• Über Marlowes
  • Kontakt

Die rund dreihundertjährige Begriffsgeschichte der „Originalitas“ birgt Fragen, die sich allen kreativen Berufen immer wieder stellen. Die heutige, an der Aufmerksamkeit orientierte Begriffsbedeutung rückt immer wieder ins Zentrum zeitgenössicher Architekturdebatten.


„der deutsche glaubt sich so wenig originell, dasz originalität bei ihm einen gesuchten einfuhrartikel bildet“. Dem Dramatiker Dietrich Grabbe (1801-1824), dem Urheber dieser Charakterisierung, wird ein ausschweifender Lebenswandel nachgesagt, ein selbstzerstörerisches Genie sei er gewesen, und vielleicht dient er deswegen despektierlicher zugleich weitblickender An- und Einsichten im Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm immer wieder als Kronzeuge für der Worte tiefere Bedeutung.

Vom Kanon zum Genie

1885, als der entsprechende Band des Grimmschen Wörterbuchs erscheint, ist Originalität längst ein gebräuchlicher Begriff, mit dem Anspruch und Maß künstlerischer Innovation benannt werden. Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurde die künstlerische Schaffenskraft, die „inventio“, nur als Bereicherung der Tradition verstanden, nicht als ihre Ablehnung. Den traditionsbedingten Kanon stellten Künstler nicht in Frage, und erst mit der Romantik ist die Nachahmungsästhetik zugunsten der Genieästhetik in den Hintergrund getreten. Das heißt allerdings nicht, dass der Hang zum Neuen nicht schon früher zur künstlerischen Tätigkeit gehörte: „Denn alle, die etwas Neues bauen wollen, wollen auch gerne eine neue Facon dazu haben, die früher nie gesehen wäre“ – weiß bereits Dürer. Doch einen Kunstkanon abzulehnen, statt ihn „nur“ zu bereichern, wertet die Originalität in hohem Maße auf. Das Original, so wird zudem festgelegt, hat keinen Vorgänger und keinen Nachfolger, der nicht als Kopie abqualifiziert werden könnte.

0331_OriginalitaetOriginalität verändert sich als Begriff und Erscheinungsweise und Bedeutung seit rund dreihundert Jahren. Durch die gemeinsame Wortwurzel von orignalité, originality und Originalität im Lateinischen „originalitas“ halten die Bedeutungswechsel in den verschiedenen Sprachen durchaus miteinander Schritt, allerdings wird mit Antoine Furetières 1690 erschienener Begriffsklärung dem Französischen eine gewisse Vorreiterrolle zuerkannt – die „Querelles des anciens et des modernes“ klingen an. Im 18. Jahrhundert ist Originalität zum herausragenden Bewertungskriterium für Kunst gewachsen – mit zwei inhaltlichen Schwerpunkten: Zum einen die Originalität als Ausdruck der Individualität des Schöpfers, zum zweiten die Originalität des Kunstwerks in Abgrenzung zur Kopie. Johann Georg Sulzer, Autor der ersten und lange Zeit einzigen deutschsprachigen Enzyklopädie über Ästhetik, beschreibt in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1770-74) mit Bewunderung die „Originalgeister“. Das seien jene Menschen, „die in ihrem Denken und Handeln so viel Eigenes haben, dass sie sich von andern merklich auszeichnen“. Bei dieser Unterscheidung belässt es Sulzer nicht, denn obendrein polarisiert er in einer Weise, die noch heute Grund für Grabenkämpfe ist: „Der Originalgeist wird dem Nachahmer entgegengestellt“. Sulzers „Originalgeister“ sind bewundernswerte „Erfinder“, aber wenn es um die Wirkung des Kunstwerks geht, sieht alles anders aus: „eine Nachahmung (könne) unendlich mehr merth seyn, als ein Original“.

