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Skywalk to white Cliffs

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Rügen lockt als Reiseziel mit reizvollen Naturlandschaften und architekturgeschichtlich relevanten Tourismus-Bauten. Die jüngsten Ausstellungen anlässlich des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich (1774-1840) lenken die Aufmerksamkeit mit dem berühmten Kreidefels-Gemälde von 1818 zusätzlich auf Rügen. Dort, am berühmten Königsstuhl, ist eine Inszenierung des romantischen Panoramas entstanden, die Teil eines außerordentlichen Architekturensembles entlang der Küste ist.

oben: Links ragt die neue Ringbrücke aus dem Gelände. Der Ausguck an der Vorderkante des Kliffs ist nicht mehr zu betreten. (© Wilfried Dechau)

Ende April 2024. Mein eigentliches Reiseziel hieß Stralsund, unterwegs war ich für das Müther-Archiv,1) um das Gemeindezentrum Nikolaikirche, eines seiner weniger bekannten Bauwerke, zu fotografieren. 1975 bis 1977 hatte der aus Binz stammende Schalenbauexperte Ulrich Müther (1934-2007) das Gemeindezentrum zusammen mit dem Architekten Dietrich Otto gebaut.2)

Es bot sich ein Abstecher zur Insel Rügen an, um Orte wieder aufzusuchen, die mir vertraut waren, seit ich Ulrich Müther 1999 in Binz besucht hatte. Ulrich Müther sind 13 Bauten allein auf Rügen zu verdanken, die Urlaubsinsel ist ein Exkursionsziel für Bauingenieure und Architekten par excellance. Zwei davon sind abgerissen, manche andere nicht zugänglich. So ging es von Stralsund mit dem RE 9 nach Sassnitz, dann weiter mit dem Bus, Linie 23, bis zum Königsstuhl. Dort informatiert ein Besucher-Zentrum im Auftrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern der Stadt Sassnitz und des WWF Deutschland über die landschaftliche Eigenart des Nationalparks Jasmund, der zum Unesco-Welterbe gehört.3).

Lageplan des Nationalparks mit Brückenschleife zum Königsstuhl (© Nationalspark)

Lageplan des Nationalparks mit Brückenschleife zum Königsstuhl (© Nationalspark)

1974 …

"Lebensgefahr" auf Schildern warnte Besucher davor, nicht zu dicht an die Kante zu treten. (© Wilfried Dechau)

„Lebensgefahr“ auf Schildern warnte Besucher davor, nicht zu dicht an die Kante zu treten. (© Wilfried Dechau)

Wie hat sich dieser Ort verändert! Zum ersten Mal war ich vor etwa fünfzig Jahren dort, 1974 zu DDR-Zeiten. Mit meinem Onkel, der als Agronom in einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern lebte. Wir gingen bis ganz vorn an die Kante des Kliffs, und beim Blick auf die bizarren Kreideformationen in der Tiefe bekam ich weiche Kniee. Zum Festhalten gab’s nicht so viel. Nur einige Hinweise auf die Lebensgefahr.

… 2011 … 2022

(© Wilfried Dechau)

Kein „stairway to heaven“ (Led Zeppelin, 1971) mehr, sondern ein Skywalk. Unterhalb der Brücke sieht man noch die Stufen, die zuvor zum Aussichtspunkt führten. (© Wilfried Dechau)

