
Volksparkstadion, Hamburg, MOS Architekten, 1998–2000. (Bild: Reinhard Kraasch, Wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0 de)
Stilkritik (135) | Wenn am 14. Juni die Fußball-Europameisterschaft der Männer beginnt, machen sich wieder annähernd 40 Millionen Bundestrainer und mutmaßlich deutlich weniger -trainerinnen auf, um ungefragt zu erklären, warum Julian Nagelsmann doch gut daran getan hätte, Mats Hummels mitzunehmen, was die Körperhaltung von Ilkay Gündogan angeblich mit Sieg und Niederlage zu tun hat und weshalb die Mannschaft, die nicht mehr „Die Mannschaft“ heißt, nach dem Auftaktsieg gegen Schottland nun wirklich Europameister und das Turnier ein Sommermärchen reloaded wird. Zeit also, einmal ungefragt jene Orte zu kommentieren, in denen ab Freitag für rund vier Wochen gekickt, gesungen und vielleicht sogar gefeiert wird.
Beruhigendes vorab: Die inzwischen vom ehemaligen Bayern-, Leipzig- und Hoffenheim-Trainer Julian Nagelsmann betreute deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer ist für die sogenannte „Heim-EM“ qualifiziert. Als Gastgeber automatisch. Wichtig nach dem miserablen Abschneiden bei der letzten Weltmeisterschaft in Qatar unter dem ehemaligen und künftigen FCB-Trainer Hansi Flick – Bayern oder Barcelona, Hauptsache Triple. Regenbogenbinde, Mund zu halten, Graugänse, wir erinnern uns: alles furchtbar. Jetzt dagegen: eitel Sonnenschein, wohin man schaut. Eine lang vermisste „Aufbruchstimmung“ wird allenthalben konstatiert, sogar von „alten print-Leuten“, wie dem 11-Freunde-Chefredakteur Philipp Köster. Mitverantwortlich dafür sind neben den überraschend frisch-eloquenten Auftritten des Bundestrainers und dem wohligen Gefühl, das Rudi Völler nicht nur, aber eben auch als Sportdirektor der Nationalmannschaft stets zu vermitteln vermag, auch clevere Marketing-Moves wie der viral gegangene Clip zur Vorstellung der neuen Trikots oder dem Adeln von Peter Schillings „Major Tom“ zur offiziellen Tor-Hymne, also jenem Lied, das im Stadion immer dann läuft, wenn das deutsche Team ein Tor erzielt hat.

Müngersdorfer Stadion, Köln, gmp, 2001–2004 (Bild: Raimond Spekking, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)
Fan-Kultur ≠ Baukultur
Fußball, das wird immer wieder klar, ist Teil eines tief im Herzen vieler Deutscher verankerten Kulturguts, mindestens aber die schönste Nebensache der Welt. Wie aber steht es abseits dieser Fußballkultur um die Baukultur jener Stätten, in denen 22 Männer einem Ball nachjagen und seit geraumer Zeit auch andere gewinnen und eben nicht immer die Deutschen, um einmal mehr Gary Lineker zu paraphrasieren?
Gespielt wird in Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Gelsenkirchen, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Stuttgart. Da in Berlin im Olympiastadion und in Hamburg im Volksparkstadion („Für mich wird es immer die AOL-Arena bleiben“, auch daran erinnern wir uns) gespielt wird, hält sich die Verteilung von Erst- und Zweitligastadien die Waage, und ein erstes schiedlich-friedliches 5:5-Unentschieden kann verzeichnet werden.
Bemerkenswert ist, dass sich in der Auswahl dieser Spielstätten verschiedene Probleme des hiesigen Männer-Fußballbetriebs manifestieren. Der Osten ist unterrepräsentiert: Geografisch liegen nur zwei Stadien im Osten des Landes, historisch ist das Berliner Olympiastadion als Heimstatt der dortigen Hertha jedoch ein West-Stadion. Nordrhein-Westfalen ist dagegen überrepräsentiert: Düsseldorf, Dortmund, Gelsenkirchen und Köln, für einen Gutteil des Turniers genügt das Deutschland-Ticket als Grundlage der eigenen Fortbewegung in der Theorie, dank ausbleibenden Deutschland-Taktes jedoch… aber lassen wir das.

