Marktgeschrei (26) | Verödende Innenstädte, leere Erdgeschosse in Einkaufstraßen – schon wird nach neuen Stadtkonzepten gerufen. Aber niemand appelliert an jene bequeme Konsumenten und knickerige Schnäppchenjäger, die im Internet zocken und sich über Leerstand in Innenstädten beklagen. Das frühere Haustürgeschäft ist dem Zustell-Service gewichen, der bequem ist und den Konsumenten leider (fast) nichts kostet.
Die Männer kamen in der Nachkriegszeit regelmäßig, Kindern waren sie ein wenig unheimlich. Sie hatten ein Glasauge, eine Lederhand oder ein Holzbein. Der mit der Beinprothese fuhr auf einem Fahrrad, das sich mit nur einem Pedal bewegen ließ. Es waren Hausierer. Ihre Waren transportierten sie in umgehängten Aktentaschen. Einer besaß einen Mantel, auf dem innenseitig sein Sortiment angebändselt war: Küchenmesser, Spülbürsten, Scheren, Kochlöffel. Manche Mütter kauften etwas, dankbar, wenn die eigene Familie den Krieg heil überstanden hatte. Andere Kriegsversehrte boten Postkarten („mit dem Munde gemalt“) oder Waren aus der Blindenanstalt an.
Handel an der Haustür
Solcher Handel war damals gang und gäbe. Einige Firmen machten ihren Umsatz nur mit ihren Außendienstmitarbeitern, „Vertreter“ nannte man sie geringschätzig. Sie steckten in hellen Sommeranzügen und trugen braune Schuhe mit Kreppsohlen. Sie fuhren einen Kombi und kamen meistens am frühen Vormittag oder nach der Essenszeit, wenn sie sicher sein konnten, die Hausfrauen alleine anzutreffen. Die waren ihre Zielgruppe, auf sie waren sie eingestellt. Immer höflich und zuvorkommend, zu einem Scherz aufgelegt und um keinen anerkennenden Kommentar verlegen: Schön haben Sie es hier, so möchte man wohnen. Meine Mutter nannten sie „gnädige Frau“. Sie wirkten wie Schauspieler, die ein Boulevardstück aufführten.
Was sie anzubieten hatten, waren elektrische Hausgeräte. Vor allem Staubsauger. In meiner Erinnerung kommt es mir vor, als hätten wir jedes Jahr einen neuen gekauft. Der Fortschritt bei der Entwicklung muss rasant gewesen sein. Die Vertreter beeindruckten meine Mutter mit konstruktivem Detailwissen, als erläuterten sie den Aufbau einer Bohrinsel. Wichtig war ihnen, auf die geradezu leichtsinnige Bauweise unseres alten Staubsaugers hinzuweisen. Damit wären in zwei, drei Jahren unsere Teppiche hin. Nun folgte der praktische Teil, zwei Männer in Schlips und Anzug, die in Nullkommanichts unser Wohnzimmer reinigten. Da konnte die gnädige Frau nicht widerstehen und kaufte das Teil.
Wohnen in der Outlet-Straße
Das liegt nun ein halbes Jahrhundert zurück. Aber der Haustürhandel blüht. Nur kommen keine Vertreter mehr, weil wir die Waren im Internet aussuchen und probehalber bestellen können. Der Corona-Virus hat diesen kontaktlosen Fernhandel unverschämt voran gebracht. Man braucht jetzt nicht einmal mehr etwas zu quittieren. Die Tüten und Kartons werden so großherzig verteilt, als handele es sich um Lotteriegewinne. Bis nachts um zehn sind die Lieferwagen unterwegs, wir wohnen inzwischen in einer Art Outlet-Straße. Weil die Nachbarn berufstätig sind, nehmen wir ihre Bestellungen entgegen und stapeln sie in unserer Diele. Das sollten Architekten bedenken, wir brauchen künftig andere Grundrisse und eigenes Mobiliar, um das tägliche Warenlager logistisch zu beherrschen.
Wenigstens kennen wir jetzt alle, die hier wohnen, wenn wir die Pakete tauschen.