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Rosthauben

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Neben einem „Haus unter Reet“ ein „Haus unter Rost“: Mit einer typisierten Baukörperform entwickelten die Architekten des Museumsneubaus in Molfsee ein Kontinuitätsthema. Lernte man zum Beispiel in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts an den Universitäten, dass Alt und Neu doch bitte kontrastieren mögen, hat sich die Intention beim Weiterbauen nicht unbedingt zur Anpassung, aber doch zu einer Kontinuität gewandelt, die dem genius loci höhere Bedeutung beimisst.

Architekten: ppp architekten, Lübeck

Aktuell: Das Ausstellungshaus wurde gerade auf die Shortlist des DAM-Preises gesetzt.

»Eingangsgebäude Freilichtmuseum Molfsee« lautet die Überschrift ganz bescheiden bei wa (wettbewerbe aktuell) 6/2021. Was erwartet man denn beim Wort Eingangsgebäude? Eine Tür, ein Tor, eine Kasse, vielleicht noch ein kleines Museumscafé und – was inzwischen kaum noch fehlen darf – einen Museumsshop, in dem man all derartiges bekommt, was man in anderen Museumsshops auch schon gesehen, gekauft, nach Hause mitgenommen und in einem Schrank hat verschwinden lassen. Nun, für all das braucht man vielleicht einen kleinen Pavillon und nicht zwei riesig große, rostbraune, hohe Walmdächer im Format zweier stattlicher Bauernhöfe.

Die Weitläufigkeit des Freilichtmuseums mit seinen "Exponaten" erschließt regionale Baugeschichte. (Bild: Wilfried Dechau)

Die Weitläufigkeit des Freilichtmuseums mit seinen „Exponaten“ erschließt regionale Baugeschichte. (Bild: Wilfried Dechau)

Im Architekturpark

An Ort und Stelle merkt man sehr schnell, dass es gewaltig untertrieben ist, das am Rande des Freilichtmuseums entstandene Bauwerk lediglich als Eingangsgebäude zu bezeichnen. Der Begriff »Jahr100Haus«, den wir auf der > Website des Freilichtmuseums finden, kommt der Sache schon etwas näher, geht es doch darin – von der Schultüte bis zum Lastenfahrrad – um Alltagskultur der letzten hundert Jahre. Gleichsam als Ergänzung zu den im Freigelände präsentierten, bis ins 16. Jahrhundert zurückweisenden, meist bäuerlichen Gebäuden, die aus allen Ecken und Enden Schleswig-Holsteins zusammengetragen und hier sorgfältig wieder aufgebaut wurden: Ein Haubarg aus Witzwort, ein Haus von der Hallig Langneß, eine Holländermühle, die Bandreißerkate aus Haseldorf, eine Scheune aus Klein-Havighorst, das Pfarrhaus aus Grube… Zugegeben, für all die Schätze des Freigeländes blieb mir leider kaum Zeit, es manifestiert sich hier jedoch, wie wichtig es ist, Lebens- und Arbeitsweisen vergangener Generationen anschaulich zu halten und zu vermitteln.

Explosionsdarstellung (Bild: ppp Architekten)

Explosionsdarstellung: Große Nutzflächen liegen auf der UG-Ebene.  (Bild: ppp Architekten)

Google Maps hinkt zwar der Wirklichkeit immer ein klein wenig hinterher. Das hat in diesem Fall den kleinen, feinen Nebeneffekt, dass man sich das Jahr100Haus noch als Baustelle ansehen kann. So wird man gewahr, was sich alles unter der Erde abspielt. Die beiden großen Walmdächer sind nur die »Spitze des Eisbergs«, ein Großteil der Ausstellung erschließt sich im Untergeschoss, das sich unter den beiden vergleichsweise kleinen Baukörpern ausbreitet und die Maßstäblichkeit des Freilichtmuseums nicht sprengt.

