„Meine Heimat: Deine Heimat“ – darüber diskutierte Mitte Juni 2019 die DASL in Apolda. Interessanterweise ging es dabei gar nicht um kollektive Identitäten oder Toleranz, sondern um Entfremdungen im System und um Ökonomie. Wolfgang Kil hat die streckenweise sehr emotionale Debatte gebannt verfolgt.
„The times they are a-changing.“ Die Konflikte dieser Welt lassen keine Zeit mehr, auf die Rituale unserer Konsenskultur zu warten. Liebgewordene Debatten, oft genug um Nichtigkeiten, müssen sich ändern. Rufe nach Lösungen werden dringlicher. In Berlin diskutiert man ungeniert und bis in Regierungskreise hinein über das Enteignen renditegieriger Wohnkonzerne. In Halle an der Saale ruft BDA-Präsident Heiner Farwick seinen Berufsverband zum Abschied von der Wachstumsideologie auf.(1) Bereits im März forderte in Berlin die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) einen radikal anderen Umgang mit dem „Boden für die Stadt“, um nicht noch das letzte öffentliche Bauland an die entfesselten Märkte zu verlieren und die Städte aus dem Würgegriff spekulativer Bodenpreisspiralen zu befreien.(2)
Ist die Planergilde nun besonders sensibilisiert für gesellschaftliche Alarmzustände, oder fühlt sie sich von Berufs wegen in akuter Verantwortung und also bereit, die Komfortzone zu verlassen? Mitte Juni waren erneut rund 70 Mitglieder der DASL in Apolda zusammengekommen, um im inspirierenden Eiermann-Bau, der Geschäftszentrale der IBA Thüringen, sich des nächsten heißen Eisens anzunehmen – Heimat. In besseren Buchläden liegen die einschlägigen Sachtitel zuhauf, und neuerdings leistet sich Deutschland sogar ein Ministerium, das den Begriff im Namen mitführt.
Der Mythos von Stadt und Land
Wobei sowohl in der allgemeinen Publizistik wie in der offiziösen Fachdebatte eine vielsagende Konnotierung der Sphären auffällt: Fast durchweg wird bei „Heimat“ an „ländlichen Raum“ gedacht (als ob Stadtbürger heimatlose Gesellen wären). Andererseits „wird die hochglänzende Zeitschrift Landlust in den Städten gelesen“(3), wo sie ja auch gemacht wird, und so sind es in aller Regel Städter, die untereinander erörtern, was vom „Raum da draußen“ zu erwarten sei: Naturgenuss, Erholung, Freizeitofferten, irgendwie anderes Leben. Sollte notgedrungen Landwirtschaft vorkommen, dann bitte in überschaubaren Dimensionen! Sogar in der Diktion der IBA, deren offizielles Arbeitsmotto „Stadtland“ lautet, wird der Schauplatz Thüringen nach genau diesem Idealbild gepriesen: ein dicht gewebtes Netz aus Dörfern und Landschaften von großer Schönheit, darin eingebettet Klein- und Mittelstädte, „schmucke Kleinstresidenzen“, ein „in menschlichem Maßstab austariertes Gleichgewicht, das seit Jahrhunderten hervorragend funktioniert hat“. Ein Selbstbild mit fast schon biedermeierlichen Zügen. Hier also wird nach Bildern und Ideen für ein zukunftsfähiges Land gesucht?
