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Passend gemacht


Der Bestand wird immer mehr zum Maßstab des Bauens. Das fordert Architektinnen und Architekten – im doppelten Sinne: Sie werden benötigt und herausgefordert. Denn Einfügen heißt fortschreiben – was passend ist, kann nicht durch den Bestand allein festgelegt werden, es zeigt sich erst im Gemachten. Wie Architektur Qualitäten des Ortes aktivieren, den Bestand aufwerten und stärken kann, zeigen drei Beispiele aus Schwaikheim, Gaiberg und Rüsselsheim

Architekten: Prof. Markus Binder + schleicher.ragaller Freie Architekten BDA - Fotografie: ©Zooey Braun - Veroeffentlichung nur gegen Honorar, Urhebervermerk und Beleg / permission required for reproduction, mention of copyright, complimentary copy, FUER WERBENUTZUNG RUECKSPRACHE ERFORDERLICH! / PERMISSION REQUIRED FOR ADVERTISING!

Gut durchdacht in Material, Form und Konstruktion. (Bild: Zooey Braun)

Wohn- und Werkhaus Weilerstraße

Schwaikheim bei Stuttgart ist einer jener Orte, in denen die Attraktivität der wirtschaftlich prosperierenden Region und der Landeshauptstadt deutlich zu spüren ist. Die Verkehrsanbindung ist günstig, Wohlstand und Wohnungsknappheit gehen Hand in Hand, Wohnsiedlungen sind die dominierende Bebauung, das Ortszentrum kann dies nur teilweise kompensieren. Gleichzeitig ist hier auch noch der ländliche Charakter zu erkennen, der diesen Ort lange Jahrhunderte geprägt hat, wenn auch die Landwirtschaft hier keine nennenswerte wirtschaftliche Größe mehr ist. All dies ist im Wohn- und Werkhaus, das Markus Binder vom Büro CAPE, Esslingen, und schleicher.ragaller aus Stuttgart geplant haben, konzentriert – ein Haus, das von der Geschichte des Orts, seiner Gegenwart erzählt, aber auch die Erwartungen an die Zukunft aufgreift.

Nah am Ortskern, nicht weit zum Ortsrand, findet sich das Ensemble aus einem dreigeschossigen Wohnhaus und dem eingeschossigen Werkhaus so in den Hang integriert, dass an der Rückseite im Untergeschoss noch ein offene Einstellhalle für den landwirtschaftlichen Nebenerwerb Platz gefunden hat. Flach geneigt sind die Dächer, so dass wenig unwirtschaftlicher Dachraum entsteht, aber dennoch die ortstypische Bebauung aufgegriffen wird. Auffallend ist vor allem die Fassade aus dunkel lasiertem, sägerauem Holz – zur Straße hin ist sie geschlossen, abstrahiert die hier vorzufindenden Haus- und Gebäudetypen, lässt offen, was sich dahinter verbirgt: Scheune, Remise oder Wohnhaus. Tatsächlich standen hier bis vor Kurzem ein landwirtschaftliches Ensemble aus großer Scheune und kleinerem Wohnhaus. Der im Ort verwurzelten Bauherrenfamilie lag daran, den Charakter der Bebauung zu wahren, den des Orts zu stärken, und neuen, zeitgemäßen Wohnraum zu schaffen. Und so ist nun, anders als zuvor,  das Wohnhaus mit sechs großzügigen Zweizimmerwohnungen das größere Gebäude und das kleinere das Werkhaus, in dem der Bauherr noch in überschaubarem Umfang der Zimmerei nachgeht. Es ist so zurückversetzt, dass beide Häuser einen Werkhof bilden.

Nachhaltig sollte das neue Ensemble sein, und da der Bauherr eben gelernter Zimmermann ist, lag es nahe, das Gebäude aus Holz zu konstruieren. Lediglich die den Hangversprung aufnehmenden Sockel sind aus Sichtbeton, darüber sind Wände und Decken aus Holz – ein ressourcenschonendes Material, dank kerngedämmtem Sockel und hoch gedämmter Gebäudehülle erreicht man den KfW 55-Standard, eine PV-Anlage kann zudem einen Großteil des Energiebedarfs decken. Gut durchdacht ist auch die Konstruktion: die Außenwände tragen, ein durchlaufende Träger in der Mittelachse ermöglicht kurze, einheitliche Spannweiten und schlanke Decken, fein austariert das Zusammenspiel der Materialien von Garagentoren und Eingangsbereich, Fassade und Sockel. Und so ist dies Gebäude nicht nur formal eines, das sich bestens in den Kontext fügt – auch die Haltung, in einer Mischung aus Pragmatik, Handwerk und dem Wunsch, etwas langfristig Wertvolles zu schaffen, ist eine, die dem Ort gut tut.