Bau- und Alltagsgeschichte

Molfsee liegt etwas außerhalb von Kiel. Außer Schülern, die einen Klassenausflug machen, wird wohl kaum jemand auf die Idee kommen, mit dem Bus zu kommen. Dabei fährt vom Hauptbahnhof aus immerhin drei bis vier mal pro Stunde ein Bus zum Museum. Aber die meisten Besucher werden ins Auto steigen und bekommen das Jahr100Haus zu Gesicht, wenn sie von der Hamburger Landstraße aus auf den Parkplatz einbiegen – auf dem es angenehm knirscht, denn die große Fläche, die für Autos vorgehalten wird, ist nicht versiegelt worden.

Ankunftsseite (Bild: Wilfried Dechau)

Ankunftsseite (Bild: Wilfried Dechau)

Lageplan Museum Molfsee (Bild: ppp architekten)

Lageplan Museum Molfsee (Bild: ppp architekten)

Materialwechsel

Linker Hand sieht man den zum Restaurant umgenutzten Drathenhof, gut für eine Erfrischung nach dem Rundgang durch das Freigelände. Geradeaus fährt man auf das Jahr100Haus zu und bekommt, links daneben, einen Zipfel des Freigeländes zu sehen: die aus Algermissen hierher translozierte Bockwindmühle. Auf den ersten Blick sieht das Jahr100Haus eindeutig wie ein Bauernhof aus, stattlicher noch als manch einer, den man auf dem Freigelände anschauen kann. Aber das Material passt nicht zum Klischee. Zwar mag gelegentlich ein ursprünglich reetgedecktes Bauernhaus, um Geld zu sparen, mit Wellblech gedeckt worden sein. Aber hier wurde nun die vertraute Hausform durch CorTen-Stahl verfremdet. Rundum, bis zum Boden.

Dachformationen in unterschiedlichem Material (Bild: Wilfried Dechau)

Dachformationen in unterschiedlichem Material (Bild: Wilfried Dechau)

Links der Einschnitt für die Tür (Bild_Wilfried Dechau)

Links der Einschnitt für die Tür (Bild: Wilfried Dechau)

Baukörperkultur

Kein Strohdach, kein Fachwerk, kein Mauerwerk. Und kein Krüppelwalm an der Schmalseite. Die Traufhöhe ist rundum gleich hoch. Da ist kein Platz für die Grot Döör, also die große Tür (plattdeutsch) zur Tenne, zur Lohdeel. Die muss eingeschnitten werden. Hier aber in die Langseite. Nun wird endgültig klar, dass die erste Assoziation getrogen hat und die Irritation gelungen ist.

Assoziert sie, aber ist keine Zollinger-Bauweise: Die Holzkonstruktion (Bild: Wilfried Dechau)

Assoziert sie, aber ist keine Zollinger-Bauweise: Die Holzkonstruktion (Bild: Wilfried Dechau)

2126_Molfsee_Halle_wd_2288Gehen wir doch mal rein. Schon wieder so ein Déjà-vu. Ein hoher, sakral wirkender Raum. Die Rautenform der Holzkonstruktion kommt mir bekannt vor. Genau, die Scheune beim Gut Garkau. Aber das hier ist keine Zollinger Bauweise, sondern ein Raumfachwerk aus Holz, das mit wenig Material hohe Tragwirkung erreicht.
Und noch etwas ist deutlich anders als in Garkau, wo sich das Auge erst einmal an das schummrige Licht gewöhnen muss. Hier ist es großzügig, luftig, hell, obwohl das meiste Licht nur über ein Oberlichtband herein kommt. Man schaut gern nach oben, in den Dachraum, der je nach Sonnenstand ganz unterschiedliche Raumwirkung entfaltet. Besonders stark tritt das Relief der Konstruktion hervor, wenn die diagonal, rautenförmig verlaufenden Hölzer im Streiflicht angestrahlt werden. Nicht ohne Grund ist aus der Dachkonstruktion das Logo für das Jahr100Haus entwickelt worden.

2126_Schnitt_©pppAuf der Eingangsebene befindet sich (natürlich!) der Museumsshop und das Museumscafé »Emil & Lies’chen« (Pardon, aber das Apostroph ist falsch). Das Café ist allerdings noch nicht fertig. Es wird – wie alle anderen Einrichtungsgegenstände und Möbel – nach den Entwürfen der Architekten gefertigt. Und das dauert. Das Handwerk »brummt« zur Zeit. Da muss man auf manches nicht Wochen, sondern Monate auf Maßarbeit und Lieferungen warten. Deshalb sind auch die Seminar- und Arbeitsräume bisher erst provisorisch möbliert.

