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Sonnensegel, Regenschirm

2140_wd_20210929_143445_AussenEin herausragendes Bauwerk aus den späten 1960er Jahren ist gerettet: An einem regnerischen Tag ist das Sonnensegel, das Günter Behnisch zur Bundesgartenschau 1969 in Dortmund gebaut hatte, nach der Instandsetzung vorgestellt worden. Die eindrucksvolle Konstruktion gehört zum Schönsten, was im Rahmen der BUGAs geboten worden ist.


Dass man ein Rechtecktuch mit zwei Zeltstangen als Hochpunkte und zwei Heringen als Tiefpunkte in eine recht stabile, flatterfreie Form ziehen und zerren kann, wird nicht erst Frei Otto herausgefunden haben. Ihm aber gebührt das Verdienst, das stabilisierende Prinzip der Gegenspannung aus der Enge des Zweimann-Zelt-Vordachs in die Größenordnung eines Ausstellungspavillons getrieben zu haben. Das von ihm 1955 für die Bundesgartenschau in Kassel entworfene »Vierpunktsegel« spannte immerhin 18 Meter weit.

Frei Ottos Musikpavillon von 1955 (Bild***)

Der elegante Konstruktionstypus des „Vierpunktsegels“ begeisterte 1955 mit Frei Ottos Musikpavillon in Kassel. (Bild: freiotto.com)

Das Tuch aus einem Baumwollspezialgewebe wurde durch 16 mm dicke Stahlseile über zwei einander diagonal gegenüberstehende Kiefernholzmasten hoch und an den beiden anderen Ecken zu Betonwiderlagern herunter gezogen. Natürlich war der als Musikpavillon genutzte Bau nicht »für die Ewigkeit« gedacht. Aber dieser Prototyp eines Membrandachs, dem später der Deutsche Pavillon auf der Expo 1967 in Montreal und 1972 die Münchner Olympiadächer folgten, wird mehr als nur einen Sommer überdauert haben. Frei Ottos Versuch, das Zelt zu seinem Achtzigsten (2005) noch einmal wieder aufzubauen, verlief leider im Sande…

 

Die IGA Dortmund 1969

Die Arbeitsgemeinschaft Holz wollte 1969 mit dem Dortmunder Sonnensegel demonstrieren, was der Baustoff Holz – bei deutlich größerer Spannweite – leisten kann. Das von der Arge Holz beauftragte Büro Behnisch & Partner hatte dafür im Juni 1967 drei Entwurfsvarianten vorgelegt, die letztlich aber nicht weiter verfolgt wurden (1. Raumfolge aus pyramidischem Faltwerksystem, 2. Trägerscharen auf bepflanzten Erdwällen, 3. Raumfachwerk mit hölzernen Druckgliedern über gestalteter Landschaft). Den Zuschlag erhielt der von Julius Natterer (am Lehrstuhl Herbert Kupfer, TU München) vorgeschlagene Prototyp eines »punktgestützten Hängedachs mit den Merkmalen einer Seilnetzkonstruktion«. Die formalen Ähnlichkeiten zu Frei Ottos Kasseler Vierpunktsegel sind nicht von der Hand zu weisen. Viele Köche haben – in diesem Fall – den Brei nicht verdorben. An der endgültigen Formfindung hatte Julius Natterer, der später eine wichtige Rolle im experimentellen konstruktiven Holzbau einnahm, einen wesentlichen Anteil. Seitens des Bauherrn Arge Holz einigte man sich schließlich auf folgende Urheber-Benennung: »Entwurf Büro Behnisch & Partner, Statik Ingenieurbüro Scholz, München, statische Prüfung Prof. Kupfer und konstruktive Beratung Julius Natterer.«

1968 wurde das Dortmunder Sonnensegel errichtet. (Bilder: TUM. Lehrstuhl für Holzbau und Baukonstruktion, Prof. Winter)

1968 wurde das Dortmunder Sonnensegel errichtet. (Bilder: TUM, Lehrstuhl für Holzbau und Baukonstruktion, Prof. Winter)

Die durch Gegenspannung entstehende Sattelform des Vierpunktsegels findet sich auch andernorts und mit anderem Baustoff wieder, als in Beton gegossene »Hyparschale«. 1959 bei der Iglesia de San José Obrero, Monterrey, Mexico (Felix Candela) oder 1968 bei Mehrzweckhalle in Rostock Lütten-Klein (Ulrich Müther).

