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Wie die Wirklichkeit in Wirklichkeit ist


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Eine deutsche Normalität: Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel in Hamm. Bild: Judith Raum, 2010

Der deutsche Beitrag der letztjährigen Architektur-Biennale ist nun in Deutschland zu sehen. Das Deutsche Architekturmuseum zeigt eine überarbeitete Fassung von „Making Heimat“, ergänzt um einen Flüchtlingsbautenatlas; die Eröffnung begleitete ein Symposium. Außerdem erschien der Nachfolgeband von „Refugees Welcome“. Überall wird deutlich: Es gibt noch viel zu tun und viel zu lernen.

Eine Zusammenstellung von Spiegeltiteln machte es offensichtlich: „Flüchtlinge, Asylanten, Aussiedler: Ansturm der Armen“ hieß es 1991, „Ansturm der Armen – Die neue Völkerwanderung“ 2006. Gezeigt hat sie Erol Yildiz auf dem ganztägigen Symposium „Social Scale“, das vor der Eröffnung von „Making Heimat“ im Deutschen Architekturmuseum stattfand. Ob „Problemviertel“, „Parallelgesellschaft“, „Flutwelle“ oder „Dammbruch“: Yildiz, Soziologe an der Universität Innsbruck, wandte sich gegen die sprachliche und mediale Skandalisierung, die verhindert, dass akzeptiert wird, was seit vielen Jahren Normalität ist, was aber nicht als normal angesehen wird oder werden soll: Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Migration mit all ihren Begleiterscheinungen zu Deutschland gehört. Von kollektiver Amnesie sprach wenig später Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, und davon, dass Normalitäten konstruiert würden, die es nicht gebe. Äußerungen wie diese machten deutlich, was sich verändert hat. Die Euphorie des Aufbruchs und der Willkommenskultur ist einem beharrlichen Insistieren auf den Werten der offenen Gesellschaft gewichen, einem Werben für einen produktiveren Umgang mit Migrationsbewegungen, von dem man weiß, dass es ein mühsames ist.

Zwei Söhne von Mervat, Khaled und Moaiad, malen mit einem Freund vor der Wohnung im Innenhof.

„Das blaue Dorf“ – Gemeinschaftsunterkunft Bremen-Grohn, 2016. Architekten: Feldschnieders und Kister, Bremen. Foto: Anja Weber

Es ist anders noch als vor gut neun Monaten, als der deutsche Pavillon auf der Biennale eröffnet wurde und ein Bild von Deutschland zeigte, das gewiss auch als Appell zu verstehen war: Germany, Arrival Country. Frisch war damals noch die Erinnerung an den Herbst 2015, als die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet worden waren und über eine Million Schutzsuchende nach Deutschland kamen. (1) Mit der so einfachen wie überraschenden und vieldeutigen Geste des geöffneten Pavillons hatten die Kuratoren Peter Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann dies in eine architektonische Sprache übersetzt. Frische Luft zog durch den Pavillon, ein Ausblick aus dem Inneren auf die Lagune war zum ersten Mal möglich geworden. Aber das Ausstellungsgebäude konnte nicht mehr geschlossen werden: Es war verletzlich geworden. Inzwischen sind die für die Biennale in die Wände gebrochenen Öffnungen wieder zugemauert.

Das Update von „Making Heimat“

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Blick in den oberen Ausstellungsraum. Bild: Christian Holl

Zur Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt am 3. März 2017 hatte Gunther Adler, Staatssekretär des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit von der traurigen Zahl von tausend Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte zu berichten, die 2016 verübt worden waren: etwa drei an jedem Tag. Vor diesem Hintergrund ist die Ausstellung, die zeigt, was in Venedig zu sehen war, vielleicht nicht mehr der Spiegel eines Selbstbildes, das sich unser Land eine kurze Zeit gegönnt hatte, sie aber nun in Deutschland zu präsentieren, ist deswegen nur um so notwendiger geworden. Am grundlegenden Aufbau ist nichts geändert worden – zum einen sind aus dem Buch „Arrival City“ von Doug Saunders abgeleitete und mit Saunders entwickelte Thesen als ein argumentatives Gerüst aufgebaut. Sie benennen, was eine Stadt ausmacht, in denen Miganten sich ein neues Leben aufbauen können.

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Bezahlbares Wohnen, Selbstbau und Städtebau – die Ausstellung in Frankfurt ist erweitert und ergänzt worden. Bild: Kirsten Bucher

Zum anderen wird – ausführlicher als in Venedig – Offenbach als eine Ankunftsstadt gezeigt, einschließlich der Herausforderungen, die Verwaltung und Stadtgesellschaft zu bewältigen hat. Und schließlich werden – auch dies ausführlicher als 2016 und in aktualisierter Form – Beispiele für Flüchtlingsbauten in Deutschland gezeigt, die seit Oktober 2015 nach einem Aufruf des DAM eingereicht wurden. Als „Flüchtlingsbautenatlas“ ist dieser Teil der Ausstellung zur Eröffnung auch publiziert erschienen. Anhand von ergänzenden Beispielen und mit einem Teil der vom Kölner Büro BeL 2016 im Arsenale gezeigten Installation wird eine Brücke zu Themen des bezahlbaren Wohnraums geschlagen. BeL hatten das Prinzip des Selbstbaus auf den Städtebau übertragen. Projekte aus Frankfurt, Berlin und Potsdam zeigen zudem, wie Aufstockung, Verdichtung und Selbstbau für bezahlbaren Wohnraum sorgen könnten.