Doch diesmal war der Ton von Beginn an rauer: „Die ökonomischen Mechanismen und die endogenen Grundlagen in der Fläche sind in Auflösung begriffen“, stellte Paul Börsch, Vizepräsident der DASL, gleich zur Einleitung des Kolloquiums fest. „Die Menschen verlieren den Mut, wenn sie sehen, wie alles immer nur weniger wird, man den Niedergang allenfalls als Pflichtaufgabe verwaltet. Das schafft elementare Verunsicherung und macht empfänglich für Abwehrhaltungen, rechte Ideologien. Wir haben für ‚das Land‘ keinen Plan.“ Was, zumindest für Planer-Ohren, einen Tabubruch provoziert: Schluss mit der Vergötzung der Städte! Es mangelt an Ideen für eine Zukunft jenseits der Metropolen, abseits der S-Bahnnetze und Pendlerrelationen. „Unsere Fortschrittserzählung ist zur frohen Botschaft einer aufgeklärten, urbanen Minderheit geworden, von gut gebildeten, wohlhabenden Menschen, die in dynamischen Metropolen und verstädterten Räumen leben. In den strukturschwachen Räumen wird aber nicht mehr verstanden, welchen Nutzen etwa ein Mehr an Europa haben soll, wenn der letzte Betrieb in der Region Opfer der Globalisierung geworden ist und die Vorgaben der EU-Strukturbeihilfen die lokale Wirtschaft ruiniert haben.“ (Börsch) Wenn Globalisierung ein Zukunftsversprechen nur noch für Gewinner ist, den Verlierern jedoch als akute Bedrohung erscheint, der sie sich zunehmend verweigern, ja widersetzen, dann wird „Heimat“ unvermeidlich zu einem Kampfbegriff. Wer ihn als solchen beargwöhnt, liegt nicht ganz falsch – zumal wenn solche auf Region und Nachbarschaft pochenden Reflexe sich hier und da in Aufwallungen eines „unschönen Patriotismus“ (Joe Kennedy) äußern.
Doch den Begriff deshalb am liebsten aus den Diskursen zu verbannen, schafft die Konflikte nicht aus der Welt. „Heimat hat Konjunktur vor allem in Krisenzeiten“, erläuterte Claudia Weber, Kulturwissenschaftlerin von der Viadrina in Frankfurt an der Oder. „Nach real erfahrenen Verlusten, aber auch bei Negativerwartungen, etwa Angst vor Terror oder Klimawandel, bietet Heimat für viele einen Zufluchts- und Schutzort. Gesucht wird immer Geborgenheit.“ Die aber ist im aktuell als Standard gelobten entgrenzten, womöglich planetaren Heimatgefühl schwerlich zu finden. Oder jedenfalls nicht für alle zu finden, denn auch sich als ungebundener Weltbürger zu erfahren, ist ein Privileg der Gewinner (etwa der „Generation Erasmus“), die jede gegenteilige Neigung – Haltsuche in engeren, vertrauten Lebensumständen – kurzerhand als Verteidigungsgeste von Verlierern (Kleinstadtmuffel, Hinterwäldler) denunzieren. Zwischen den beiden Positionen scheint nichts verhandelbar. Lauert auch hier also ein Keil zur Spaltung der Gesellschaft?
Heimat stiften?
„Heimat lässt sich von keiner fremden Erwartung vordefinieren. Auch wenn es im nominell zuständigen Ministerium extra eine eigene Abteilung dafür gibt – man wird dort kein praktikables Narrativ für irgendeine „Heimat“ (er)finden. Das kann nur wachsen, und zwar ergebnisoffen.“ Die ernüchternde Auskunft kam von Michael Marten, der besagtes Ministerium in der Runde vertrat und deshalb gleich einen Rat nachschob: „Heimat wird nie ohne Selbstermächtigung entstehen. Weshalb wir dringend die europäische Perspektive im Auge behalten müssen. Funktionierende Gestaltungsmacht, also wirkliche Souveränität in den eigenen Belangen, lässt sich nur in einem ‚Europa der Regionen‘ erreichen. Womöglich als einziges Mittel, um den derzeit grassierenden Nationalismen etwas entgegenzusetzen.“ Im Hause des Herrn Seehofer, so war zu hören, wäre „Heimat“ weniger eine sozio-kulturelle, eher eine sozio-ökonomische Kategorie. Was immerhin zur Einsicht verhalf, dass Finanzstützen allein nicht schon zu „mehr Heimat“ verhelfen. Wer sich dem Heimat-Komplex dennoch mit handfest ökonomischen Argumenten nähert, stößt rasch auf Fragen der Gerechtigkeit (Stichwort „ungleichwertige Lebensverhältnisse“) und landet, eher früher als später, bei der Umverteilung.
