Schalen gehören zu den effizientesten Tragwerkstypen der Baugeschichte, und von eleganter Schönheit sind sie ohnehin. Mit der Sanierung des Hamburger Alsterschwimmbads ist von gmp und schlaich bergermann partner einmal mehr bewiesen, dass auch die bautechnische Sanierung – also Bestandspflege – von Schalen bestens bewerkstelligt werden kann.
Hat der Schalenbau seine beste Zeit noch vor sich? Hat er überhaupt eine Zukunft, und wenn, welche? Solche Fragen stellen sich von selbst, wenn man wieder einmal einen der schönen und seltenen Schalenbauten in Augenschein genommen hat. Hamburg-Hohenfelde, Sechslingspforte 15: Hier steht die frisch wiedereröffnete Alsterschwimmhalle, die 1968 bis 1973 gebaut worden war und keineswegs dem Ergebnis des damaligen Architekturwettbewerbs entsprach.
Das kam so: 1961 hatten die Architekten Horst Niessen und Rolf Störmer den ersten und zweiten Preis des Wettbewerbs errungen – mit Entwürfen, die vergleichsweise konventionell wirken. Auf Wunsch der Bauherrschaft taten sich beide Büros in einer Arge zusammen und zogen für die weitere Bearbeitung den Architekten Walter Neuhäusser (1926-2021) aus Limburg an der Lahn hinzu. Erst in dieser Bearbeitungsphase wurde die Idee entwickelt, das Bad mit einer großen Schale zu überdecken. Mit der Tragwerksplanung wurde das Stuttgarter Ingenieurbüro Leonhardt und Andrä beauftragt. Jörg Schlaich, damals neu im Büro, gerade 29 Jahre alt und frisch promoviert, nahm sich der Sache an – als gäbe es nichts Leichteres als eine der damals europaweit größten Schalen zu entwerfen und zu berechnen.
Modell, Messen und Rechnen
PCs standen noch nicht zur Verfügung, die ersten Commodores und Apples kamen erst 1977 auf den Markt. Computer waren damals Großrechenanlagen. Als ich 1966 an der TH Braunschweig mein Architekturstudium aufnahm, wurde gerade das halbe Obergeschoß der altehrwürdigen Carolo Wilhelmina für so eine Rechenanlage okkupiert – die nur von Eingeweihten mit Lochkarten gefüttert werden durfte. Finite-Elemente-Programme zur Berechnung komplexer Tragwerke kamen in Deutschland erst 1972 auf den Markt.1)
Danach hat man sich nicht mehr der Methode bedient, die bei der Alsterschwimmhalle noch angewandt worden ist, Kraftverlauf und Dimensionierung eines Tragwerks durch Modellstatik, das heißt, mit Hilfe eines Mess-Modells zu ermitteln.
Berechnet wurden solche Schalen damals »zu Fuß« – mit dem Rechenschieber auf der Basis von Berechnungstheorien. Ekkehard Ramm2), Schalenbauexperte und 1983-2006 Leiter des Instituts für Baustatik der Universität Stuttgart, erzählt, wie derartige Aufgabenstellungen damals angepackt wurden: »Als Student habe ich 1965 eine Studienarbeit zur statischen Berechnung des HP Schalendachs3) gemacht, alles mit Rechenschieber; mein Betreuer war der Oberingenieur Erwin Stein (1931-2018), der beratend für Jörg Schlaich bei Leonhardt und Andrä tätig war. Er hatte für den Randträger eine Theorie für einen gewundenen Balken mit veränderlichem Querschnitt entwickelt. Für die Schale habe ich Felix Candelas Membrantheorie für HPs benutzt. Das Problem lag im Extremfall beim Zusammenwirken: Trägt der Randträger die Schale oder die Schale den Randträger?«4)
Zu den Untersuchungen am Modell sagt Ekkehard Ramm: »Die modellstatischen Experimente bei R. K. Müller5) habe ich damals als Doktorand verfolgen können. Das Institut für Modellstatik war dem Institut für Baustatik und Elastizitätstheorie zugeordnet, an dem ich tätig war und das ich dann später geleitet habe.«
Vor der Tür zum Institut für Baustatik an der Universität Stuttgart, das Ekkehard Ramm geleitet hat, steht immer noch das Modell6) der Hamburger Alsterschwimmhalle; es ist eines der wenigen überhaupt noch erhalten gebliebenen Mess- und Berechnungs-Modelle.