Links der Fußpunkt der Stütze im Zustand 2019 (Bild: Hans Jürgen Landes), rechts die freigelegte Holzmembran mit entfernten, schadhaften Bereichen (Bild: Thomas Knappheide)

Links der Fußpunkt der Stütze im Zustand 2019 (Bild: Hans Jürgen Landes), rechts die freigelegte Holzmembran mit entfernten, schadhaften Bereichen.  Die Holzschale war an manchen Stellen – wie hier an einem Hochpunkt – durch Pilzbefall und Feuchtigkeit in einem baufälligen Zustand. (Bild: Thomas Knappheide)

Das lange Leben »temporärer« Bauten

Ursprünglich hätte das Sonnensegel 1969, nach Beendigung der Dortmunder IGA, abgerissen werden sollen. Aber als temporär begonnene Bauten haben oft ein erstaunlich langes Leben. Der Eiffelturm hätte ja auch nach der Weltausstellung 1889 abgetragen werden sollen, auch die fantastische Multihalle in Mannheim war temporär konzpiert. Die ersten Baumängel zeigten sich in Dortmund bereits kurz nach Fertigstellung des Sonnensegels. Die Dachabdichtung erwies sich als weniger dauerhaft als erwartet. Also wurde die weiße Kunststoff-Dachdeckung immer wieder geflickt und schließlich komplett durch Bitumendachbahnen ersetzt. Undichtigkeiten setzten im Laufe der Zeit natürlich auch der Holzunterkonstruktion zu. 1974 mussten zwei der Holzrippen instandgesetzt und Schäden am östlichen Tiefpunkt behoben werden. 2009 wurden Stützen und Spannseile durch hinzugefügte Stahlelemente ertüchtigt. So wurden die kreuzförmigen Holzstützen durch Winkelprofile und die Zugseile durch je ein weiteres Zwillingsseil mit kräftiger Kopfplatte verstärkt. All diese »Krücken« beeinträchtigten die Wirkung des ursprünglich so grazilen Sonnensegels sehr stark. Fäulnis und Pilzbefall setzten der Holzkonstruktion immer mehr zu. Zwischenzeitlich drohte sogar der Abriss, weil die Tragfähigkeit gefährdet war und die Sanierung zu aufwändig erschien.

Am Tag, an dem das sanierte Sonnensegel vorgestellt wurde, diente es als guter Regenschirm. (Bild: Wilfried Dechau)

Am Tag, an dem das sanierte Sonnensegel vorgestellt wurde, diente es als guter Regenschirm. (Bild: Wilfried Dechau)

Let’s do it!

Dass der Abriss abgewendet werden konnte, ist im Wesentlichen der Wüstenrot Stiftung zu danken, die bereits bei einigen wesentlichen Bauten vor allem der Nachkriegszeit aktiv und erfolgreich Denkmalschutz betrieben haben (zum Beispiel bei Müthers Musik-Muschel in Sassnitz, bei Eiermanns Gedächtniskirche in Berlin…). Ach, wenn es doch flächendeckend „Filialen“ der Wüstenrot Stiftungen gäbe! Zu tun gibt es im Bestand mehr als genug, zu dem weder die offizielle Denkmalpflege in der Lage, noch die Privatwirtschaft willens ist.
Nach Hinweisen des Landesdenkmalamtes nahm sich also die Wüstenrot Stiftung des Sonnensegels an und prüfte 2017 mit einer Machbarkeitsstudie die Möglichkeiten einer denkmalpflegerischen Sanierung. Das anschließende Instandsetzungskonzept wurde von den Stuttgarter Ingenieuren knippershelbig entwickelt und unter Koordination von HWR Architekten ausgeführt. Am 29. September präsentierten Eigentümerin, Bauherrin, Planer und Architekt, was dabei herausgekommen ist. Das für die Jahreszeit ungewöhnliche »englische« Wetter machte dabei deutlich, dass das Sonnensegel sehr wohl auch als Regenschirm funktioniert.

Pflege statt Rekonstruktion

Ohne die großartige Leistung bei der Sanierung des Sonnensegels gering schätzen zu wollen, kann ich mich eines ketzerischen Kommentars dann doch nicht enthalten: Die Sanierung war so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. Wäre es denkbar gewesen, tatsächlich abzureißen und das Sonnensegel nach alten Plänen unter Vermeidung der alten Detailfehler wieder aufzubauen – ohne gleich eine Rekonstruktionsdebatte zu befeuern und die Argumente der Denkmalpfleger (als „Substanzapostel“) geringzuschätzen?
Nein, ein anderer Weg muss in Deutschland endlich für die Wertschätzung des Bestands festgeschrieben werden: Die Japaner pflegen ihre Holz-Tempel in kontinuierlicher Erneuerung. Kontinuierliches Pflegen guter Bausubstanz wird in Deutschland leider nicht als Pflicht verankert. Und erst wenn es viel zu spät ist, wird nach baukulturellem Engagement wie jenem der Wüstenrot Stiftung gerufen. So kann es nicht bleiben, wenn uns Bestand als Basis der Baukultur etwas wert ist.