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Kein Mensch muss müssen*


Marktgeschrei (5): Um Fehlentwicklungen nicht als abstrakte Angstmacherei im Diskussionsraum stehen zu lassen, empfiehlt sich immer wieder ein Blick in den Alltag. Zum Beispiel in der Eifel – genauer: in Gerolstein. Der knapp 8000-Seelen-Ort offenbart mustergültig die Konsequenzen wirtschaftlicher Fehlentscheidungen, die teils aus ihrer Zeit zu verstehen, aber teils auch wissentlich als falsch getroffen zu begreifen sind. Daraus ist zu lernen.


Vor eindrucksvoller Bergformation: Gerolstein mit der Erlöserkirche (Bild: wikipedia, A. Buchholz)

An der Kyll vor eindrucksvoller Bergformation: Gerolstein mit der Erlöserkirche (Bild: wikipedia, A. Buchholz)

Es war einmal …

Der Spätsommer taucht die Eifel in zauberhafte Laubfarben, und der topografisch wundervoll gelegene Ort Gerolstein, aus dem gesundes Sprudel-Wasser mit Lkws, Containern, Schiffen und Flugzeugen in alle Welt exportiert wird, zeigt sich in schönstem Lichte. Burg und Erlöserkirche – Sehenswürdigkeiten gibt es genug.  Auf unserer Reise mangelte es uns jedoch an Schreibpapier, und so wollten wir den Erwerb eines Notizbuches mit der Besichtigung des Ortes verbinden. Und wir wollten, einer gelegentlichen Neigung folgend, den Besuch mit der Einkehr in ein stolz geführtes Café-Haus krönen.

Zwischen Parkplatz und Hauptstraße: ein Mauseloch (Bild: Ursula Baus)

Zwischen Parkplatz und Hauptstraße: ein Mauseloch (Bild: Ursula Baus)

Die Hauptstraße ist keine Fußgängerzone, immerhin verkehrsberuhigt. Geparkt wird an der tiefer, an der Kyll gelegenen Bundesstraße. Von dort geht es durch eine unsagbar hässliche Passage zur Hauptstraße, in der sich einstmals wohl alles kaufen und erledigen ließ, was man im Alltag braucht. Allein: Hier offenbart sich eine dermaßen verödete Situation, dass es einem die Sprache verschlägt. Die Geschäfte stehen leer, die Gastronomie darbt, der Weg zur Burg ist notdürftig gepflegt – es liegt eigentlich alles im Argen.

In der Haupt (Einkaufs-)straße: Leerstand und Verwahrlosung (Bild: Ursula Baus)

In der Haupt (Einkaufs-)straße: Leerstand und Verwahrlosung (Bilder: Ursula Baus)

1740_SL_Gerolstein_Muell1740_SL_Gerolstein_PoseidonBequemlichkeit und Konsum

Schreibwaren? Im Café – eingerichtet in den 1980er-Jahren, inzwischen schmuddelig und muffig – weiß die früh zur Leibesfülle neigende und mäßig gelaunte Serviererin nicht, wo man Schreibwaren bekommt. An der Durchgangsstraße, zurück zum Auto, findet sich immerhin eine Buchhandlung, die kitschige Kalender 2018, aber keinerlei Schreibwaren führt. Wir sollten, so weiß die ergraute, freundliche Inhaberin jedoch, raus zu Aldi und Lidl fahren, in zweiter Reihe hinterm Getränkehandel gebe es einen „Papier-Trend“-Laden. Dort draußen, am autokompatibel angelegten Ortsrand, zwischen Getränkehandel, finden wir das Geschäft, in dem es Kopierpapier, Ordner und den üblichen Bürokram gibt – das beste Papier ist „Kanzlei-Papier“, und mit je zehn Bögen kariertem und liniertem A3-Papier fahren wir von dannen.

Die neue Versorgungsmitte Gerolsteins liegt am Ortsrand und besteht aus Parkplätzen und Einkaufsschuppen (Bild: Ursula Baus)

Die neue Versorgungsmitte Gerolsteins liegt am Ortsrand und besteht ausschließlich aus Parkplätzen und Einkaufsschuppen (Bild: Ursula Baus)

Ursachen und Nebenwirkungen

Für Gerolstein wurde das Planungsbüro FIRU mit stadtverbessernden Vorschlägen beauftragt, die im Frühjahr 2017 von 250 Bürger/innen besprochen wurden. Abriss, Neubau, Umgestaltung – auf ein Mal soll alles „schöner“ werden. Die Gefahr, dass dabei zu kurz gedacht und nur eine Art „Unsere kleine Stadt soll schöner werden“ herauskommt, ist groß.
Es geht aber um mehr – nicht zuletzt um Eingriffe in Marktmechanismen und politische Prioritäten. Es ist ja ganz und gar nichts Neues: Dass sich Menschen aus Gerolstein und Umgebung komfortabel vom Haus in die Garage ins Auto zum Billigladen begeben, über die Tankstelle zur Garage in Haus heimkehren – das ist der Alltag, der die Innenstädte veröden lässt. Und alle haben gewusst, dass der Einzelhandel im Ort unter den Aldi- und HIT- und Lidl-Schuppen, die von Parkplätzen und nichts anderem umgegeben sind, leiden wird. Ungesunder Bequemlichkeit und omnipräsenter Konsumlust von Bewohnern wurde nichts entgegengesetzt, was einer nachhaltigen Pflege der infrastrukturell einst gut ausgelegten Ortsmitte förderlich gewesen wäre. So weit, so bekannt, so tausendfach im Sinne unsinniger Marktgläubigkeit falsch gemacht.

