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Minimal art für Lebenskünstler

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Fondation Le Corbusier (Hrsg.): Le Corbusier. Ein kleines Haus.

Fondation Le Corbusier (Hrsg.): Le Corbusier. Ein kleines Haus. Neuausgabe der Originalausgabe von 1954. Birkhäuser Verlag, Basel 2020. ISBN 978-3-0356-2067-2, 29,95 Euro

 

Eine Reise zu einer Ikone der Genügsamkeit: Zwar suchten wir Heinz Islers Schalenbauten auf, es stand aber auch ein Zwischenhalt am Lac Léman in Vevey an. Wir konnten das kleine Haus anschauen, das Le Corbusier für seine Eltern gebaut hat. Nicht weniger als eine Lektion zum minimalen Flächenverbrauch für ein gutes Leben war zu lernen, die ein Anliegen der Moderne als Pflicht für unsere Gegenwart erkennen und die tiny house-Bewegung als fragwürdige Wiederaufnahme eines Archtekturthemas begreifen lässt.


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Ein Suchbild: Links neben dem Jollen-Hafen duckt sich das kleine Haus der Familie Jeanneret am Ufer. (Bild: Wilfried Dechau)

Die Wohnlagen am Lac Léman sind gerade auf der Schweizer Seite per se fantastisch: Offenbart sich doch ein großartiges Alpenpanorama auf der andern Seite des Sees. Dass der See über die Ufer tritt, ist wegen seiner Größe eher unwahrscheinlich – höchstens steigt der Pegel um 50 cm an. Sturm bedingte Wellen bedrohen Bauten am See schon eher. Und die Feuchtigkeit im Boden, natürlich.
Retrospektiv beschrieb Le Corbusier viele Jahre später die Genese des Hauses, das er hier am See, in Vevey, für seine Eltern gebaut hatte. Er habe es nicht für diesen Ort entworfen. „Oft befinde ich mich in den Jahren 1922 und 1923 im Schnellzug Paris–Mailand oder im Orient-Express Paris–Ankara, den Plan des Hauses in meiner Tasche. Wie? Den Plan bevor der Bauplatz bestimmt ist? Den Plan, für den der Bauplatz erst noch gefunden werden muss? Jawohl.“ Und er predigt ein Mal mehr das Rationale der „Wohnmaschine“, die sich auch im Kleinen bewähre. „Genau den einzelnen Funktionen angepasste Dimensionen führen zu äußerster Raumausnützung.“

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Straßenseite des Hauses; anfangs war die Straße noch ein „Schäferweg“, 1930 wurde der Weg zur „Simplonstraße“ ausgebaut. Das Dach des Hauses ist begrünt und begehbar. Rechts der Anbau ist nur von außen zugänglich. (Bild: Wilfried Dechau)

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Der Ort und sein Genius

Nun muss man zwar zwischen Haus und Garten und Umgebung unterscheiden. Aber ließe sich ein Genius Loci besser inszenieren als mit einem Fenster, für das extra ein Stück Wand am See gebaut wird? Le Corbusier schreibt, er habe lange nach einem passenden Grundstück für das Haus der alten Eltern gesucht, aber eines Tages entdeckten die Suchenden einen Bauplatz, der „nur auf das kleine Haus zu warten schien“. Sei’s drum, an Ort und Stelle überrascht, wie riesig das kleine Haus mit seinen rund 60 Quadratmetern wirkt, und vor allem: wie konsequent durchdacht der Zusammenhang von Raum und Funktion in diesem länglichen Grundriss zur Architektur geworden ist.1) Corbusiers Vater lebte hier gerade mal noch ein Jahr, die Mutter – eine Musikerin – bis 1960. Der Bruder, Albert Jeanneret, Musiker, war seit 1939 im Haus, in dem recht lebhaft zuging; Albert unterrichtet dort auch. Das kleine Haus ist ein Wohn- und Arbeitsort, das auf etwa 60 Quadratmetern unfassbar vieles zu leisten imstande ist.

Der Grundriss, der Rundgang (aus dem besprochenen Band)

Der Grundriss, der Rundgang (aus dem besprochenen Band)

 

Tag für Tag

Wie spielt sich ein Tag im Leben der Eltern ab? Le Corbusier skizziert die Abläufe, die Wege von draußen nach drinnen, vom Aufstehen bis zum Abend. Das ganze Haus kennt keine Flure, sondern Räume, die samt und sonders einem Nutzen dienen, der sich aus dem Alltag der Eltern ergibt. Licht fällt in Hülle und Fülle durch das knapp 1 Meter lange Fensterband ins schmale Haus, Großzügigkeit ergibt sich durch die achsial angeordneten Durchgänge, die entlang der Seeseite ein regelrechte Enfilade in Erscheinung treten lassen. Am Eingang geht es rechts in die Küche, von der aus man im „Rundlauf“ auch zum Bad und Schlafzimmer kommt. Nach links geht es zum Ess- und Wohnbereich und zum Gartenzimmer. Und vom Wohnreich in umgekehrter Rundlaufrichtung ebenfalls ins Schlafzimmer und Bad. So bleibt keine Grundfläche übrig, die nicht zu einem Aufenthaltsort gehört. Das alles zu sehen, ruft eine konkrete Vorstellung des Lebens, das hier geführt wurde, vors innere Auge. Und was man eben auch umgekehrt sieht: Es sind schöne Räume, die vielerlei Nutzungen vertragen.

Die Publikation

Corbusier ist wahrlich nicht der Erste, der seine eigenen Bauten programmatisch publiziert – diese Tradition reicht bis zu Palladio zurück.2) Bemerkenswert ist allerdings, dass die Programmatik beim Besuch des nicht nur publizierten, sondern gebauten Hauses, mehr als standhält. Das Haus manifestiert, wie gut es sich auf geringer Grundfläche leben lässt – und zwar gemeinsam, in unterschiedlichen Arten des Zusammenlebens, nicht im Sinne der Single-Optimierung. Voraussetzung dafür ist, dass relativ wenig Hab und Gut zu verstauen ist. Wirtschaftswunder und Wachstumsideologien belasteten den Alltag der Jeannerets nicht. Grotesk: In Sichtweite vom Haus steht die Zentrale des expandierenden Konzerns Nestlé.

Blick von der Dachterrasse Richtung Zentrum Vevey: Am Ufer entstand die Zentrale des Konzerns Netlé. (Bild: Wilfried Dechau)

Blick von der Dachterrasse Richtung Zentrum Vevey: Am Ufer entstand die Zentrale des Konzerns Nestlé. (Bild: Wilfried Dechau)


1) Lesevergnügen: Bruno Reichlin: Vers une architecture du livre. Le Corbusier, édition et mise en pages 1912-965. Baden, 2007

2) Catherine de Smet: Vers une architecture du livre. Le Corbusier, édition et mise en pages 1912-1965. Baden, 2007;
– Ursel Berger: Palladio publiziert seine eigenen Bauten. Zur Problematik des „Secondo Libro“. In: Architectura- Zeitschrift für Geschichte der Baukunst/ Journal of the History of Architecture, München, 1.1984, Seite 20-40