Womit sich das Apoldaer Kolloquium am zweiten Tag auch prompt konfrontiert sah, als die beiden Begriffsfelder „Heimat“ und „ländlicher Raum“ doch wieder unentwirrbar ineinander rutschten und ein mit der IBA verbandelter Agrarpraktiker eher resigniert als wütend auf die fünf großen Handelsketten hierzulande wies, „die mit erpresserischen Praktiken nahezu jeden alternativen Agrar-Ansatz abwürgen; an die sich aber niemand richtig heran traut, weder die Politik, noch die verzichtsunwilligen Konsumenten“. Die spontane Philippika machte auf jene Kräfte aufmerksam, denen allein mit Gut-Zureden nicht beizukommen sein wird. Bei denen nur eine zielstrebige, auch vor energischen Eingriffen nicht zurückschreckende politische Agenda hilft. Und ein massiver gesellschaftlicher Wille zum Umsteuern.
Weltwirtschaft und Zivilisation
Auf letzteren zielte Christiane Thalgott, als ihr schließlich der Kragen platzte: „Der unkontrollierte Selbstlauf globalisierter Ökonomien zerstört unsere Lebensgrundlagen, das merken jetzt auch die weniger politisierten Menschen, und sie sinnen auf Widerstand.“ Unbeeindruckt vom Schulterzucken des anwesenden Bankers mit den „vielen Brüsseler Erfahrungen“, ließ die Grande Dame der Planer-Akademie alle Zurückhaltung beiseite: Angesichts des Zustands unserer Welt gehören bestimmte Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion endlich der Marktlogik entzogen – Wohnungen, Mobilitätsofferten, Ressourcenmanagement, Energiewirtschaft. Auch „das Land“ gehöre unbedingt dazu, als unvermehrbare Flächenressource sowieso, aber genauso als Handlungsfeld für die zwingend anstehenden gesellschaftlichen Strategiewechsel – allein die diversen Maßnahmen zur Energiewende nehmen enorme Ländereien in Beschlag, von topografischen bis hin zu eigentumsrechtlichen Konsequenzen des bereits immer massiver anrollenden Klimawandels ganz zu schweigen.
Auch wenn an beiden Diskussionstagen weder die Finanzkrise noch das Realwelt-ferne Agieren der Finanzindustrie – Stichworte Nullzinspolitik, Landgrabbing oder „Betongold“ – überhaupt erwähnt worden sind (4), wurde auf der Apoldaer Tagung am Ende überraschend deutlich jener Diskurs fortgeschrieben, den das DASL-Symposium vorab in Berlin eröffnet hatte. So krass wollte es keiner zugeben, aber hinter aller beflissenen Rede von Heimat und ländlichem Raum galt die wirkliche Angst drohenden Wahlergebnissen, am Ende der Stabilität des politischen Systems. Nicht allein das Zukunftsbild unserer Städte hängt also von der Bodenfrage ab. Es ist höchste Zeit, diese zu einer der Schicksalsfragen für unsere ganze Zivilisation auszurufen.
1 zum BDA-Manifest „Das Haus der Erde“
2 Olaf Bartels: Auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft. Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung debattierte über Bodenpolitik. In: Bauwelt 14.2019, Seite 9
3 Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung, 18./19. Mai 2019
4 anders als etwa im Statement von Saskia Sassen auf dem Zürcher ETH-Wohnforum vor einigen Wochen Jochen Paul: Wie Luft und Wasser ist der Boden nicht vermehrbar. In: Bauwelt 14.2019, Seite 10
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