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8_HTM2379-438_fineZeitenwende? Kriege begleiten die Menschheitsgeschichte, kein einziger ist aus humanistischer Sicht zu rechtfertigen. Kriegsbaukunst bildet ein Fundament der Stadtbaugeschichte, Truppenübungsstädte bilden hingegen kriegsfunktionale Sperrzonen auch dort, wo der Krieg nicht zum Alltag gehört. Oder doch? Fotografien von Hannes Heitmüller von der Truppenübungsstadt Schnöggersburg dokumentieren eine einzigartige, groteske Architekturtypologie.

Alle Fotografien dieses Beitrags stammen aus der Arbeit „Urban Prototype – Schnöggersburg“ (2020) von Hannes Heitmüller.

Krieg und Ort

1977 füllte der Film „Krieg der Sterne“ des Regisseurs George Lucas die Kinokassen, heute zählt er zu den finanziell erfolgreichsten Kinofilmen aller Zeiten, dem mehrere Fortsetzungen folgten. Widerstand gegen ein diktatorisches Imperium: Es war eine Heldenerzählung mit viel kriegerischer Gewalt im Hightec-Look, die sich in weit entfernten Galaxien abspielte, aber an irdischen Spielstätten verfilmt werden musste. Der Death-Valley-Nationalpark (USA), die Wohnhöhlen von Matmata (Tunesien), Chott el Djerid (Tunesien), die Maya-Hinterlassenschaft Calakmul (Mexiko) und die Tempelanlagen in Tikal (Guatemala) bildeten außenräumliche Kulissen. Innenräumliche Aufnahmen entstanden in englischen Filmstudios und in Flugzeughallen des Cardington Airfield in Bedfordshire.1) Herausragend war der erste Star Wars-Film auf jeden Fall aufgrund (Trick-)filmtechnischer Neuheiten, die den Krieg exterritorial ästhetisierten – und unterhaltungstauglich für den Kinosessel domestizierten.

Krieg ist beides: Angriff und / oder Verteidigung. Und weil Kriege seit Menschengedenken und kontinuierlich irgendwo auf der Welt mit Tod und Zerstörung geführt werden, wird Krieg „geübt“, wozu konkrete Orte gebraucht werden. Solche Manöver insbesondere der Landstreitkräfte werden auf Truppenübungsplätzen abgehalten – in unterschiedlichen Beteiligungsformaten. 2021 gab es in der Bundesrepublik 17 Truppenübungsplätze, eingezäunte Sperrgebiete, in denen mehr oder weniger scharf geschossen wird.2) Wie sieht es dort aus? Was passiert dort? Schließlich geht es nicht um Kasernen, die, wenn aufgegeben, wunderbare Stadtentwicklungsquartiere für wohlhabende Städte sind.

3_HTM2957-409_fineKonkrete Typologien

Der Fotograf Hannes Heitmüller hatte 2020 für eine freie Fotoarbeit zum Thema Architekturtypologie die Chance, Schnöggersburg zu besuchen und dort zu fotografieren. Schnöggersburg ist eine 2,5 mal 2,5 Kilometer große Übungsstadt in der Colbitz-Letzlinger Heide bei Magdeburg, die ab 2012 für den Stadt- und Häuserkampf der Bundeswehr gebaut wurde und gilt als größte ihrer Art in Europa. Bis 2021 entstanden hier 512 Gebäude für 140 Mio Euro, begleitet von Protesten der Organisationen der Friedensbewegung und dem Widerstand der Bürgerinitiative „Offene Heide“, die 2016 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. In Schnöggersburg wird Krieg nicht gespielt, sondern geübt.

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9_HTM2496-412_fineDas Übungsterrain simuliert materiell die militärische Auseinandersetzung in einer Art europäischer und doch ubiquitärer Stadttypologie mit Industriegebiet, Altstadt, Neubaugebieten, Landwirtschaft, Hochhaussiedlung, Infrastruktur mit U-Bahn und mehr. 1.500 Soldaten und 500 Zivilisten können sich hier übungsweise gegenüberstehen. Es regte sich auch Kritik, dass hier durchaus „Angriffskrieg“ geübt werde.3) Es geht hier aber nicht darum, wo die Grenzen solcher Kriegstypologien zu suchen sind, zumal dank Rheinmetall nicht mehr „scharf geschossen“ wird, sondern Treffer mit Sensoren ausgemacht werden und die Soldaten nur einen „virtuellen Tod“ sterben. Es mag zynisch klingen: Dieser virtuelle Tod ist praktisch, weil wenigstens Manöverunfälle vermieden werden können.

