nicht einfach. Die Empfehlungen der Autorin, wie mit dem Erbe nun um zugehen sei, sind daher nicht mehr ganz aktuell – sie sind aber auch nicht Kern der Arbeit. Hier gibt es die Möglichkeit, exemplarisch tief Planungsgeschichte und Neuorientierung des DDR-Städtebaus einsteigen. Auch wenn es mehr als zehn Jahre gedauert hat, ist es deswegen gut, dass die Dissertation nun als Buch vorliegt.



2506_KF_CoverLameba

Ronald Grätz (Hg.): Lameba. Mein Barcelona. Mit zahlreichen Fotos von Bennett Encke, Peter Knaup, Werner Lorke, Walter Schels. Dt./katal./span., 429 Seiten, 24,5 x 30 cm, 65 Euro
Edition ­Esefeld & Traub, Stuttgart 2024

Über Barcelona sind viele Bücher geschrieben und veröffentlicht worden. In der Edition Esefeld & Traub ist nun ein weiteres erschienen. Und auch wenn man die Stadt schon zu kennen meint, ist dieses Buch eine Einladung zu einer Reise, auf der neue Entdeckungen gemacht werden können. Wie schon andere Publikationen der Edition ist dieses von Roland Grätz herausgegebene Buch eine Mischung aus Bildband und Anthologie. Etwa 60 Personen haben auf meist einseitigen Kurztexten sich zu je „ihrem“ Barcelona geäußert: meist Intellektuelle, Kulturmenschen, tätig in den Bereichen Architektur, Geschichte, Literatur, Film, Musik, Journalismus. Aber auch ein Volkswirt und ein Politiker sind unter ihnen, so der bei uns sicher noch bekannte ehemalige Präsident der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont i Casamajó, der sich 2017/18 vergeblich um die Unabhängigkeit Kataloniens bemüht hatte.

In Zeiten von digitalen Bildersammlungen mag das Buch ein wenig anachronistisch wirken. Tatsächlich umweht es immer wieder die Aura der Melancholie, allein schon, weil es mit Bilderstrecken eröffnet wird, die aus der Vergangenheit kommen: Die erste ist die von Walter Schels, sie besteht aus Bildern, die 1958 gemacht wurden, aber erst in 70ern gedruckt wurden – da hatten die Negative schon Schäden genommen, die sich wie eine Patina über die Bilder legen. Die zweite ist die von Peter Knaup von 1972, die Bauten von einem der Großen der Stadt, Antoni Gaudí, zeigen. Die meisten Bilder aber sind aktuell, sie sind von Werner Lorke und Bennett Encke, 70 Jahre alt der eine, 28 der andere – sie zeigen die bekannten Seiten Barcelonas, aber auch den Alltag, Kurioses, Rätselhaftes, Panoramen und Close-Ups.

Gemeinsam mit den vielen Geschichten verweben sich die Fotos zu einem eigenen Konstrukt einer Stadt, zu vielfachen Überlagerungen von Tragödien und Glanzlichtern. Zu finden sind Texte über die Kindheit im frankistischen Spanien, als katalonisch nur im Privaten gesprochen werden durfte, von Straßen und Superblocks, von Miro und Messi. Verschwiegen wird nicht, dass sich im Klimanotstand, der Dürre, in der zunehmenden Gewalt eine schwere Zukunft andeutet. „Wir halten durch“, so heißt es trotzig bei Jordi Pascual; die Architektin Benetta Tagliabue hofft hingegen noch: „Mein Barcelona ist immer strahlend schön, auch in scheinbarem Verfall. Stets verschmilzt die vergangene Welt mit meinen Bildern und ich erinnere mich der Poesie altertümlicher Sänger, dass wir immer aus unserer eigenen Asche auferstehen.“ Acht per QR-Codes abrufbare Soundscapes vermitteln im virtuellen Raum akustisch einen Eindruck Barcelonas, auf den Internetseiten des Verlags sind neben Bildern aus dem Buch auch jene zu finden, die nicht aufgenommen werden konnten. So gewinnt die Melancholie doch nicht die Oberhand – das würde dieser außergewöhnlichen Stadt auch nicht gerecht.