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Wahljahr (5): Infrastruktur und politische Meinungsbildung


Populistische Parteien rekrutieren sich aus infrastrukturell oder wirtschaftlich schwächelnden Regionen. Eine politisch weitsichtig und verantwortungsvoll handelnde Gesellschaft darf sich nicht in boomenden, „hippen“ Städten verheddern, sondern muss in föderaler Tradition gute Lebensbedingungen überall pflegen. Claus Leggewie plädiert – politisch motiviert – für eine andere Sicht auf die „Wohnungsfrage“.


Infrastruktur – eine gesamtgesellschaftlich zu erfüllende Aufgabe (Bild: Christian Holl)

Infrastruktur – eine gesamtgesellschaftlich zu erfüllende Aufgabe (Bild: Christian Holl)

Spekulation

Wer mit Immobilien handelt, lässt sich ungern vom Koautor des Kommunistischen Manifests belehren. Doch wenn man einige Begriffe austauscht, zeigt sich, wie aktuell Friedrich Engels’ Aufsätze zur Wohnungsfrage von 1872 sind: „Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert; die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhen, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andere. Dies geschieht vor allem mit zentral gelegenen Arbeiterwohnungen, deren Miete, selbst bei der größten Überfüllung, nie oder doch nur äußerst langsam über ein gewisses Maximum hinausgehn kann. (…) Das Resultat ist, daß die Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt, daß Arbeiter- und überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft gar nicht zu haben sind, denn unter diesen Verhältnissen wird die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise Arbeiterwohnungen bauen.“

Handel, Wandel, Mehrwert? (Bild: Christian Holl)

Handel, Wandel, Mehrwert? (Bild: Christian Holl)

Am Bedarf vorbei

Engels bemerkte noch, dass dieses Schicksal nicht nur Arbeiter, sondern auch die Mittelschichten betraf. Die historische Diagnose deckt sich mit der des kaum marxismus-verdächtigen Instituts der deutschen Wirtschaft, das Investoren jüngst klipp und klar bescheinigte „am Wohnbedarf vorbei“ zu bauen. Eklatante Kauf- und Mietpreissteigerungen verdrängen Bezieher unterer und mittlerer Einkommen aus den Ballungszentren, wo ein Überangebot an Mikrowohnungen entsteht, die sich Studierende und Alleinstehende, als die vermeintlichen Zielgruppen, nicht mehr leisten können. Unterdessen werden auf dem Land weiter geräumige Häuser in Randlagen gebaut, die kaum mehr benötigt werden, weil ja alle Welt in die Städte drängt. Das ausufernde Pendlerwesen kostet Nerven und schadet der Umwelt. Der Preis, den alle zahlen, ist die Verödung von Ortskernen und ganzen Landstrichen, in denen es vielem fehlt: nahegelegene Arztpraxen, Kindergärten und Seniorenheime, Wirtshäuser und Kinos, schnelles Internet und Tante-Emma-Läden. Was die Landflucht dann noch steigert.

Beim Stadtfest geöffnet – Lebensbedingungen anzugleichen, lindert Wohnungsnot (Bild: Christian Holl)

Beim Stadtfest geöffnet – Lebensbedingungen anzugleichen, lindert Wohnungsnot (Bild: Christian Holl)

Stadt-Land-Balance

Die Wohnungsfrage von heute ist die fehlende Stadt-Land-Balance in einer nicht überall superreichen Gesellschaft, die für schnelle, spekulative Gewinne ihren kulturellen Reichtum, ihre sozialen Bindekräfte und ihrer politischen Mitwirkungschancen aufs Spiel setzt und im Übrigen von echter Urbanität keine Ahnung mehr hat. Es ist nicht übertrieben, wenn man diese Kluft (Engels hätte gesagt: im Bereich der „Nebenwidersprüche“) als ein Hauptübel ausmacht, das eine öffentlichen Debatte im derzeitigen Bundestagswahlkampf durchaus verdient hätte. Doch der verkürzt sich auf Symptome und Patentlösungen wie Mietpreisbindung und „mehr sozialer Wohnungsbau“. Die übergeordnete Frage ist die nach den Prioritäten, wie wir künftig in Gemeinschaft leben wollen.

Gegen die Finanzwirtschaft

Letztlich wird an der Wohnungsfrage die Auseinandersetzung mit populistischen Parteien entschieden. Diese rekrutieren vornehmlich in Regionen und Zonen, die sich ob ihrer Strukturschwäche und ihres öden Erscheinungsbildes vernachlässigt vorkommen oder denen ein solches Schicksal womöglich droht. Das Stichwort „Abgehängte“ umschreibt weniger die Differenzen bei Löhnen und Renten als vielmehr regionale Deprivation und fehlende Lebenschancen. Solange der Laden brummt, investiert die mit der Immobilienwirtschaft verschmolzene Finanzwirtschaft weiter für und in sich selbst, auf Kosten der Realeinkünfte, der Umwelt und nicht zuletzt von produktiven Anlagesphären, die zunächst weniger Rendite versprechen.

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Familienfreundliche Verhältnisse sind dort zu schaffen, wo sie gebraucht werden (Bild: Christian Holl)

Nein, der Markt hat es nicht gerichtet, staatliche Interventionen, mit wichtigen Ausnahmen wie dem Wiener Gemeindebau, ebenso wenig. Was dann zu tun ist? Wo Markt und Staat versagen, helfen Wohnungsgenossenschaften, auch muss man Bürger von vornherein stärker in die Stadt- und Raumplanung einbeziehen. Jungen Familien muss man Anreize bieten, sich in ländlichen Regionen anzusiedeln oder dort zu verweilen, ebenso sollte man Flüchtlings- und Migrantenfamilien statt in überfüllten Ballungszentren auf dem flachen oder bergigen Land unterbringen, wo eben dadurch mittelfristig wieder Arztpraxen, Kindergärten und Seniorenheime betrieben werden können. Und Wirtshäuser und Kinos eröffnet werden, wo dann schnelles Internet und Tante-Emma-Läden vorhanden sein werden – und die Lebensqualität stadtferner Gebiete sogar wieder die Inserate der Immobilienwirtschaft zieren wird. Da dies nicht von selbst geschieht, müssen sich auch die Leidtragenden der Wohnungsfrage, die in langen Schlangen um knappe Mietswohnungen rangeln und sich auf dem „freien“ Markt überbieten, organisieren und bewegen.

Der Beitrag erschien zuerst im Handelsblatt am 11. Septmber 2017.