• Über Marlowes
  • Kontakt

Resonanzen – Ideen für Europa

Sendehalle des Langwellensenders Europe 1 (Bild: Marco Kany)

Sendehalle des Langwellensenders Europe 1 (Bild: Marco Kany)


Wenden wir uns mal vom Nationalen und Traditionalistischen der Gegenwart ab und lenken die Aufmerksamkeit auf das kulturelle Erbe Europas nach den Weltkriegen, als internationaler Frieden wichtiger war als nationale Interessen. Dazu lassen sich bemerkenswerte Ereignisse und Entwicklungen in Erinnerung rufen – zum Beispiel eine deutsch-französische Liaison der 1950er- und 60er-Jahre, die dieser Tage Früchte trägt.


Als einer von 34 Beiträgen zum „Sharing Heritage“ wurde vor zwei Jahren das deutsch-französische Projekt „Resonanzen/Résonances“ ausgewählt, in dem es um die „langen Wellen der Utopie“ geht. Neben diversen Veranstaltungen rückt eine Ausstellung, die in der ehemaligen französischen Botschaft in Saarbrücken gezeigt wird, das Wirken deutscher und französischer Architekten nach 1945 ins Rampenlicht, die im saarländischen Grenzraum zur Stärkung eines europäischen, von utopischem Potenzial mitgetragenen Bewusstseins beitrugen.

 

„Resonanzen | Résonances. Die langen Wellen der Utopie / Les grandes ondes de l’utopie“, 29. September bis 30.November 2018

Foyer und Ausstellungsfläche in der ehemaligen französischen Botschaft in Saarbrücken, gebaut von Henri Pingusson (Bild: Ursula Baus, 2014)

Foyer und Ausstellungsfläche in der ehemaligen französischen Botschaft in Saarbrücken, gebaut von Georges Henri Pingusson (Bild: Ursula Baus, 2014)

Architektur zeigt Zeitgeschichte

Es ging dabei in den 1950er- und 60er Jahren um ästhetische Erfahrungen, die sich nicht im Vertrauten erschöpften; es sollten möglichst vielen Menschen bessere Wohnungen zur Verfügung gestellt werden; es wurde mit technisch innovativen Konstruktionen experimentiert – grenzübergreifend.
Kuratiert haben die Ausstellung Marlen Dittmann und Henning Freese, wobei die Motivation der Ausstellung aufhorchen lässt: Es wird hier zwar Architektur gezeigt, aber es geht primär nicht etwa um eine „reine“ Architekturausstellung, sondern darum, mithilfe der Architektur und Stadtentwicklungsprozesse vor allem jungen Menschen Zeitgeschichte zu vermitteln. In Vergessenheit gerät bei vielen von ihnen beispielsweise, dass das Saarland bis 1956 als eigenständiger Teil der französischen Besatzungszone nicht zur Bundesrepublik gehörte.

Der Bau für den Sender Europe 1 sollte sich für eine medial vielfältige Zukunft eignen, auch fürs Fernsehen. Technikgeschichtlich relevant ist, dass eine jahrzehntelange Langwellen-Sendetechnik in allen Entwicklungsstufen vorhanden ist. (Bild: Ursula Baus)

Der innen stützenfreie Bau für den Sender Europe 1 sollte sich für eine medial vielfältige Zukunft eignen, auch fürs Fernsehen. Technikgeschichtlich relevant ist auch, dass eine jahrzehntelange Langwellen-Sendetechnik in allen Entwicklungsstufen vorhanden ist. (Bild: Ursula Baus)

Begeisterte und Experten

Am Tag des Offenen Denkmals 2018 (9. September) ließ sich ein architekturgeschichtlich herausragender Bau besichtigen, in dem seit Januar 1955 bis 2015 der Langwellensender „Europe 1“ seinen Sitz hatte. Erst seit 2016 kann die 750 Meter nah an der französischen Grenze gelegene, deutsche Gemeinde Überherrn-Berus die außergewöhnliche Schalenkonstruktion ihr Eigentum nennen. Europe 1 verdankte seine Existenz dem Saar-Statut, das eine Mischung aus staatlichem und privaten Rundfunk erlaubte. Mit 2,4 Megawatt Sendeleistung ist Europe 1 der stärkste Rundfunksender Deutschlands und eine der stärksten Rundfunkanlagen weltweit gewesen.