Ort: Weilerstraße 19, 71409 Schwaikheim
Bauherrenschaft: Bauherr:innengemeinschaft Wössner und Hiss, Schwaikheim
Architektur: CAPE Binder Hillnhütter Deisinger, Esslingen mit schleicher.ragaller freie architekten bda, Stuttgart; Projektleitung: Claudia Kaufmann
Tragwerksplanung: Werner & Balci, Esslingen
HLS-Planung: JSP Jürgen Schroth, Nürtingen
Bauphysik: Jens Wössner, Weilerstraße 19, Schwaikheim
BGF: 804,7 qm (587,3 qm Wohnhaus, 217,4 qm Werkhaus)
Baukosten: 1,95 Mio. Euro (KG 100-700 brutto)
Fertigstellung: 2020
Fotografie: Zooey Braun, Stuttgart

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Blick den Hang hinauf auf Kirche und Rathaus (links). (Bild: Brigida González)

Neue Ortsmitte Gaiberg


Eine Ortsmitte mit einem alten, nicht mehr genutzten Gasthaus am Hang, eine Ortsmitte, der die Fläche zur Begegnung fehlte – in Gaiberg in der Nähe von Heidelberg hatte man sich zwar entschieden, das Gasthaus in dieser Mitte abzureißen, wie aber der so gewonnene Raum so genutzt werden könnte, dass er auch ein Gewinn für die 2500 Bewohnerinnen und Bewohner sein würde, darüber bestand Unklarheit.

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Alter Zustand. (Bild: Ecker Architekten)

Also lud man vier Büros ein, Vorschläge zu machen – das Büro Ecker setzte sich mit einem Entwurf durch, der unter dem Parkplatz der benachbarten Bank einen Raum für Gastronomie und Versammlung vorsah und die übrige Fläche am recht steilen Hang mit fünf Metern Niveauunterschied so zu terrassieren vorschlug, dass gut nutzbare Freiräume entstehen können, die zwischen oben und unten vermitteln, die Sichtachsen zu Rathaus und Kirche öffnen und so diese beiden Häuser in den Stadtraum einbinden. Eine Verkehrsinsel wurde entfernt und die Verkehrsführung so geändert, dass nun eine kleiner Vorplatz vor dem Rathaus entstehen konnte und der Raum unterhalb der Kirche so aufgeweitet wurde, dass man von einem Platz reden darf, der Kirche, Rathaus und neue Mitte zueinander in Bezug setzt.

Im ganzen Ort ist inzwischen Tempo 30 vorgeschrieben, der gelbliche Granit, der für den Außenbereich ausschließlich verwendet und in traditionellen Techniken verlegt wurde, setzt die neue Mitte von der Straße ab und definiert sie als einen in den Straßenbereich ausgreifenden Raum. Die Terrassierung schützt die unterhalb des Straßenniveaus angelegten Freiflächen vor dem Lärm der Landesstraße, die auf dem oberen Niveau verläuft, deswegen ist der erste Versprung höher angelegt. Platzfläche an der Straße oben und die Freiflächen unten sind so deutlich gegeneinander abgesetzt. Auf der untersten Ebene wurde eine wassergebundene Decke als Belag gewählt, ein das Gelände durchziehender Wasserlauf leitet zum in die untere Stützmauer eingebauten Brunnen, der den alten, der sich hier befunden hatte, ersetzt. Sitzquader wurden integriert. Zu dieser unteren Ebene hin öffnet sich mit großzügiger Verglasung der etwa 85 Quadratmeter große Raum hinter tuffsteinverkleideten Wänden. Da auf seinem Dach geparkt werden musste, hatte die Decke hohe Traglasten aufzunehmen. So wie der Hang durch die Terrassierung seine charakteristischen Qualitäten bekommt, so wurde auch hier aus der Schwierigkeit eine Qualität abgeleitet: Dach und Wand sind als Faltwerk aus ebenen Dreiecken ausgeführt, das dem Raum zu etwas Besonderem macht.

Wegen der Pandemie konnte noch kein Pächter gefunden werden – doch dass sich inzwischen auf den Außenflächen ein Markttag etablieren konnte, zeigt, dass hier die richtigen Schritte unternommen wurden, um die Ortsmitte zu einem Raum der Gemeinschaft zu machen.




Ort: Hauptstraße 25, 69251 Gaiberg
Bauherrin:  Gemeinde Gaiberg
Architektur/Innenarchitektur: Ecker Architekten BDA+BDIA, Heidelberg
Team Ecker Architekten: Dea Ecker, Robert Piotrowski, Peter Borek, Annabelle Fuchs, Joachim Schuhmacher
Frei- und Verkehrsanlagen: Ecker Architekten BDA+BDIA, Heidelberg mit SFN GmbH, Walldorf
Tragwerksplanung: Engelsmann Peters GmbH, Stuttgart
Lichtplanung: Anselm von Held, Berlin
Nettogrundfläche Gebäude: 130 qm
Frei- und Verkehrsanlagen: 1.650 qm
Fertigstellung: 2020
Fotografie: Brigida González, Stuttgart

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Zwei der sieben Häuser grenzen direkt an die Taunusstraße – hinten im Bild das abgesetzte, lindgrün verputzte Gebäude. (Bild: Sebastian Schels)

