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Bild: Benno Heller
Das Atelier Kaiser Shen aus Stuttgart war gerade dabei, sich einen Namen zu machen. Mit unkonventionellen Raumkonzepten, mit Qualitäten verschiedener Kulturen, die sich in ihrer Überschneidung offenbaren. Entwürfe wie das „Mikrohofhaus“ oder das „Strohballenhaus“ von Florian Kaiser und Guobin Shen zeigen, wie wichtig der Austausch von Gedanken, Ideen und Haltungen ist. Mit dem plötzlichen und unerwarteten Tod von Guobin Shen verstummt viel zu früh für immer eine Stimme , die die Architekturdiskussion noch viel mehr als bisher schon zu bereichern versprach.

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Das Mikrohofhaus in Ludwigsburg, 2017 errichtet auf dem Mittelstreifen einer innerstädtischen Bundesstraße. (Bild: Nicolai Rapp)

Mit einem kleinen Haus auf dem Mittelstreifen der Bundesstraße 27 ist Atelier Kaiser Shen im Jahr 2018 bekannt geworden. Die Stadt Ludwigsburg und das Ludwigsburg Museum hatten anlässlich des 300-jährigen Stadtjubiläums einen Wettbewerb ausgelobt: „Raumpioniere – Wohnen auf kleinstem Raum“. Dafür stand eben jene Restfläche zur Verfügung. Das „Mikrohofhaus“ ist eine Synthese aus chinesischem Hutong, einem traditionellen Wohnhof, marokkanischem Riad und Tiny House, aus Elementen verschiedener Kulturen, die die Zusammenarbeit von Florian Kaiser und Guobin Shen kennzeichnen.

Mit 22 Jahren kam Guobin Shen, 1984 in Zhejiang in China geboren, nach Deutschland, um an der Universität Stuttgart Architektur zu studieren. Eigentlich sollte es nur ein Gastsemester werden, doch daraus wurde fast sein halbes Leben . Im ersten Semester lernten sich Guobin Shen und Florian Kaiser kennen, sie schlossen eine Freundschaft, die sich durch das gemeinsame Studium festigte und weit darüber hinaustrug. Guobin arbeitete bei Herzog & de Meuron und nach dem Diplom 2012 in der Projektleitung bei kreuger wilkins architekten, unterrichtete an der Universität Stuttgart am Städtebau Institut und am Institut für Raumkonzeptionen und Grundlagen des Entwerfens. 2017 gründete er mit seinem Freund Florian Atelier Kaiser Shen.


Studienreisen und ihre Folgen


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Haus Hoinka. (Bild: Brigida González)

Gemeinsam unternahmen sie ausgedehnte Reisen, studierten traditionelle Wohnformen in China wie in Nordafrika, waren neugierig auf die kulturelle Welt des anderen, der anderen. Neugier und Austausch führten zu Konzepten wie dem „Mikrohofhaus“, dem weitere Entwürfe folgten, in denen die Frage nach dem Raum zwischen Wohnung und öffentlichem Raum, dem gemeinsam genutzten Raum der Hausbewohnenden, eine besondere Rolle einnahm. Wettbewerbserfolge halfen, das Büro aufzubauen.

Das zweite Projekt, mit dem Atelier Kaiser Shen Aufsehen erregte, war ein Direktauftrag eines Unternehmers, der einen Prototyp nachhaltigen Bauens errichten wollte. Das „Haus Hoinka“ in der Nähe von Heilbronn verbindet ortstypische Kubatur, regionale, traditionelle Bautechnik und eine originelle Raumkonzeption. Das Mehrfamilienhaus ist mit Stroh gedämmt, die Konstruktion und die Fassadenbekleidung sind aus Holz, die Innenwände wurden mit Lehm verputzt. Um das Stroh vor Wasser zu schützen, wurde das Haus durch ein Kreuz aus Betonscheiben aufgeständert, der Raum unter dem Haus soll sich mit der Zeit füllen, die Nutzung sich finden lassen. Die Architekten, so waren Guobin und Florian überzeugt, müssen nicht für diejenigen entscheiden, die selbst besser wissen, was ihnen wichtig ist – oder es auch erst herausfinden können.