Um die Jahrhundertwende fließt in den Begriff Originalität der emotionale Wert individueller Spontaneität ein. Es geht Künstlern zunehmend um die Aufrichtigkeit ihres mehr oder weniger spontan empfundenenen und wiedergegebenen Ausdrucks, was Goethe – unbescheiden, wie nun einmal war – zu der Erkenntnis verleitet, dass das Genie mit seinen Worten selbst die Maßstäbe seiner Bewertung setze. Das Eigene, das Authentische gilt als Quell künstlerischer Originalität, der Geniekult blüht. Krass zeigt sich zwar, dass Kunst in diesem Sinne von anderen Produktionsbereichen, namentlich der Architektur und später auch Fotografie, abzugrenzen sein wird. Die Frage, wohin die Baukunst zu stellen sei, beschäftigt die Architekturtheorie und einige Enzyklopädisten eine ganze Weile, und wenn Pascal 1846 die Originalität an das Individuum bindet, dann kann der Architekt sich zunächst noch angesprochen fühlen. Denn auch der Architekt vermag mit seinem Tun Kritik an der in Konventionen erstarrten bürgerlichen Gesellschaft zu üben; er kann sehr wohl in künstlerischer, sozialer und ethischer Hinsicht Originalität als prägnanten Ausdruck von „wertstiftender Individualität“ liefern, die einen „Gegenpol zu beschleunigten Vergesellschaftung in der modernen Industriegesellschaft“ bilden. Als Wertstiftung ist Architektur politisiert.

Markt, Aufmerksamkeit und das Neue

Den Reiz des Neuen zu nutzen, um Aufmerksamkeit zu wecken – das ist im Zusammenhang mit dem künstlerischen Originalitätsanspruch zu einem Prinzip geworden, das nicht zuletzt vom Markt eingefordert wurde und wird. Geld für die Entwicklung von etwas auszugeben, das ein anderer verkauft? Niemals! Geld für eine Sache ausgeben, die man bereits besitzt und die keinen Mehrwert bietet? Nein.

Auch in der Architektur ist Aufmerksamkeit ein Kernthema, das die feinen Nuancen der Originalität längst verdrängt hat. Kreativ das Neue zur Erscheinung zu bringen, wird per se eine Qualität, in der (schöpferische) Freiheit zum (marktgeforderten) Zwang mutieren kann.

0308_GroysAufmerksamkeit ist aber keineswegs nur eine Folge der Neuheit, sondern auch der Wiederholung, was Niklas Luhmann brillant für die Medienmechanismen nachwies und Niels Werber weiterverfolgt. Neuheit ist stets im Zusammenhang mit einem Entstehungskontext zu sehen und, wenn man Boris Groys folgen mag, aus der Umwertung des Alten geboren. Tatsächlich bringt uns etwas – vermeintlich – Neues keiner Wahrheit näher, sondern lässt uns zeitgebundene Phänomene einfach nur besser begreifen. Was schon Salomo ahnte: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Peter Eisenman proklamierte prompt, dass man sich – in der Architektur – vom Prinzip der Originalität verabschieden möge, dem Diktat des Neuen abschwören und sich auf die „veränderte Kombination des schon Existierenden“ beschränken solle. Das Alte wird „erfunden“ und umgewertet. Das ist schließlich eine ökonomische Operation und liefert unbegrenzte Gesprächsmöglichkeiten, weswegen Aufmerksamkeit und Neuheit unabdingbar zur Kultur gehören. Es fasziniert ja immer wieder, dass bestimmte Themen, Sachen, Ideen anders auftreten als bekannt – wozu? Hier fällt immer wieder ein Stichwort, in dem die erschöpfenden Debatten um Originalität aufgehen: Identität. Identität lässt sich auf viele Weisen schaffen, in denen Aufmerksamkeit eine größere Rolle spielt als Neuheit. Originalität heute lässt deswegen die Pole zwischen Theorie und Praxis verschmelzen, genauso die zwischen Tradition und Erfindung, zwischenWissenschaft und Kunst. „Original(ität): grundlos“ lautete im Jahr 2000 der Titel eines Symposiums in Zürich. Wer Originalität als Charakterisierung seines kreativen Handelns begreift, ist niemandem Rechenschaft über den Weg dorthin schuldig. In der jüngeren Architekturdebatte wird dieses Motto mit erstaunlicher Leichtigkeit aufgegriffen: „Form follows emotion“ heißt es neuerdings oft. Das klingt wie ein Ventil, durch das Modernisten und Traditionalisten den allgemeinen Rationalisierungsdruck ablassen können – wenn es denn so einfach wäre …


Literatur

Aleida Assmann und Jan Assmann: Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2001
Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit.  Ein Entwurf, 5. Auflage, München 2001
Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt 1999
Jens Häseler: Originalität. In: Ästhetische Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart 2002, Seite 638-655
Rosaling Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne. Bd. 2 der Geschichte und Theorie der Fotografie, 2000
Roland Mortier: L’originalité: une nouvelle catégorie esthétique au siècle des lumières, Genf 1982
Niels Werber: Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik. Neuheit und Wiederholung. In: Telepolis, 9. 11. 1998


Erstmals erschien der Beitrag in der db 8/2003