Die Schalenkonstruktion konzipierten der damals gerade diplomierte Architekt Jean-François Guédy (1908-55) und der durchaus renommierte Ingenieur Bernard Laffaille (1900-55), die aber von ihrer diffizilen Konstruktionsidee überfordert waren: Weder war ihr Projekt ein konsequentes Hängedach wie die Schwarzwaldhalle von Erich Schelling und Ulrich Finsterwalder, noch eine akzeptabel gekrümmte Betonschale – zudem sollte das Dach nur eine Symmetrieachse aufweisen und auf drei Punkten lagern. 1954 begann das Desaster, das Bauwerk wies vor der Ausschalung schon typische, schadhafte Symptome auf. Guédy starb überraschend, Laffaille nahm sich das Leben. Der herausragende Ingenieur Eugène Freyssinet (1879-1962) übernahm die Baustelle und griff dort ein, wo der Kräftefluss es forderte – entstanden und erhalten ist ein eindrucksvoller, einzigartiger Raum, für den jetzt eine adäquate Nutzung gesucht wird.

Die Siedlung Wiesberg in Forbach, gebaut von Emil Aillaud (Bild: Ursula Baus)

Die Siedlung Wiesberg in Forbach, gebaut von Emil Aillaud (Bild: Ursula Baus)

Auf der französischen Seite, direkt südwestlich an Saarbrücken grenzend, liegt Forbach, wo eine fantastische Wohnanlage des französischen Arhitekten Émil Aillaud (1902-88) aus den Jahren 1960-65 davon zeugt, wie ernst man die Wohnbedürfnisse von Menschen nahm, die nicht zu den Gutverdienern gehörten.

Luftaufnahme der Aillaud-Siedlung aus der Bauzeit (Bild: Courtesy Jean Helwig)

Luftaufnahme der Aillaud-Siedlung aus der Bauzeit (Bild: Courtesy Jean Helwig)

Den Arbeitern sollten moderne Wohnungen zur Verfügung gestellt werden. Die Bauten in Forbach antizipierten Aillauds bekannte, 1977 gebaute Tours Aillaud in Nanterre. Aillaud war für die in Lothringen ansässige Stahlindustrie tätig und baute in der Siedlung Wiesberg auch eine Kirche, die in einer ungewöhnlichen, schneckenhaus-ähnlichen Wegeführung und sorgfältig gewählter Materialität ihren Reiz bezieht.

Die Église Notre-Dame in Wiesberg, 1965 von Émil Aillaud (Bild: Ursula Baus)

Die Église Notre-Dame in Wiesberg, 1965 von Émil Aillaud (Bild: Ursula Baus)

In der Ausstellung werden weitere, zum Teil keineswegs gebührend bekannte Pretiosen aus der frühen Nachkriegszeit gezeigt, in der grenzüberschreitende Aktionen – wie in den Stadtplanungsszenarien von Saarbrücken und Mainz – den Besatzungsverhältnissen entsprachen, aber zugleich das Zusammenwirken über die Grenzen hinweg förderten. Schlendert man heute durch Saarbrücken, hört man viel Französisch, obwohl es so lang nicht her ist, dass der Franzose als „Erzfeind“ galt.

Europa statt EWG

Die deutsch-französische Freundschaft war ein politisch kontinuierlich verfolgtes Projekt, für das ein Gebäude wie die ehemalige französische Botschaft nicht hoch genug geschätzt werden kann. Der heutige saarländische Kulturminister Ulrich Commerçon (SPD) gehört nun zu den wenigen Politikern, die Baukultur nicht als Anlass für wohlfeile Sonntagsreden nehmen. Und um seine Wertschätzung der 1951-54 von Georges Henri Pingusson gebauten, ehemaligen französischen Botschaft in Saarbrücken zu bekräftigen, zog er mit seinem Ministerium einfach in dieses fantastische, keineswegs von allen geliebte Gebäude ein, dessen Erhalt der saarländische Bauminister Klaus Bouillon (CDU) kein Anliegen ist. Letzterer spricht eher vom Abriss, aus Kostengründen, versteht sich, obwohl er kein Finanzminister ist.

Architektur und Politik bedingen einander. Und anlässlich des deutsch-französischen Projektes „Resonanzen“ zum Europäischen Kulturjahr 2018 „Sharing Heritage“ lohnt es sich, in der Region Saar-Lothringen auf Spurensuche zu gehen, die weniger zur frühen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) als zu Ideen eines befriedeten Europas führt. Architektur erweist sich hier als unbestechliche, schnellem Wankelmut entgegenwirkende, historische Kraft.

1837_Berus_1_aussen

Der Fernsehturm neben der Sendehalle wurde ab Oktober 1954 von dem chinesischen Ingenieur Ou Tseng entworfen. (Bild: Ursula Baus)


– Zum Projekt „Resonanzen“ gehört eine Reihe von Veranstaltungen, siehe > hier
– Eine Bild-Strecke zum Pingusson-Bau siehe > hier.
– Zur Bedeutung der Europe 1-Sendehalle siehe Axel Böcker und Rupert Schreiber in: Die Denkmalpflege 1/2016, > zum PDF, > Quelle
– Jean Helwig danke ich für Informationen und Abbildungen zur Cité Wiesberg.