Das Tragwerk
Das aus zwei Hyparschalen gebildete Dachtragwerk über einer Grundfläche von 4500 Quadratmetern wird von drei schrägen Diagonalstützen gehalten. Mit Spannweiten von bis zu 96 Metern zählt die 8 Zentimeter dicke Schale nach wie vor weltweit zu den größten ihrer Art. Der nordöstliche und der nordwestliche Stützenfuß sind – wegen der dort begrenzten Grundstücksverhältnisse – durch ein Zugband miteinander verbunden (siehe Bild rechts). Der südliche Stützenfuß trägt seine Lasten direkt in entsprechend ausgebildete Fundamente ab.
Formänderungen und Bewegungen der weitgespannten Konstruktion sind fortlaufend beobachtet, kontrolliert und protokolliert worden. Die Ergebnisse des Monitorings gaben nie Anlass zur Sorge. Dennoch wurde 2004 diskutiert, die Alsterschwimmhalle, wie es hieß, aus Kostengründen zu schließen (und abzureißen). Nach lautstarken Protesten aus der Hamburger Bevölkerung – die keineswegs nur stuckdekorierte Prachtbauten des 19. Jahrhunderts wertschätzt – wurde die Halle 2007 umgebaut.
Denkmalschutz
Inzwischen steht die Alsterschwimmhalle unter Denkmalschutz. 47 Jahre nach der Eröffnung wurde sie 2020 erneut für umfassende Sanierung, Umbau und Erweiterung unter Federführung des Hamburger Architekturbüros gmp geschlossen. Am 24. November 2023 ist sie feierlich wiedereröffnet worden.
Die Tribüne des 68er-Baus wurde abgebaut und durch deutlich niedrigere Einbauten ergänzt, die sich hinsichtlich der Gestaltung an den Emporen der Ostseite orientieren. Der ganze Innenraum und die Erlebbarkeit der Schale hat durch die Beseitigung der Tribünen deutlich gewonnen. Der Raum wurde heller und offener.
Schauen, prüfen, neu berechnen?
Jörg Schlaich war 1963 bis 1968 maßgeblich am Bau der Schale beteiligt. So war es nur folgerichtig, dass bei der Sanierung das Büro sbp hinzugezogen wurde. Sven Plieninger hätte am liebsten die Tragkonstruktion mit heutigen Mitteln am Computer neu berechnen wollen.7) Das hätte aber zur Folge gehabt, dass alles nach heute gültigen Vorschriften hätte gerechnet (und entsprechend nachgerüstet) werden müssen. Um nur einen Punkt zu erwähnen: Ein Zentimeter Betonüberdeckung würde heute nicht genehmigt werden (hat aber fünfzig Jahre gehalten!). So war es klüger, den Bestand lediglich zu untersuchen und zu begutachten. Und der erwies sich als gar nicht mal so schlecht. Zum einen hängt es damit zusammen, dass durch die Konditionierung der Luft im Zwischenraum zwischen Unterdecke und Schale eine für den längst karbonatisierten Beton unzuträglich hohe Luftfeuchtigkeit vermieden werden konnte. Zum anderen gab es offenbar keine Undichtigkeiten der Dachhaut, also auch von oben keine durch Wasser verursachten Schäden.