Arena auf Schalke, Gelsenkirchen, Günter Kus, 1998–2001 (Bild: Walter Koch, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)
Blechdose mit Autobahnanschluss oder Ausdruck gewachsener Kultur
Interessanter ist hier die Frage nach der Architektur. Da reicht die Spanne von tatsächlich beeindruckenden Zeitzeugnissen, die Hand in Hand mit einer vor Ort gewachsenen Fan-Kultur Teil identitätsstiftender Baukultur sind, bis zu gesichtslosen Blechdosen mit Autobahnanschluss. Ihnen sieht man an, wie wenig bei ihrer Entstehung überhaupt über Stadtplanung und Architektur gesprochen wurde.
Die hier spielenden Fußballvereine sind mitunter ein ähnlicher Wirtschaftsfaktor für Städte und Kommunen wie die Präsenz großer Firmen. Entsprechenden Druck üben sie von Zeit zu Zeit auf die jeweiligen Stadtverwaltungen aus. Gestaltungssichernde Maßnahmen werden da als Hemmschuh begriffen und ausgehebelt, indem mit dem Wegzug in die Nachbargemeinde gedroht wird. So stehen Stadien wie die in Düsseldorf oder Gelsenkirchen – aber auch in Gladbach, Sinsheim und andernorts, wo im Rahmen der EM nicht gespielt wird – häufig in Bereichen der Stadt, in denen bestimmte Kriterien, die sonst die Güte eines Gebäudes wenigstens mit zu sichern versuchen, schlicht weniger gelten. Das Minimum eines Paragrafen 34 des Baugesetzbuchs sucht man in den Gewerbeparks dieses Landes wahlweise vergebens, oder man möchte sich bei dessen Anwendung ob des Bestands der näheren Umgebung resignierend abwenden: Die Baumärkte, Industriehallen, Waschparks, Discounter und Getränkemärkte an den Rändern unserer Ortschaften sehen überall gleich aus. Und die Stadien eben auch. Wo kein Ort ist, kann kein entsprechender Geist wehen. Wer erinnert sich schon an städtebauliche Wettbewerbe für den lokalen Gewerbepark? Statt auf einen guten Städtebau zu achten, geht es beim Stadienbau nach wie vor in erster Linie um die Anbindung an den Autoverkehr, sprich die Nähe zu einer Autobahnausfahrt.
Von links nach rechts: Westfalenstadion, Dortmund, 1971–1974, Erweiterungen 1995–1999 und 2002–2003 (Bild: Валерий Дед, Wikimedia commons, CC BY 3.0)
Stadion Düsseldorf, JSK, 2002–2004 (Bild: Peter Weihs, Wikimedia commons, CC BY-SA 4.0)
Neckarstadion, Stuttgart, zuletzt von asp Architekten 2022–2024 umgebaut nach nachzahlreichen vorhergehenden Um- und Ausbauten unter anderem durch Schlaich Bergermann und Partner und asp Architekten)
Paragraf 34 im Gewerbepark
Ein Stadion ist vermeintlich ein reiner Zweckbau: Schnell viele Leute reinbringen, das Spiel reibungslos möglich machen – mit allem drum und dran von Merch-Stand über Bratwurst hin zur Halbzeitpinkelpause – und dann die Leute schnell wieder herausbringen. All das soll möglichst wenig kosten, weil Bauen ohnehin teuer ist. Planung und Ausführung werden also auf ein Minimum heruntergebrochen. So mögen diese Bauten ihrem Zweck dienen, Atmosphäre und identitätsstiftende Merkmale, die ja meist auf bestimmten lokalen Eigenheiten beruhen, bleiben dabei jedoch auf der Strecke. Auch hier finden zu selten Wettbewerbe statt. Es gilt der gleiche Grund wie oben. Zeit ist Geld, und deswegen muss schnell gebaut werden, erst recht, wenn es bei laufendem Betrieb passieren soll. Statt also architektonisch auszuleuchten, was den heimischen Verein ausmacht, welche speziellen Eigenheiten sich im Stadion ausdrücken könnten und welche Rolle die Sportstätte im Stadtbild und für das Selbstverständnis des Ortes und des Vereins spielen könnte, geht es neben den Kosten meist nur um die Organisation von Fluchtwegen, um die Zeiten, die die Besuchenden für den Toilettengang brauchen und die daraus resultierende Mengen an eben diesen Toiletten – oder die schnelle und damit kostengünstige Konstruktionsweise. All das sind Kriterien, die es beim Bau eines Stadions ohne Zweifel zu berücksichtigen gilt; wenn „nur“ sie erfüllt sind, fehlt dem Stadion aber eben etwas. Man könnte es etwas pathetisch vielleicht Seele nennen. Dass sie fehlt, trägt zur Austauschbarkeit bei, die der UEFA bei der Organisation ihrer Turniere mutmaßlich mindestens entgegenkommt.