Siebenunddreißig Jahre später kam ich wieder mal nach Rügen, wo im Besucher-Zentrum am Königsstuhl am 28. Juni 2011 das Projekt für eine mit Pylon rückverankerte, sehr weit frei auskragende Besucher-Brücke von Mike Schlaich (Bauingenieur) und Uta Graff (Architektin) vorgestellt wurde. Es ging darum, den weltberühmten Caspar-David-Friedrich-Blick zu sichern, ohne dafür die lebensgefährlich gewordenen Fußwege zum Kliff betreten zu müssen. Man war gewarnt. Es war es erst wenige Jahre her, dass eine Stunde Fußweg vom Königsstuhl entfernt 2005 die berühmten Wissower Klinken, durch Erosion und vom Ostseewasser unterspült, fast vollständig abgerutscht und zerbröselt sind. Also war am Königsstuhl Eile geboten. Ganz so schnell geht es hierzulande mit dem Bauen bekanntlich nicht: Die Schleifenbrücke, der „Skywalk“ wurde 2022 eingeweiht. Sie ist als einhüftige Hängebrücke konzipiert, der Brückenüberbau wurde einseitig zu einem Mast am Widerlager abgespannt. Das Brückendeck besteht aus einem verschweißten Stahlhohlkasten, der über Hängerseile mit den Haupttragseilen verbunden ist, welche die Vertikalkräfte des Überbaus zur Mastspitze hin abtragen.

Ein breiter Holzrand dient als Brüstung und gibt den Passanten ein Gefühl der Sicherheit. (Bild: Wilfried Dechau)

Ein breiter Holzrand dient als Brüstung und gibt den Passanten ein Gefühl der Sicherheit. (Bild: Wilfried Dechau)

Klare Details zeichnen den Skywalk als sorgfältig durchdachtes Bauwerk aus.

Klare Details zeichnen den Skywalk als sorgfältig durchdachtes Bauwerk aus.

Der »Skywalk« sieht aus der Luft aus wie ein zur Ostsee hin geworfenes Lasso. Leider reicht es nicht ganz bis zum Steilufer des Kliffs. So hat man, wenn man den Rundweg des »Skywalks« betritt, zwar einen zur Ostsee und zu den Kliffs der benachbarten »Viktoria-Sicht« wunderbaren Blick, aber den Schauder beim Blick in die Tiefe erfährt man nicht mehr unmittelbar, nicht mehr als Schrecken, der einem in die Glieder fährt.

Zur Viktoria-Sicht und um den Schauder des Sogs in die Tiefe zu erleben, muss man eine gute Viertelstunde auf dem Hochuferweg Richtung Sassnitz laufen.4) Der kleine, nur ganz knapp über das Kliff ragende Ausguck wurde 1865 gebaut und erhielt seinen Namen von Kaiser Wilhelm.5) 

Der alte "Viktoriablick", rührend der Hinweis auf die Lebensgefahr. (BU: Kein "stairway to heaven" (© Wilfried Dechau)

Der alte „Viktoriablick“, rührend der Hinweis auf „eigene Gefahr“. (© Wilfried Dechau)

Abwechslungsreich: der Weg entlang der Küste (© Wilfried Dechau)

Abwechslungsreich: der Weg entlang der Küste (© Wilfried Dechau)

Der Hochuferweg vom Königstuhl bis Sassnitz führt etwa 8 Kilometer weit durch die lichten Buchenwälder des Nationalparks Jasmund und bietet entlang der Steilküsten immer wieder Blicke auf die Ostsee. Wochentags ist es einer der schönsten Wanderwege Deutschlands, zumal dann, wenn die Buchen gerade ganz frisches Grün zeigen.

Kehrtwende über der Geländekante: Der Weg ist sicher. ( Wilfried Dechau)

Kehrtwende über der Geländekante: Der Weg ist sicher. (© Wilfried Dechau)

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Sehenswertes auf Rügen; zum Weiterlesen Olaf Bartels: Architekturführer Mecklenburg-Vorpommern. 2011

Architektur-Tour auf Rügen

Kurz vor Sassnitz kreuzt der Hochuferweg die Weddingstraße. Dort gibt es einen Abstieg zum Kieselstrand. So kann man sich entlang der Küste allmählich dem Musikpavillon nähern, den Ulrich Müther 1987 zusammen mit den Architekten Otto Patzelt und Dietmar Kuntzsch gebaut hat.6)

Perfekt saniert die Muschelkonstruktion, grob vernachlässigt die begleitenden Pergolen. (© Wilfried Dechau)

