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Heimat erkunden


Bushaltestellen: Sie stehen einfach irgendwo, der durchreisende Fotograf hält an, steigt aus, drückt auf den Auslöser und hat schon wieder ein Bild für sein Sammelalbum. Auch Ulrich Wüsts neuestes Buch beginnt mit einer Bushaltestelle, aber diese ist eine Ansage: Wer jetzt unter dem Label „Uckermark“ die lieblichen Panoramen einer „Toskana des Nordens“ erwartet, sei gewarnt!


Randlage. Die Gemeinde Nordwestuckermark. Fotografien von Ulrich Wüst, mit einem Text von Sasa Stanisic. 148 Seiten, 115 Abbildungen, 24,95 Euro. Edition Braus, Berlin 2019 | ISBN 978-386-228-203-6 1948_Buch-UckermarkAch, all diese skurrilen Mach- und Wunderwerke anonymer Baumeister an den einsamen Überlandstraßen einstiger Sowjetrepubliken! Gleich mehrere Minibildbände haben sich in den letzten Monaten in mein Osteuropa-Regal verirrt, lauter kleine Kuriositäten zusammengerafft zwischen Moldawien und Kasachstan. Wahllos, kontextlos. Was wollen uns diese Reisesouvenirs eigentlich sagen?

Randlage

Wie es anders geht, zeigt Ulrich Wüst mit seinem neuesten Buch „Randlage“. Auch dessen Bildereise durch eine ziemlich abgelegene Gegend beginnt mit einer Bushaltestelle, aber dieser trostlose Unterstand vor kahlem Horizont ist keine possierliche Etüde architektonischer Fingerfertigkeit. Ulrich Wüsts „Bilderreise“ zeigt andere Seiten der Uckermark.

Naugarten im September 2014 (Bild: Ulrich Wüst)

Naugarten im September 2014 (Bild: Ulrich Wüst)

Auch heute, in Zeiten massiven ökonomischen wie demografischen Wandels, ist die notorische Sehnsuchtsregion großstadtmüder Berliner immer noch zuallererst eine Agrarlandschaft. Wer sich nicht bloß von malerischen An- und Ausblicken berauschen lässt, wird hier trotz Nationalpark und kräftig frequentierter Ostsee-Radweg-Trasse vor allem einen Paradefall des derzeit überall schwer diskutierten „ländlichen Raumes“ finden. Keines der geläufigen Defizite fehlt: rückläufige Versorgung, magere Verkehrsanbindung, ausufernde Monokulturen, Windmühlen-Overkill, und obendrein über weite Strecken versackt im flächenmäßig größten Funkloch der Republik. Vielleicht waren all die kleinen und größeren Seen zwischen sanft schwingenden Hügeln, das schöne Erbe der letzten Eiszeit, dem mühselig schuftenden Landvolk früher ein gelinder Trost; umso verlässlicher sind es diese anmutigen Naturbilder, die den zumeist ärmlichen Siedlungen heute unentwegt neue Nachbarn bescheren.

Beenz im Juni 2015 (Bild: Ulrich Wüst)

Beenz im Juni 2015 (Bild: Ulrich Wüst)

Rurale Gentrifizierung

Nach anfänglich dramatischer Abwanderung sorgt in manchen Dörfern jetzt der Zuzug urbaner Besserverdiener schon für einen Kulturwandel, wie man ihn bislang eher aus Berlin-Mitte oder Prenzlauer Berg kannte. Ob, wann und wie bei solch einer „ruralen Gentrifizierung“ die unvermeidlich entstehenden Parallelmilieus miteinander ins Benehmen, womöglich zu praktikablem Gemeinsinn kommen, ist in den meisten der betroffenen Orte noch offen – auch dies wahrlich kein leichtes Abenteuer, das unsere von Transformationszumutungen regelrecht umstellte Gesellschaft erst noch zu bestehen hat.