Nun schaue man sich das militärische Verständnis abendländischer Architektur und Stadtbaukunst an und frage sich, wie es hier aufgefasst ist: Schnöggersburg solle „möglichst universell aussehen, um flexible Szenarien zu ermöglichen. Es gibt keine Schriftzeichen oder landestypischen Bauweisen. So könnte die Übungsstadt an einem Tag Kabul darstellen, am nächsten Mogadiscio oder Damaskus.“4) Das deckt sich mit der Interpretation des Fotografen Hannes Heitmüller, der hier zwar vertraute Bautypen ausmacht und ins Bild setzt, aber von einem Genius Loci nichts, aber auch gar nichts bemerken kann.

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Gespenstische Grenzverschiebung

Die Architektur- und Stadtbaukunstgeschichte weist auf die militärischen Anfänge des Bauens. Stadtbaukunst beginnt als Festungsbaukunst, Vitruv lässt grüßen. Was hier in Schnöggersburg als Übungskulisse für die Kriegsführung dient, offenbart in seiner teils skurrilen bis unheimlichen Ähnlichkeit mit der alltäglichen, gebauten Umwelt eine gespenstische Verschiebung der Grenze zwischen Realität und Fiktion, die nicht ins bekannte Metier der Disneyland-Architektur gehört. Disney simuliert Bildhaftigkeit des Dreidimensionalen, Schnöggersburger Architektur und Stadtgefüge bieten dagegen die materielle Essenz einer Architektur, als ob es um die Darstellung von deren Banalität ginge. Kriegsfilmtauglich ist eine solche „Kulisse“ nicht. Aber zugleich gibt die Banalität von Schnöggersburg einen Vorgeschmack auf die Banalität der Kriegsführung und deren beklemmender Reduzierung auf ein technisch logistisches Problem. In der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft der Ukraine dominiert genau diese technisch-logistische Sicht und manifestiert einmal mehr die Sinnlosigkeit der Kriege, in denen Kämpfe Mann gegen Mann, System gegen System, Interessen gegen Interessen unvereinbare Gegensätze bilden, die sich in Gewinnen und Verlieren nicht auflösen, sondern erhärten. Mit grausamen Hinterlassenschaften: hunderttausende Tote, verwüstete Landschaften, Dörfer, Städte. Traumatisierte Menschen, schwelende Konflikte, Aktiengewinne der Rüstungsindustrie, auch die Kriegsgewinnler wird es wieder geben.

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Architektonisch ist das Szenario in Schnöggersburg gleichsam eine Umkehrung der wohlgestalteten Festungsbaukunst im Sinne Vitruvs.5) Ist diese einer reinen Verteidigungsfunktion zuzuordnen, ist die „Stadt“ Schnöggersburg eine triviale (Bau-)Realität, die Kriegsführung sowohl verteidigend, als auch angreifend üben lässt. Die Begleiterscheinungen realer Kriege bleiben ausgeblendet, die Technik macht auch dies möglich. Die Fotografien von Hannes Heitmüller entstanden, wie erwähnt, 2020, und heute wäre es ihm sicher nicht mehr erlaubt, das Terrain zu betreten. Die Bilder offenbaren gerade deswegen die Omnipräsenz des Krieges im Bewusstsein der Menschheit, den Krieg als conditio sine qua non. Man muss ja mit allem rechnen. Und deswegen nichts mehr hinterfragen?

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2309_Hannes_HeitmuellerHannes Heitmüller

Als Architekturfotograf beschäftigt er sich in seinen freien Arbeiten mit der Bedeutung der Typologie für die Architektur. In diesem Rahmen ist 2020 auch die Serie „Urban Prototype – Schnöggersburg“ entstanden. Sein Interesse gilt dem Ort, und diesen Truppenübungsort findet er unter architektonischen Gesichtspunkten zurecht bemerkenswert.
Durch den Angriff auf die Ukraine haben die Bilder sicherlich noch mal eine andere Bedeutung gewonnen.
Ihm stellte sich die Frage, wie wenig „Architektur“ es braucht, um einem Gebäude seine Funktion und Nutzung innerhalb einer Stadt abzulesen: Wo verläuft die Grenze zwischen Typologie, Typen und banalem Baukasten?
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3) Steve Przybilla: Eine Stadt für den Kriegsfall. in: NZZ, 21.11. 2017 (https://www.nzz.ch/international/eine-stadt-nur-fuer-den-ernstfall-ld.1328909)

4) Ebda.

5) Waffen- und Kriegstechnologien änderten um 1600 die Prioritäten im Festungsbau, siehe Stefan Bürger: Festungsbaukunst in neuem Licht. Besondere geometrische und konzeptionelle Bedingungen einer funktionalen Ingenieurbaukunst, 2013 (http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/5215/1/Buerger_Festungsbaukunst_in_neuem_Licht_2013.pdf)