Perfekt saniert die Muschelkonstruktion, grob vernachlässigt die begleitenden Pergolen. (© Wilfried Dechau)

2018 wurde der Musikpavillon durch die Wüstenrot Stiftung umfassend saniert und glänzt seither in seiner ursprünglichen, sanften Farbigkeit.7) Aber das Areal drum herum wirkt sehr ungepflegt. Die Pergolen links und rechts des Pavillons bröseln vor sich hin und verfallen. Hier offenbart sich die Haltung der Sassnitzer gegenüber Geschenken. Die etwa 1,5 Kilometer weiter östlich gelegene, sanft geschwungene Fußgängerbrücke vom Kliff hinab zum ehemaligen Fährhafen war auch ein Geschenk. Den Bau der Brücke habe ich in den Jahren 2006 bis 2007 mit der Kamera begleitet und oft das Gemaule der Leute über die Brücke gehört (»So’n Blödsinn« »Brauchen wir nicht…«).

Sasnitz, Brücke vom Ort zum Hafen, Schlaich Bergermann Partner, 20*** (© Wilfried Dechau)

Sassnitz, Brücke vom Ort zum Hafen, Schlaich Bergermann Partner. (© Wilfried Dechau)

Inzwischen hat man sich offenbar an die von Mike Schlaich geplante Brücke gewöhnt. Mehr noch: Der »Balkon mit Meerblick« gilt auf der Sassnitz-Rügen-Website jetzt sogar als Wahrzeichen der Stadt. Und die Brücke ist – wahrzeichengerecht – gut gepflegt.8)
Vielleicht besinnen sich die Sassnitzer auch beim Musikpavillon einmal dessen baukultureller Bedeutung und pflegen des Umfeld mehr als nur mit ein paar nett gemeinten Narzissen. Aber das könnte noch eine Weile dauern. Bis jetzt ist auf der Sassnitz-Rügen-Website nichts zu finden zu den Stichworten »Müther«, »Musikpavillon« oder »Konzertmuschel«.

Prora, die einstige DDR-Ferienunterkunft "für alle", ist aufgeteilt und mit moderner Banalität saniert worden. (© Wilfried Dechau)

Prora, die einstige DDR-Ferienunterkunft „für alle“, ist aufgeteilt und mit moderner Banalität saniert worden. (© Wilfried Dechau)

Konsequenter ging es nicht: Der "Koloss von Rügen" bestand zunächst aus acht, insgesamt 4,5 km langen baugleichen Abschnitten, die 1945-49 bis auf fünf, nurmehr 2,5 km lange zerstört wurden. Nach dem Krieg NVA-Kaserne, verfiel das Bauwerk nach 1990. Seit 2004 privatisiert, etablieren sich banale Wohn- und Hotelanlagen. Bild: Wikifree, Steffen Löwe 2004)

Konsequenter ging es nicht: Der „Koloss von Rügen“ bestand zunächst aus acht, insgesamt 4,5 km langen baugleichen Abschnitten, die 1945-49 bis auf fünf, nurmehr 2,5 km lange zerstört wurden. Nach dem Krieg NVA-Kaserne, verfiel das Bauwerk nach 1990. Seit 2004 privatisiert, etablieren sich banale Wohn- und Hotelanlagen. (Bild: Wikifree, Steffen Löwe 2004)

Vom ZOB Sassnitz geht es weiter mit dem Bus 22 nach Prora-Ost, zum »Koloss von Prora, Südflügel« (so genannt bei OpenStreetMap.9) 1999 hatte Ulrich Müther mich hier her geführt. Nicht, um mir den drei Kilometer langen Kraft-durch-Freude-Riegel zu zeigen. Nein, in einem der damals weitgehend ungenutzten Gebäude war begonnen worden, ein Müther-Archiv aufzubauen. Von Systematik und dokumentengerechter Aufbewahrung konnte noch keine Rede sein, aber immerhin, ein Anfang war gemacht.
Inzwischen sind alle Zeichnungen, Modelle, Fotos und weitere Dokumente längst nach Wismar umgezogen, ins sorgfältig betreute Müther-Archiv.10) Vom herben Charme des KdF-Schlittens ist inzwischen ebenfalls nichts mehr übrig geblieben. Alles edelsaniert mit feinen Glasbalkonen.