Sonderfall Dortmund

Zentralstadion, Leipzig, Wirth+Wirth Glöckner Architekten, 2000–2004 (Bild: Markus Unger, Wikimedia Commons, CC BY 2.5)

Olympiastadion, Berlin, Werner March, 1934–1936, Umbau durch gmp 2000–2004 (Bild: Martijn Mureau, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Waldstadion, Frankfurt am Main, gmp, 2002–2005 (Bild: Arne Müseler, Wikimedia commons, CC BY-SA 3.0 de)
In Leipzig wird klar, wie gut der moderne Fußball als Konstrukt und Produkt funktionieren kann, wenn alles hochgradig professionell betreut, aufgezogen und umgesetzt wird, und wie wenig Seele ein historisch derart spannender Ort wie das alte Zentralstadion, das den Neubau umhegt, in Zeiten von global agierenden Brause-Imperien dann doch haben kann. Anders dagegen der Finalort, das Berliner Olympia-Stadion, das gmp vor nunmehr zwanzig Jahren aus seiner zugigen Nazi-Steinschüsselhaftigkeit erweckt haben: ein historisch hochgradig fragiler Ort mit allen Problemen deutscher Geschichtsschreibung, durch saubere und vorsichtige Interventionen in ein Stadion verwandelt, an dem mit Blick auf das Spielerlebnis eigentlich nur die Laufbahn stört, die dafür aber erheblich.
Mit dem Westfalen-Stadion in Dortmund findet sich im Reigen der Stadien eine jener merkwürdigen Spielstätten, die im klassischen Sinne nicht schön sind, als mit dem Amalgam der Zeit gewachsener Ort dennoch atmosphärisch gut funktionieren. Da es während eines von der UEFA ausgerichteten Turniers keine Stehplätze geben darf, passen jetzt nur 61.524 Zuschauende ins Stadion, das sonst allein auf „der Süd“ mehr Menschen fasst als das ganze Stadion des FC Heidenheim.
Mit dem von Herzog & de Meuron entworfenen Stadion in München findet sich ein offenkundiges Design-Objekt im illustren Kreis der EM-Stadien: vielfach besprochen, immer wieder publiziert auch in Fachzeitschriften und blogs. In Stuttgart ist es gelungen, das Stadion im laufenden Betrieb umzubauen, die Laufbahn zu entfernen und so eine tradierte Sportstätte einem Update zu einem guten Fußballstadion zu unterziehen. Auch in Köln und Frankfurt merkt man zum einen, dass die Verantwortlichen des Büros gmp ihr Handwerk verstehen, dass steile Tribünen wichtig für die Atmosphäre in einem sehr guten Stadion und der angestammte Ort relevant für die Fan-Seele sind. Gleiches gilt übrigens auch für das Hamburger Volkspark-Stadion. Am Ende wird es wohl so sein, wie bei jeder guten Party: mit den richtigen Leuten ist es überall nett. Oder eben nicht. Baukultur hin oder her.