 

Was wir lernen müssen

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Vorbild Aravena und Elemental: In Quinta Monroy, Iquique (Chile), haben die Bewohner ihre Häuser selbst erweitert. Bild: Cristobal Palma

Dass die Verknüpfung freilich nicht immer so naheliegend ist, wie es den Anschein haben mag, wurde auf dem dichten und abwechslungsreichen Symposium deutlich. Florian Nagler zeigt dort das über einem Parkplatz in München errichtete Wohnhaus für Flüchtlinge und Menschen mit geringem Einkommen, das architektonisch beeindruckte – später musste aber hinzugefügt werden, dass dieses Projekt in der üblichen Praxis kaum so schnell hätte errichtet werden können und als politisches Symbol Ausnahmebedingungen genoss.

Grundsätzlich gilt anzumerken, dass die Flucht ein Form der Migration ist, mit der wir uns auseinandersetzen sollten – aber nicht die einzige. Wenn die Rede von Arrival Cities ist, geht es auch um die Formen der Wanderung, die in ökonomischen Zusammenhängen stehen. Zusammengenommen ergeben sich daraus nicht nur andere Perspektiven, sondern auch Herausforderungen an Gesellschaft und Politik, als wenn man sich ausschließlich an Geflüchteten orientiert. Das wurde auf dem Symposium mehrfach betont, beeindruckende Initiativen wurden ebenso vorgestellt wie beklagt wurde, dass den bitteren Abschottungsbemühungen aktueller Politik ein Zynismus zugrunde liegt, der genau den Werten Hohn spricht, von denen so gern behauptet wird, dass sie zu verteidigen werden sollten.

Alleinreisende Männer leben im jeweils obersten Stockwerk in 8er WG's mit je 2 Personen in einem Zimmer. Sie haben von ihrem Terrassengang einen guten Überblick über die Anlage.

Gemeinschaftsunterkunft Reutlingen, 2016. PWS Architekten, Pforzheim, Berlin

Die weiterreichenden architektonischen und städtebauliche Konsequenzen wurden freilich vorerst nur ansatzweise angesprochen. Sie führen über Wohngebäude weit hinaus, müssten Orte für Begegnung wie des Rückzugs einschließen und neben dem Wohnen die Aspekte der Bildung und vor allem der Arbeit intensiver berücksichtigen. (2) Und es gilt, vor jedem Bauen erst einmal zu studieren, welche Formen der informellen Selbstorganisation sich im Umfeld eines Vorhabens bereits entwickelt haben. Denn zu denen sollte ein neu initiiertes Projekt nicht in Konkurrenz treten, wie der Berliner Migrationsforscher Mark Terkessidis mahnte. Hier liegt vermutlich die größte Herausforderung. Es geht nicht nur darum, die Erkenntnis zu beherzigen, dass es nicht ausreicht, Immobilien zur Verfügung zu stellen, wie Heike Piasecki von der Beratungs- und Analyseunternehmen Bulwiengesa anmerkte. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, zu akzeptieren, dass Planung und behördliche Aufsicht nicht notwendigerweise segensreich sein muss, dass der Raum für Selbstorganisation und Improvisation gegeben werden muss .

Information zu Ausstellung, Publikation, Begleitprogramm >>>

Für die kooperative Stadt

 

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Jörg Friedrich, Peter Haslinger, Simon Takasaki, Valentina Forsch (Hg.): Zukunft: Wohnen. Migration als Impuls für die kooperative Stadt. Jovis Verlag, Berlin 2017

Weiteres Vertiefungsmaterial zum Thema, vor allem (und auch wieder „nur“) in Fragen des Wohnungsbaus, bietet das kürzlich erschienene Buch „Zukunft: Wohnen. Migration als Impuls für die kooperative Stadt.“ Es ist das Folgebuch zum 2015 erschienenen Band „Refugees welcome“. Auf den ersten knapp hundert Seiten wird als Grafik zusammengefasst, was sich in den letzten anderthalb Jahren ereignete, vertiefende Texte ordnen die Aufgabe des Wohnungsbaus ein in Fragen der sozialen Integration, des öffentlichen Stadtraums, der regionalplanerischen Dimension. So wird man darüber informiert, dass die Lage 2015 nicht annähernd so dramatisch war, wie es erscheinen musste: Die Anzahl der Asylbewerber je Einwohner war 2015 in Ungarn, Schweden und Österreich jeweils deutlich höher als bei uns. Auch in diesem Buch wird das durchregulierte deutsche Alltagsleben kritisiert. Es wird zudem beispielsweise darauf verwiesen, dass die Chance der neuen Inanspruchnahme von Räumen in der Regel durch Neuankömmlinge und nicht den Alteingesessenen ergriffen wird – sie sind also die, die auch problematischen Räumen neue Impulse geben. Den Hauptteil macht eine umfangreiche Sammlung europäischer Beispiele aus, die thematisch geordnet wurde und sowohl verwirklichte und projektierte Gebäude als auch Entwürfe umfasst und damit viel Inspiration dafür bietet, wie Architektur einen wertvollen Beitrag zu einer gelingenden Integration von Neuankömmlingen leisten kann, wie sie ihre Rolle neu finden kann angesichts der Normalität, die so oft und beharrlich verleugnet wird.

Weitere Information zum Buch  >>>

 


(1) Zur Entscheidung über den Beitrag für deutschen Pavillon und die Hoffnungen und Erwartungen im Dezember 2015 siehe den Text Karin Hartmann und Christian Holl: Heimat verlieren, Heimat finden: >>>
(2) Mit der neu beschlossenen Gebietskategorie „Urbanes Gebiet“ wurde hierzu ein unzureichender Schritt ge- und eine große Chance vertan. Dazu Ursula Baus im Dezember 2016 >>>