Wenden wir uns mal vom Nationalen und Traditionalistischen der Gegenwart ab und lenken die Aufmerksamkeit auf das kulturelle Erbe Europas nach den Weltkriegen, als internationaler Frieden wichtiger war als nationale Interessen. Dazu lassen sich bemerkenswerte Ereignisse und Entwicklungen in Erinnerung rufen – zum Beispiel eine deutsch-französische Liaison der 1950er- und 60er-Jahre, die dieser Tage Früchte trägt.
„Resonanzen | Résonances. Die langen Wellen der Utopie / Les grandes ondes de l’utopie“, 29. September bis 30.November 2018
Architektur zeigt Zeitgeschichte
Es ging dabei in den 1950er- und 60er Jahren um ästhetische Erfahrungen, die sich nicht im Vertrauten erschöpften; es sollten möglichst vielen Menschen bessere Wohnungen zur Verfügung gestellt werden; es wurde mit technisch innovativen Konstruktionen experimentiert – grenzübergreifend.
Kuratiert haben die Ausstellung Marlen Dittmann und Henning Freese, wobei die Motivation der Ausstellung aufhorchen lässt: Es wird hier zwar Architektur gezeigt, aber es geht primär nicht etwa um eine „reine“ Architekturausstellung, sondern darum, mithilfe der Architektur und Stadtentwicklungsprozesse vor allem jungen Menschen Zeitgeschichte zu vermitteln. In Vergessenheit gerät bei vielen von ihnen beispielsweise, dass das Saarland bis 1956 als eigenständiger Teil der französischen Besatzungszone nicht zur Bundesrepublik gehörte.
Begeisterte und Experten
Am Tag des Offenen Denkmals 2018 (9. September) ließ sich ein architekturgeschichtlich herausragender Bau besichtigen, in dem seit Januar 1955 bis 2015 der Langwellensender „Europe 1“ seinen Sitz hatte. Erst seit 2016 kann die 750 Meter nah an der französischen Grenze gelegene, deutsche Gemeinde Überherrn-Berus die außergewöhnliche Schalenkonstruktion ihr Eigentum nennen. Europe 1 verdankte seine Existenz dem Saar-Statut, das eine Mischung aus staatlichem und privaten Rundfunk erlaubte. Mit 2,4 Megawatt Sendeleistung ist Europe 1 der stärkste Rundfunksender Deutschlands und eine der stärksten Rundfunkanlagen weltweit gewesen.
Die Schalenkonstruktion konzipierten der damals gerade diplomierte Architekt Jean-François Guédy (1908-55) und der durchaus renommierte Ingenieur Bernard Laffaille (1900-55), die aber von ihrer diffizilen Konstruktionsidee überfordert waren: Weder war ihr Projekt ein konsequentes Hängedach wie die Schwarzwaldhalle von Erich Schelling und Ulrich Finsterwalder, noch eine akzeptabel gekrümmte Betonschale – zudem sollte das Dach nur eine Symmetrieachse aufweisen und auf drei Punkten lagern. 1954 begann das Desaster, das Bauwerk wies vor der Ausschalung schon typische, schadhafte Symptome auf. Guédy starb überraschend, Laffaille nahm sich das Leben. Der herausragende Ingenieur Eugène Freyssinet (1879-1962) übernahm die Baustelle und griff dort ein, wo der Kräftefluss es forderte – entstanden und erhalten ist ein eindrucksvoller, einzigartiger Raum, für den jetzt eine adäquate Nutzung gesucht wird.
Auf der französischen Seite, direkt südwestlich an Saarbrücken grenzend, liegt Forbach, wo eine fantastische Wohnanlage des französischen Arhitekten Émil Aillaud (1902-88) aus den Jahren 1960-65 davon zeugt, wie ernst man die Wohnbedürfnisse von Menschen nahm, die nicht zu den Gutverdienern gehörten.
Den Arbeitern sollten moderne Wohnungen zur Verfügung gestellt werden. Die Bauten in Forbach antizipierten Aillauds bekannte, 1977 gebaute Tours Aillaud in Nanterre. Aillaud war für die in Lothringen ansässige Stahlindustrie tätig und baute in der Siedlung Wiesberg auch eine Kirche, die in einer ungewöhnlichen, schneckenhaus-ähnlichen Wegeführung und sorgfältig gewählter Materialität ihren Reiz bezieht.
In der Ausstellung werden weitere, zum Teil keineswegs gebührend bekannte Pretiosen aus der frühen Nachkriegszeit gezeigt, in der grenzüberschreitende Aktionen – wie in den Stadtplanungsszenarien von Saarbrücken und Mainz – den Besatzungsverhältnissen entsprachen, aber zugleich das Zusammenwirken über die Grenzen hinweg förderten. Schlendert man heute durch Saarbrücken, hört man viel Französisch, obwohl es so lang nicht her ist, dass der Franzose als „Erzfeind“ galt.
Europa statt EWG
Die deutsch-französische Freundschaft war ein politisch kontinuierlich verfolgtes Projekt, für das ein Gebäude wie die ehemalige französische Botschaft nicht hoch genug geschätzt werden kann. Der heutige saarländische Kulturminister Ulrich Commerçon (SPD) gehört nun zu den wenigen Politikern, die Baukultur nicht als Anlass für wohlfeile Sonntagsreden nehmen. Und um seine Wertschätzung der 1951-54 von Georges Henri Pingusson gebauten, ehemaligen französischen Botschaft in Saarbrücken zu bekräftigen, zog er mit seinem Ministerium einfach in dieses fantastische, keineswegs von allen geliebte Gebäude ein, dessen Erhalt der saarländische Bauminister Klaus Bouillon (CDU) kein Anliegen ist. Letzterer spricht eher vom Abriss, aus Kostengründen, versteht sich, obwohl er kein Finanzminister ist.
Architektur und Politik bedingen einander. Und anlässlich des deutsch-französischen Projektes „Resonanzen“ zum Europäischen Kulturjahr 2018 „Sharing Heritage“ lohnt es sich, in der Region Saar-Lothringen auf Spurensuche zu gehen, die weniger zur frühen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) als zu Ideen eines befriedeten Europas führt. Architektur erweist sich hier als unbestechliche, schnellem Wankelmut entgegenwirkende, historische Kraft.
– Eine Bild-Strecke zum Pingusson-Bau siehe > hier.