Treppe hinab zum großen, lichten Untergeschoss (Bild: Wilfried Dechau)

Treppe hinab zum großen, lichten Untergeschoss (Bild: Wilfried Dechau)

In die Ausstellungsräume muss man eine Treppe hinunter. Aber man hat nicht das Gefühl, in den Keller zu gehen. Im Gegenteil: Man geht ins Licht, das aus dem ebenfalls im Untergeschoß liegenden Innenhof hereinströmt.

Innenhof (Bild: Wilfried Dechau)

Innenhof (Bild: Wilfried Dechau)

Hier unten kann man sich für einen Rundgang durch die Ausstellungsräume oder für einen Rundgang um den Innenhof entscheiden. Aber die Grenzen sind fließend. Für ein kleines Päuschen kann man aus jedem Ausstellungsraum in den Umgang heraustreten, sich auf ein Bänkchen setzen und den beschaulichen Blick in den ruhigen Innenhof genießen. Ein bereits stattlicher Baum spendet Schatten.

Ausstellung auf der Innenhof-Ebene (Bild: Wilfried Dechau)

Ausstellung auf der Innenhof-Ebene (Bild: Wilfried Dechau)

(Bild: Wilfried Dechau)

(Bild: Wilfried Dechau)

Vom Museumsbereich kann man über einen Treppenaufgang zum zweiten walmdachgedeckten Gebäudeteil schlendern. Dort befinden sich die Bereiche Bildung und Vermittlung, sowie Arbeitsräume für die Vorbereitung von Ausstellungen.
Die Architekten hatten das große Glück, beim Bau bis zur Leistungsphase 9 dabei sein zu dürfen, das heißt, sie konnten sehr weitgehend auf alle erdenklichen, nur scheinbar nebensächlichen Details einwirken. Bei der Möblierung und bei der Beschriftung zum Beispiel wurde nichts dem Zufall überlassen. Auch wurde vereinbart, dass die Museumsleitung auf die Einhaltung des Gesamtkonzeptes achtet.

Museumsbaukunst

Zum Schluß ein Bonsche (Hamburgisch für Bonbon oder kleine Belohnung) für die Architekten: Dass Besucherbücher ausliegen, ist durchaus gängig. Dass sich darin aber auf der aktuellen, noch aufgeschlagenen Seite gleich zwei der begeisterten Besucher zur Architektur geäußert haben – und dann auch noch in höchsten Tönen, ist wohl eher ungewöhnlich: »sehr schöne Gebäude« und: »… Die Architektur ist Weltklasse. Kompliment an Alle«. Wenn über populäre Ausstellungsthemen wie die heimatverbundene Alltagskultur Schulklassen und Touristengruppen jeglichen Alters in den Kontakt mit herausragender, neuer Architektur kommen und damit vertraut gemacht werden, wie und warum sie entstanden ist und funktioniert, welche Rolle das Zusammenspiel von Konzept und Detail spielt, bleibt zumindest der Museumsbau ein Refugium der Baukultur.

 


Bauherr
Stiftung S-H Landesmuseen Schloss Gottorf

Architekten
ppp architekten + stadtplaner, Lübeck

Mitarbeiter
Jens Wätke (Projektleitung), Arne Lösekann, L. Madsen, C. Schallert, Astrid Dreiske, Ulrike Leupold, Christoph Thielecke, J. Mangels, Yvonne Eisele, Tim Weustermann, Rebekka Leitmann, Jean-Pierre Schneider

Bauleitung vor Ort
Ulrich Böttcher, Zwischenraumarchitekten, Kiel

Kunst am Bau
Arne Lösekann

Tragwerksplaner
Horn+Horn, Neumünster

Ausstellungsgestaltung
Demirag Architekten, Stuttgart

Chronik
Wettbewerb (1. Preis) 2014
Baubeginn 2017
Fertigstellung 2021

https://freilichtmuseum-sh.de/, Google Maps: https://www.google.de/maps/search/kiel+molfsee/@54.2738374,10.0757762,403m/data=!3m1!1e3