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Selbstanzeige

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Stilkritik (78) | Die wichtigste Aufgabe der Gegenwart: Was tun mit dem Bestand? Auch den vermeintlich guten Geschmack gibt es nicht klimaneutral. Ein komfortables altes Haus umzubauen, nur weil es einem nicht gefällt, ist selbstverständlich eine Umweltbelastung. Aber wenigstens kann man sich damit sehen lassen. Ein Bekenntnis.


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Neue Tür, zuvor zu wenig Licht drinnen?

Heilige Greta!

Sie hat uns die Augen geöffnet. Wir wissen jetzt, es genügt nicht, Jutebeutel statt Plastiktüten zu benutzen und auf Trinkhalme und Wattestäbchen zu verzichten. Es geht um mehr, wir müssen unser Leben ändern, indem wir den Konsum einschränken. Als öffentlichkeitswirksames Kontrollinstrument hat man dafür wieder die Scham eingeführt. Sie entsteht bei Kindern am Ende des ersten Lebensjahrs mit der beginnenden Selbstaufmerksamkeit und entwickelt sich mit ihren sozialen Erfahrungen. Aber selbst bei Erwachsenen ist noch nicht alles verloren. Auch wir können unsere gemeinsame Zukunft retten, indem wir zum Beispiel Flugscham, Fleischscham oder Handyscham zeigen. Nicht auszuschließen, dass gute Katholiken inzwischen bei der Beichte ihre Gewissenserforschung vertiefen und bekennen: Herr, ich habe die Spülmaschinen gesäuberten Yoghurtbecherdeckel mit dem SUV zur Sammelstelle gefahren. Gut so! Möge jeder sich selbst fragen, wo er persönlich gefehlt hat.

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Hereinspaziert! Der öffentliche Raum profitiert von der Öffnung des Hofes.

Musste das sein?

Wir zum Beispiel haben vor vier Jahren ein altes Haus bezogen. Es hätte genügt, den Maler zu bestellen und alle Räume zu weißeln, fertig. Aber was haben wir angerichtet? Waschbetonstufen durch glatten Sichtbeton ersetzt, Betonknochen durch Basaltpflaster, hellblaues Schmiedegeschnörkel durch schlichte eisenglimmernde Profile, mit Nadelfilz beklebte Holztreppen durch Stahlläufe, zwei weiße PVC-Türen gegen weiße Holztüren getauscht, dottergelben und wiesengrünen Teppichboden herausgerissen und graues Linoleum verlegt, alle Raufasertapeten entfernt, den Putz auf einem Sandsteingewölbe abgeschlagen, statt farbiger Ornamentgläser satinierte Scheiben und klares Drahtglas eingesetzt, goldeloxierte Klinken entfernt und nüchterne Edelstahldrücker montiert, anstelle der Schwanenhalsröhren Design-Flaschensiphons, eine elfenbeinfarbene Kloschüssel gegen eine weiße ausgewechselt…
Der Katalog des Luxus und der Moden ist endlos, wir kürzen ab: Es waren drei Schuttmulden mit völlig intaktem, einwandfreiem Baumaterial, die bei uns abtransportiert wurden. Das Haus braucht nicht weniger Heizung und Strom als vor dem Umbau. Es ist gar nicht viel anders, vielleicht war das alles unnötig, aber so gefällt es uns besser. Wir haben sogar das Gefühl, schmerzhafte Kompromisse akzeptiert zu haben, weil irgendwann das Geld alle war.

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Was sprach gegen Waschbeton?

Gewissensfragen

Heilige Greta: Was wir dabei Energie verschwendet, Müll produziert, CO2 emittiert und giftige Produkte um uns herum verteilt haben, das ist hunderttausendmal mehr als alles, was wir die Jahrzehnte zuvor gedankenlos zur Klimakatastrophe beigetragen haben. Aber, Greta, so ist das mit der Architektur. Da muss man ganz viel schlechtes Gewissen aushalten.
Nächste Woche schauen wir einmal in unseren Kleiderschrank. Da sieht es nicht besser aus.