Die Einkaufspassage als zweite Verbindung zwischen Parkplatz und Hauptpassage gehört zumBanalsten, was aus der Bauzeit zu finden ist. (Bild: Ursula Baus)

Die Einkaufspassage als zweite Verbindung zwischen Parkplatz und Hauptpassage gehört zum Banalsten, was aus der Bauzeit zu finden ist. (Bild: Ursula Baus)

Die nächste Phase längst als falsch erkannter Wachstumssteigerung folgte mit stadträumlich verheerenden Folgen durch die Shopping-Malls – hier in Gerolstein die „Rondell-Passage“. Seit einiger Zeit geht es im Schnäppchen-Kaufrausch weiter mit Outlet-Orten à la Ingolstatt oder Metzingen. 14 gibt es in Deutschland, 16 sind geplant, eine „Marktsättigung“ erwarten „Handelsexperten“, in denen man getrost perfide Beutelschneider erkennen darf, bei 30 Outlet-Orten. Nur 48 Kilometer nördlich von Gerolstein liegt Bad Münstereifel, wo die gesamte Innenstadt zum Outlet umgewandelt worden ist. Nicht mehr nur einer Ortsmitte, sondern einem gewaltigen Einzugsgebiet wird somit die Kaufkraft entzogen. Sage niemand, dass diese Konsequenzen nicht bekannt wären.

Alles frei Haus und Kühlschrank

Es geht noch weiter in der unsäglichen Spirale aus Bequemlichkeit und Konsumankurbelung. Sie wird sogar im Wirtschaftsteil der F.A.Z. beklagt, der eines kapitalismuskritischen Öko-Fundamentalismus völlig unverdächtig ist. Bestell- und Zustellzirkus – also der gesamte Online-Handel und Zustellwahnsinn – wird dort als „maximaler Verschleiß der Infrastruktur“ gegeißelt. Der logistische Unsinn nimmt kein Ende. Kaum ein Wirt mit Mittagstisch-Angebot kann es sich noch erlauben, nicht in Büros und Haushalte „frei Haus“ zu liefern. Im Schnitt wird ein Drei-Parteien-Haus fünf Mal täglich angefahren. Jeder, wirklich jeder weiß um diese irrwitzige, ökologisch und infrastrukturell schädliche Entwicklung. Sie beschert uns weitere Bodenversiegelung, weil dezentrale Logistikzentren gebaut werden müssen. „Der Kunde“ wolle Zustellung noch am Bestelltag – mehr kosten darf’s nix. Walmart bietet demnächst an, Lebensmittel nicht nur frei Haus zu liefern, sondern gleich in den Kühlschrank zu räumen. Was Menschen nicht brauchen, erfindet die wachstumswahnsinnige Wirtschaft als Bedürfnis.

Bürgerpflichten statt -sorgen

Der Logistik-Katastrophe ließe sich politisch gegensteuern, wenn man Klimaziele denn ernst nähme – und nicht die vermeintlichen „Bedarfe und Sorgen der Bürger“. Wenn Liebens- und Lebensfähigkeit von Dörfern, großen und kleinen Städten zu retten sind, muss den Bürgern auch einiges zugemutet werden. Verpackungen und Zustelldienste sind stark zu besteuern, denn die Renditen der Billigheimer sind im Kontext von Stadt- und Landleben inakzeptabel. Und, liebe Leser/innen, wir selbst sind gefragt. Ein paar Schritte gehen oder radeln, selber einkaufen; in der Mittagspause an die frische Luft und ins Wirtshaus oder zum Bäcker laufen. Als Kunden sind wir Könige. Und dürfen uns nicht in diffusen Ängsten und Sorgen verlieren. Wir müssen sehr wohl (mit-)entscheiden, was zu tun ist und ob einem die Welt egal sein darf. In Duisburg entschied sich die Bürgerschaft vor wenigen Tagen mit 51,09 Prozent gegen ein Factory-Outlet.


Literatur

*) Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. 1. Aufzug, 3. Auftritt, Nathan im Gespräch mit dem Derwisch

Nikola Noske: Outlet ante portas. Einzelhändler sehen sie als Bedrohung, Kommunen wollen damit ihre Innenstädte retten. In: Süddeutsche Zeitung, 22. September 2017, Seite 18

Sabine Richter: Schnelles Geschäft. Um bestellte Waren innerhalb von Stunden … In: Süddeutsche Zeitung, 29. September 2017, Seite 27

Thomas Jocher: Einfach weniger Auto fahren. Eine ökologische Wende ist nötig, aber sie erfordert unbequeme Entscheidungen in der Politik. In. Süddeutsche Zeitung, 27. September 2017, Seite 2