Wittstock im Juni 2014 (Bild: Ulrich Wüst)

Wittstock im Juni 2014 (Bild: Ulrich Wüst)

Ulrich Wüst kennt sich mit solcherart Konflikten nur allzu gut aus. Als Zeuge wählt er die Perspektive der Alteingesessenen, so dezent wie unmissverständlich. In seinen Fotografien erscheint die Uckermark nicht als Genuss verheißendes Naturtheater, sondern als Landschaft im Gebrauch. Dafür sind reale Dörfler als Staffage gar nicht nötig, unter Wüsts menschenleeren Bildern ist ja kein einziges, das nicht umso mehr vom Tun der Namenlosen erzählt: Vom agrarischen Alltag, von dessen nie endender Geschäftigkeit, auch von dessen kleinen Marotten. Vom Einsickern technischer Apparate in die alte behäbige Bauernwelt und von der krassen Kurzlebigkeit mancher jüngst erst gefeierten Innovation. Von der (auch ästhetischen) Haltbarkeit alter Feldstein- und Rohziegelmauern wie von der unbändigen Sehnsucht aller Landbewohner nach möglichst sämtlichen Segnungen der Neuzeit – und also nach der Baumarkt-Moderne.

Naugarten im August 2015 (Bild: Ulrich Wüst)

Naugarten im August 2015 (Bild: Ulrich Wüst)

Das macht ja das Besondere an Wüsts fotografischem Ansatz aus, dass er seine Sujets niemals denunziert, selbst groteske Situationen können bei ihm zu regelrechten Ikonen führen. Ob der Plattenbau am Feldrain oder die aus Formsteinen gebastelte Garage, nicht mal die Veranda unterm Wellplast-Dach wird zum Belächeln preisgegeben, sondern darf hier einfach sein, kriegt einen Auftritt in Würde. All die erhabenen Ansichten wie die kruden Details bilden erst jene Essenz, die eine Gegend prägt und zu der Heimat macht, von der dann lebenslang die Träume handeln: die nackt betonierte Silo-Rotunde nicht weniger als die gemütvoll verwitterte Scheunenwand. Vermutlich werden uns irgendwann die seit Jahren verhängten Kneipenfenster genauso zu Herzen gehen wie der obligatorisch schräge Lampenmast davor.

Fürstenwerder im September 2016 (Bild: Ulrich Wüst)

Fürstenwerder im September 2016 (Bild: Ulrich Wüst)

Spärlich bewohnte Heimat

Ulrich Wüst ist kein Vorbeifahrer. Seit mehr als drei Jahrzehnten verbringt er die helleren Monate des Jahres unter den weiten uckermärkischen Himmeln, und weil er gern systematisch arbeitet, hat er sich für die hier vorgelegte Bilderserie einen „administrativen“ Rahmen abgesteckt: die Gemeinde, der sein dortiger Nebenwohnsitz zugehört. Die nennt sich Nordwestuckermark und ist – in ihrer schreienden Anti-Einprägsamkeit – ein typisches, akuter Ämter-Not geschuldetes Konstrukt aus zehn Ortsteilen und vierzig (!) Gemeindeteilen. 4248 Einwohner verstreuen sich auf 254 Quadratkilometern, was eine Siedlungsdichte von 17 Einwohnern pro Quadratkilometer ergibt. In UNO-Statistiken bedeutet das angeblich „unbewohntes Gebiet“. Der Fotograf, der im früheren Leben ein Stadtplaner-Diplom erwarb, überrascht darum mit einem kleinen Nachwort, das nach der amüsanten Erörterung etlicher Orientierungsprobleme im scheinbar grenzenlosen Gelände schließlich auf die Frage hinausläuft, „ob es ein Herzensbedürfnis geben kann“, welches die Bewohner derart weit auseinanderliegender Dorfschaften wirklich dazu bewegen kann, „ein Gemeinwesen zu bilden, in dem der Bau jeder Straßenlaterne gemeinsam beraten werden muss“. Diese mitgelieferten Reflexionen holen den Betrachter von der blanken Bilderlust, an die er sich bis dahin sicher verloren hat, in die politisch-sozial-kulturell wirklich spröden Realitäten (nordost-)deutschen Landlebens zurück. Was diese – übrigens auch sehr sorgfältig edierte – fotografische Rundreise zu einem echten heimatkundlichen Highlight macht für alle, die sich auf Brandenburgs nördliche Randlagen wirklich einlassen wollen.