Wohnen am Verna-Park in Rüsselsheim

Parallel zum Main, zwischen der Innenstadt und der Festung, erstreckt sich in Rüsselsheim ein Bereich, der durch die traditionelle Bebauung der Hofreiten geprägt ist – innerörtlichen landwirtschaftlichen Anwesen mit giebelständiger Bebauung und je einem Wirtschaftshof, eine Art Kettenhausbebauung älterer Prägung. Häuser für die Arbeiter der Opel-Werke schrieben dieses Bebauungsprinzip fort, das sich trotz einiger unsensibler Eingriffe immer noch gut ablesen lässt. Gegenüber dem am Main liegenden Verna-Park sollte hier ein längliches Areal neu bebaut werden, das sich in zweiter Reihe in die Tiefe des Grundstücks erstreckt und an drei unterschiedlichen Stellen an den Straßenraum angrenzt. Die Bauherrin, die Rüsselsheimer Wohnungsgesellschaft Gewobau, hatte dafür einen Wettbewerb ausgeschrieben, den das Münchner Büro Baur & Latsch (noch unter dem Namen Thaler Latsch) gewann. Die Architekten orientierten sich an der vorgefundenen Struktur und dockten mit ihrer Bebauung aus insgesamt sieben Häusern so an den Bestand an, dass eine neue Raumsequenz entsteht, die unaufdringlich die vorhandene Struktur fortschreibt und ihr neue Qualitäten hinzufügt. Jedes Haus ist in Größe und Orientierung so eingepasst, die Häuser so gegeneinander versetzt, dass sich eine Reihe aus hellen, freundlichen und unprätentiösen Häusern ergibt, die die durch einen gemeinsamen Freiraum aus Wegen, Zugängen und kleine Grünräumen zusammengebunden werden.

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Nördlicher Zugang zur in zweiter Reihe errichteten Häusern von der Frankfurter Straße aus. (Bild: Sebastian Schels)

Dank des hellen, geschlämmten Klinkers, den teils vorgestellten Eingangsbereichen mit Bögen vorne sowie vorgesetzten Holzregalen für Balkone und Loggien hinten ergibt sich eine Stimmung leicht mediterranen Charakters, verstärkt noch durch die flache Dachneigung, die drei Vollgeschosse ermöglichte, ohne die Nachbarn zu sehr zu überragen. Vorweggenommen ist die Kultur des An- und Weiterbauens, aufgenommen die der vorgesetzten Holzkonstruktionen der landwirtschaftlichen Bebauung früherer Tage. Zur Straße hin eher geschlossen, mit Lochfassaden, in denen sich die variierenden Grundrisse abzeichnen,  öffnen sich die Häuser großflächig nach Süden und in den inneren Bereich hinein.

Insgesamt 50 Wohnungen sind auf die Gebäude verteilt, der Mix enthält Wohnungen für Singles, Studierende, Familien und barrierefreie Wohnungen für Senioren. Um die Fassaden in das Umfeld einzubetten, wurde ein roter Backstein mit Kohlebrand und einer hellen eingebrannten Schlämme veredelt. Die individuell angefertigten Klinker wurden handwerklich in Riemchen gebrochen und im Mörtelbett auf die Fassaden aufgebracht – eine Vollklinkerfassade hatte das Budget nicht hergegeben, denn um bezahlbaren Wohnraum zu sichern, waren die Baukosten streng gedeckelt. Am südlichen Ende, etwas abgesetzt von den anderen, bekam lediglich das siebte Haus, das an der Ecke, einen lindgrünen Putz. Die Farbe spiegelt die der Villa, die am nördlichen Ende des Areals das Eckgrundstück besetzt, sie zu wählen war aber auch deswegen eine kluge Entscheidung, weil es so besser in den heterogenen Bestand fügt. Es entsteht so nicht der Eindruck , hier hätte man eine Wohnanlage in den Bestand hineingezwängt. Und es zeigt, wie sorgfältig die Architekten diesen Bestand studiert haben.




Ort: Frankfurter Straße 41, 65428 Rüsselsheim am Main
Bauherrin: gewobau Gesellschaft für Wohnen und Bauen Rüsselsheim mbH
Architektur: Baur & Latsch Architekten PartG mbB, München | Thaler Latsch und Partner Architekten mbB | + architekten GbR, Frankfurt am Main
Freiraumplanung: HinnenthalSchaar Landschaftsarchitekten GmbH, München | FREIRAUM Rabsilber + Heckmann GbR, Wiesbaden
Tragwerksplanung:  Weisbrod + Partner, Osthofen
HLS: eta energietechnik und technische ausrüstung ingenieurbüro
Grundstücksfläche: 3.160 qm
Bebaute Fläche: 1.380 qm (ohne Tiefgarage)
Brutto-Grundfläche: 6.250 qm
Wohnfläche: 2.625 qm
Fotografie: Sebastian Schels