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Marktgeschrei (18) | Was ist nur aus der Moderne geworden? Vor 90 Jahren mit großem Pathos als „ehrliche“ Antwort auf die „falsche“ Gründerzeitarchitektur angepriesen, ist sie heute dabei, in einer geistigen – nicht materiellen! – Armut zu enden, die mit Wehmut an die Villenarchitektur aus der Zeit der Industrialisierung zurückdenken lässt.

Die Mülbergerstraße war einmal Esslingens erste Adresse. Vom Altstadtkern führt sie, von der Ebershaldenstraße ausgehend, seit den letzten Tagen des 19. Jahrhunderts in den Südhang hinein, um auf halber Höhe eine Kehrtwende zu vollziehen und oberhalb der „Burg“ wieder herauszukommen. Die Villen und Mehrfamilienhäuser, die hier zwischen 1896 und 1926 entstanden, stehen überwiegend unter Denkmalschutz: 16 an der Zahl, die älteren Häuser auf der Talebene nicht mitgerechnet. Bekanntester Architekt und Bauherr sind Paul Bonatz und der Fabrikant Paul Eberspächer, doch bei dem 1925/26 errichteten Bau handelt es sich um einen ein Nachzügler. Die meisten entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Straßenzug angelegt wurde: mit der Katharinenstaffel als Querverbindung und einer Grünanlage mit dem Lenaudenkmal in der Kehre.

Kein Haus gleicht dem anderen


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Haus des Architekten Wager, der aus Bern nach Esslingen zog. (Bild: Dietrich Heißenbüttel)

Die Variationsbreite reicht vom historistischen Backstein und Fachwerk über neobarock geschweifte Giebel, quer gelagerte, axialsymmetrische Landhäuser, eher hochformatige, asymmetrische Schlösschen, ein wenig Burgenromantik, bis hin zum Schwarzwaldhaus. Sogar ein Schweizer Chalet gibt es, erbaut als eigenes Wohnhaus von dem aus der Berner Gegend zugezogenen Architekten Albert Wager. Noch abwechslungsreicher wird es, wenn man ins Detail geht: Auf einen Natursteinsockel folgt Putz und im Giebel eine Schindel-Verkleidung. Ein geräumiger Wintergarten ist durch ein rotes Zierfachwerk hervorgehoben. Zelt-, Walm-, Krüppelwalm- oder Mansarddächer gehen über in spitze Türmchen. Ein durchbrochenes rotes Gartentor bietet Einlass in eine hohe Betonmauer, doch dahinter folgt gleich die nächste Wand, vor der eine von der Straße aus nicht sichtbare Treppe nach rechts zum Haus hinaufführt.

So sehr prägen diese Villen das Bild, dass eine Reihe belangloserer Häuschen kaum ins Auge fällt: schlichte Kuben mit Walm- oder Satteldach, wie sie auch oberhalb die Straßenzüge bevölkern; ein vereinzelter Nachkriegs-Bungalow; die Panoramaklinik. Doch in jüngster Zeit macht sich eine Invasion weißer Schuhschachteln bemerkbar. Sie sollen wohl an einen vermeintlichen Bauhaus-Stil anknüpfen, bezwecken aber nur eines: aus dem luxuriösen Grund und Boden das Maximum an Rendite herauszupressen. Bauen um zu verkaufen: das haben auch schon die Architekten-Brüder Karl und Otto Junge um 1900 praktiziert, die am Fuß der Mülbergerstraße eine ganze Villenkolonie mit 15 Häusern errichteten. Doch nun wird das Terrain systematisch mit viergeschossigen Klötzen zugepflastert, die einer hinter und über dem anderen den Hang hinaufklettern.


Weißer Putz, breite Fenster, ausladende Balkone: damit ist die Architektur hinlänglich beschrieben. Das Höchste der Gefühle ist noch eine spitz vorstehende Balkon- oder Gebäudeecke. Den Straßenraum definiert das Automobil: Garagen hangaufwärts, hangabwärts der SUV auf dem Dach. Natürlich gibt es das nicht nur in Esslingen: In der Seestraße oder in der Birkenwaldstraße in Stuttgart bietet sich ein ähnliches Bild. Nur verteilen sich hier die Gründerzeitvillen über die Halbhöhenlage des gesamten Talrunds. Wirklich allein stehende Villen mit Park, wie in Italien, waren nur die ersten unter ihnen, wie in Stuttgart die der Fabrikanten Moser, Bosch oder Hauff und in Esslingen die Villa Merkel. Doch auch die dichter entlang der Straßen aufgereihten Häuser waren kleine Landsitze, mittels derer die Besitzer ihre gesellschaftliche Stellung zur Schau trugen: in Bällen und Hauskonzerten, mit Gartenanlagen und Dienstboten.


Fertighäuser im „Bauhausstil“


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Alt und Neu – kein Vergleich. Bild: Dietrich Heißenbüttel

Die Villen gehören zum Wertvollsten, was uns die Architektur dieser Zeit hinterlassen hat. Keine unproduktive Neogotik wie im Kirchenbau, kein an die Fassade geklebter, aus beliebigen Stilepochen zusammengeklaubter Dekor wie bei den Mietskasernen: In ihren eigenen vier Wänden präsentierten sich Unternehmer und leitende Beamte als wohlhabende neue Schicht, die hinter dem Adel nicht zurückstehen, sich aber von ihm unterscheiden wollte. Die Modelle lieferten die städtische Architektur des Alten Reichs, ländliche Barockbauten und regionale Formen, die sie jedoch nicht einfach kopierten, sondern als breites, variables Reservoir von Formen, Stilelementen und Handwerkstechniken nutzten, das so ziemlich alles umfasst, was in der damaligen Architektur möglich war: bis hin zu Neuerungen wie Beton und moderner Installation vom WC bis zum Telefon.

Wir leben nicht mehr im Kaiserreich. Dienstboten haben ausgedient. An die Stelle von Bällen und Hauskonzerten ist der Flachbildschirm getreten. Sind die historischen Villen im Frühling samt und sonders geradezu in ein Meer blühender Bäume und Sträucher getaucht, ist rund um die Neubauten kaum mehr zu sehen als Gras, Kies und ein wenig pflegeleichtes Abstandsgrün. Auch die Architektur scheint abgedankt zu haben. Sie begnügt sich damit, ein Klischeebild der Moderne zu reproduzieren. Auf ironische Weise hat sich Walter Gropius‘ Vision erfüllt, der das Heil in der Vorfertigung suchte: Den „Bauhausstil“ – dessen Existenz Gropius vehement bestritt – gibt es auch vom Fertighaushersteller. Zwar weiß sogar die Fertighauswelt: „Eigentlich gibt es ihn gar nicht: den Bauhausstil.“ Aber sie weiß eben auch: „Fertighäuser im Bauhausstil werden aktuell wieder vermehrt nachgefragt.“(1)


(1) Zitate: www.fertighauswelt.de