Einst Rettungsstation, heute Hochzeitspavillon: Müthers Schalenkonstruktion in Binz, aufgenommen 2018 (Bild: Wilfried Dechau)

Einst Rettungsstation, heute Hochzeitspavillon: Müthers Schalenkonstruktion in Binz, aufgenommen 2018 (Bild: Wilfried Dechau)

Hurtigen Schrittes marschierte ich am Strand entlang in Richtung Binz. Bis zur Rettungsstation, die Ulrich Müther 1968 zusammen mit Dietrich Otto gebaut hat. Dieser Bau ist zum Glück in hervorragendem Zustand. Er wurde 2018 grundsaniert, wiederum mit Hilfe der Wüstenrot Stiftung, und wird inzwischen als vielgefragte location für standesamtliche Trauungen genutzt. Damit sind beste Voraussetzungen für eine dauerhafte Erhaltung dieses architektonischen Kleinods gegeben.

Binz, Bushaltestelle 2006 (© Wilfried Dechau)

Binz, Bushaltestelle 2006 (© Wilfried Dechau)

Die Bushaltestelle mit neuer Umgebung 2024 (© Wilfried Dechau)

Die Bushaltestelle mit neuer Umgebung 2024 (© Wilfried Dechau)

Von dort zurück zum Binzer Bahnhof. Auf dem Weg dorthin trifft mich der Schlag. Die mit 7 mal 7 Metern relative kleine, frei stehende, ursprünglich als Buswartehalle genutzte Hyparschale ist mit unmittelbar daneben errichteten, mediokren Bauten komplett verstellt worden. Beim Umgang mit einem baukulturell so wertvollen Solitär wären mehr architektonisches Wissen, Feingefühl und planerische Kompetenz vonnöten gewesen.
Schnell weg. Zurück nach Stralsund. Mit dem ICE.


1) https://www.muether-archiv.org/, Insel Poel nördlich von Wismar

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Gemeindezentrum St. Nikolai

2) https://de.wikipedia.org/wiki/St._Nikolai_Gemeindezentrum | https://www.wikiwand.com/de/St._Nikolai_Gemeindezentrum | https://www.moderne-regional.de/listing/stralsund-ev-gemeindezentrum | https://www.kottke-architekten.de/projekte/gemeindezentrum-st.-nikolai-stralsund | https://www.truarchitekten.de/projekte/st-nikolai-stralsund

5) Hilfreich: Interaktive OpenStreetMap-Karte des Nationalparks Jasmund https://www.nationalpark-jasmund.de/karte#
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalpark_Jasmund#Die_Geschichte_des_Nationalparkes
https://www.nationalpark-jasmund.de/
https://www.nationalpark-jasmund.de/karte#
https://de.wikipedia.org/wiki/Jasmund
https://www.koenigsstuhl.com/besucher-zentrum-am-koenigsstuhl

Nationalpark-Zentrum Königsstuhl
Stubbenkammer 2
18546 Sassnitz
038392 6617 66

2424_kuehne_solitaere_Titel6) Die muschelförmige Auskragung des Pavillons wurde 2000 als Titelbild des Buches »Kühne Solitäre« verwendet.

7) https://de.wikipedia.org/wiki/Kurmuschel_(Sassnitz)
https://structurae.net/de/bauwerke/kurmuschel
https://www.muether-archiv.org/de/bauten/detail/d/musikpavillon_kurmuschel_sassnitz_1986_1988

8) https://wilfried-dechau.de/publikationen-2/

9) https://www.ruegen.de/ueber-ruegen/inselorte/seebad-prora
https://de.wikipedia.org/wiki/Prora
https://deu.archinform.net/projekte/11208.htm