Nachdem das geklärt und begutachtet war, galt es, diesen Zustand der Schale zu sichern, die während der Sanierungs- und Umbauarbeiten für lange Zeit ungeschützt freistand. Oben mussten schnell neue Wärmedämmung und Dachdichtung aufgebracht werden. Und unterseitig wurde mit einem kathodischen Korrosionsschutzsystem dafür gesorgt, dass die Bewehrung keinen Schaden nimmt. Um auch weiterhin die Konditionierung der Luft unterhalb der Schale sicherstellen zu können, wurde wieder eine Unterdecke eingehängt. Allerdings durften dafür – auf Anraten von Sven Plieninger – keine neuen Dübellöcher in die Schale gebohrt werden. Damit sollte auf jeden Fall verhindert werden, dass durch die nur 8 cm dünne Schale durchgebohrt wird oder versehentlich Bewehrungseisen angebohrt werden. Und so geschah es.
Für die Hamburger war dieser Zwischenzustand mit gleichsam frei schwebender Schale ein aufregend ungewohnter Anblick. Auf der Baustelle blieb die Anspannung ständig sehr hoch, denn allzu starke Schwingungen und Erschütterungen mussten nicht nur von der Schale, sondern vor allem vom horizontalen Zugband ferngehalten werden. Zugband (und Längsseite des 50-Meter Beckens) waren gleichsam die Trennlinie zwischen den südlichen Bereichen unter der Schale, die so weit wie möglich erhalten wurden und jenen, die weitestgehend umgekrempelt, umgebaut und neu gebaut wurden.8) Da war das Zugband häufig im Weg.
Was atmosphärisch übrig blieb
Egal, ob nur saniert, um- oder angebaut wurde, überall wurde mit einer Materialität und Farbgebung gearbeitet, die sich am ursprünglichen Original orientiert. Unter anderem ist das der Tatsache geschuldet, dass so ziemlich alles mit den Denkmalschützern verhandelt wurde. Bei manch einem Detail hingegen hätte es gut getan, wenn gmp sich hartnäckiger gegen die Forderungen des Denkmalschutzes gestellt hätte. So mussten die ursprünglich in den Gitterstützen der Fassade als Lüftungsleitungen genutzten Rohre wieder an alter Stelle eingebaut werden, obwohl sie überhaupt nicht mehr in Funktion sind. Das ist, pardon: Denkmal-Deko. Dass sie nicht mehr in Funktion sind, kann man, wenn man genau hinschaut, deutlich erkennen. Sie hängen in der Luft – eine Handbreit über dem Boden. Offenbar sind die Architekten dem Wunsch der Denkmalpfleger nur widerstrebend und mit Schalk im Nacken nachgekommen.
Schalen-Revival?
Dass die gut erhaltene Hamburger Schale nicht abgerissen, sondern als Dach eines darunter sanierten und modernisierten Schwimmbades erhalten wurde, gleich als Revival des Schalenbaus zu interpretieren, wäre wohl zu optimistisch. Mir persönlich würde es zwar gefallen – seit Jahren habe ich einen Narren gefressen an all den großartigen Schalenbauten von Félix Candela9), Ulrich Müther10) und Heinz Isler11), aber es spricht derzeit zu viel gegen ein solches Revival.
Es ist ja nicht allein der Aufwand, der für das Einrüsten und die Schalung getrieben werden muss. Nicolas Esquillan, Ingenieur des CNIT, Paris, mit dem wohl größten überhaupt je gebauten Schalendach (Fertigstellung: 1958) benannte auf dem Gründungskongress des IASS den Aufwand mit fünfzig Prozent der Bausumme – und nur Heinz Isler widersprach dem.12) Solche Zahlen glaubt man angesichts des Gerüstwaldes beim Bau der Alsterschwimmhalle sofort. Und sowohl Ekkehard Ramm als auch Sven Plieninger bestätigten im Gespräch, dass beim Neubau einer Schale der Aufwand für das Einrüsten kaum geringer sein dürfte. Es kann auch kaum an der Schalung liegen, denn immerhin kann bei HP-Schalen mit einfachen, geraden Schalbrettern gearbeitet werden. Vieles dürfte daran liegen, dass man bei den heutigen Vorschriften für Betonüberdeckung die Vorzüge einer »hauchdünnen« Schale überhaupt nicht mehr voll ausspielen könnte.