Freiheit aus Unfertigem


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Beim Haus B in Altbach (nahe Stuttgart) wird das zentrale Treppenhaus zum gemeinsamen Raum. (Bild: Atelier Kaiser Shen)

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Das Wohnheim für Geflüchtete in Schönaich ist kurz vor der Fertigstellung. Bei diesem Entwurf haben sich Guobin Shen und Florian Kaiser von Sol LeWitt inspirieren lassen.

„Unfertige Häuser“ nannten die beiden 2022 ihre Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof in Stuttgart, die ihre Auseinandersetzung mit Raumtypen und Bautechniken, mit Gebrauch und Konstruktion vertiefte und zu der eine gleichnamige Publikation erschien. Mit „Unfertige Häuser“ bekennen sich die beiden Architekten dazu, dass Architektur nur zu einem Teil von den Architekten produziert wird, sie geben damit den Nutzenden Freiheit, um für sich selbst eine andere zu gewinnen. Wenn die Nutzung nicht bis ins Detail vorhergesehen ist, ergeben sich im Entwurf Freiräume für die Gestaltung. Florian und Guobin nutzen diese mit einer Lust an Reflexion, am Erforschen und Ergründen von Raum; eine Reise, die gerade erst begonnen hatte. Konstruktive Kunst, traditionelle Bauformen, chinesische Hofhäuser, Pawlatschenhäuser aus Wien, Raumbilder der Moderne – die Wand im Besprechungsraum des Stuttgarter Büros ist mit Bildern ihrer Referenzen und Inspirationen behängt. Bei jedem Besuch findet man dort neue. So inspirierten etwa die Arbeiten von dem US-amerikanischen Künstler Sol LeWitt, vor allem dessen „Nine-part Modular Cube“ Florian und Guobin zur Gestaltung des Geflüchtetenheims in Schönaich, das derzeit fertiggestellt wird. Beim Haus Hoinka sind die Funktionen der Räume nicht definiert; eine Fotoserie von Filip Dujardin, Bezüge zu Bruno Taut und Adolf Loos zeigen, wie wichtig es ist, dass Nutzer:innen die Räume selbst interpretieren und sie so zu den eigenen machen.

Die Bauten und Entwürfe sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie befruchtend kultureller Austausch sein kann, wie sich regionale Eigenheiten mit neuen Ideen verknüpfen lassen, wie sehr sich verschiedene Welten in der Verschränkung bereichern. Guobin trug dazu mit seinem besonderen, verschmitzten Humor bei. Mit einer unbefangenen Leichtigkeit hat er sich als „Schwabinese“ bezeichnet, als wolle er damit die These des Philosophen und Sinologen François Julliens bestätigen, dass es eigentlich keine kulturelle Identität, sehr wohl aber Ressourcen gibt, die jede Kultur lebendig und wertvoll machen.

Guobin begegnete seinen Mitmenschen offen, wach, neugierig und mit einem öffnenden Lachen. Ein Lachen, das erlaubte, seine Ideen und Gedanken aufzunehmen, und es umgekehrt leicht machte, ihm die eigenen mitzuteilen. Meinungsverschiedenheiten wurden so zum Potenzial und nicht zur Konfrontation. Was daraus noch hätte entstehen können, welche Reife die Zusammenarbeit zwischen Guobin und Florian noch hätte entwickeln können, muss nun Spekulation bleiben. Florian und das Team von Atelier Kaiser Shen werden nun die vielen gemeinsamen Ideen weiterverfolgen. Bin, wie er von seinen Kolleg:innen und Freund:innen genannt wurde, starb am 28. Mai 2024 durch einen tragischen Unfall beim Klettern.