Nach langer Pandemie-Pause häufen sich überall Nachhol-Ereignisse, vertagte Jubiläen, nachgereichte Preisverleihungen – von Buchpremieren und Galerievernissagen gleich im Dutzend ganz zu schweigen. Was hektische Metropolenbürger ins Schwitzen bringt, kann andernorts einen gehörigen Rummel bescheren, ein Aufflackern kultureller Belebung, dem man gern längere Dauer wünscht – auch in einer besonders abgelegenen Gegend.
Eine Kleinstadt in Deutschland, und im Prinzip die übliche Geschichte: Einer von den Jungs hat es geschafft. Hatte „irgendwas mit Software“ gegründet, war in die weite Welt aufgebrochen und dort an ein paar wirklich große Player geraten. Sehr zu seinem Vorteil natürlich, nicht zuletzt finanziell. Ein Gewinner dank Fleiß und Talent, man kann es nicht anders sagen. Und war dabei seiner Heimatstadt immer verbunden geblieben, diesem Nest, dem es nicht mehr gut ging, seit die hier tonangebende Industrie von einer Konjunkturflaute in die nächste schlitterte. Unser Glückspilz sah den Niedergang mit Trauer, und so regte sich der Wunsch, der darbenden Heimat von seinem ökonomischen Überschuss etwas ab- und zurückzugeben. Einfach was tun, die Misere zu lindern. Weil ihm bei seinen Besuchen unter den zahlreich leerstehenden Gebäuden ein eleganter Pavillon ins Auge fiel, kaufte er diesen kurzerhand. War auch nicht teuer, das gläserne Gehäuse, das womöglich Randalierern oder missgünstigen Rathausbeamten zum Opfer fiele, würde man nicht rechtzeitig handeln. Also erst mal sichern, „irgendwas mit Kultur“ passt doch überall rein …
Ganz so alltäglich, wie man bis hier womöglich denkt, ist die Sache nicht. Denn was nach westdeutscher Provinznormalität klingen mag, ist dort, wo sich unser „Sommermärchen“ abspielt, ein wirklich spektakulärer Vorgang: Es geht um Eisenhüttenstadt. Die gleich nach dem Krieg dicht an die polnische Grenze gepflanzte Stahlkocherstadt wurde nach 1990 zum größten Flächendenkmal Deutschlands erklärt. Immense Summen hatte es gekostet, um die „erste sozialistische Planstadt der DDR“ zu einem Schaustück traditionalistischer Stadtbaukunst zu renovieren. Doch selbst aufwändigste Stadtbildpflege kann die Zukunft einer Stadt allein nicht garantieren. Dies hier ist ein Stahlstandort, um dessen Schicksal seine Bewohner immer wieder bangen – eine mittlerweile dreißigjährige Zitterpartie.
Bei dem Pavillon, der jetzt hier für ein Handgeld den Besitzer wechselte, handelt es sich um ein Objekt von historisch-typologischer Relevanz – die allererste Selbstbedienungskaufhalle der DDR. Und was für ein Teil! Unlängst noch als Nierentisch-Stil verspottet, kann man heute vom Swing des Kragdaches, vom kokett schrägen Unterschnitt der Schaufenster oder dem delikaten Profil der schlanken Alu-Rahmen einfach nur hingerissen sein. Selten hatte ein Zeitgeist so deutliche Aufbruchssignale gesetzt: Baujahr 1957, Stalin war tot, sein behäbiger Klassizismus von jetzt an verpönt. Da wollte auch die Architektur endlich fliegen.
Warum war vom Denkmalamt noch niemand auf dies Schatzkästlein aufmerksam geworden? Unserem „Global Player“ auf Heimwehtour reichte ein Blick aus dem Autofenster, um der Faszination der schmucken Vitrine zu erliegen. Ein rasch anberaumter Ortstermin machte Mut, denn trotz jahrelangen Missbrauchs als Ramsch-Oase war von der originalen Hallensubstanz erstaunlich viel übrig: 600 Quadratmeter Ladenfläche, noch immer erkennbar die einstigen Separees für Frischgemüse, Tiefkühlkost oder „Tabakbörse“. Was die konsultierten Architekten allerdings nicht liefern konnten, war eine Nutzungsidee. Irgendein Bezug zum Standort sollte doch schon sein – aber gibt es etwas, für das noch kein Museum existiert? Was immer mit DDR-Historie zu tun haben könnte, egal ob Architektur, Kunst oder Alltagsgebrauch, wird in Eisenhüttenstadt längst an wohlbekannten Adressen gezeigt und erklärt.
An eben jenen Adressen nahm man den neuen Mitspieler wohlwollend zur Kenntnis, der sich von allen bislang „üblichen Verdächtigen“ in zweierlei Hinsicht unterschied: Mangels vorgefasster Konzeptidee war er offen für alle möglichen Anregungen und Kooperationen. Und anders als bei den stets vor der nächsten Haushaltssperre zitternden kommunalen Häusern, war bei ihm offenbar immer mal wieder Geld übrig. Drohte jetzt also auch im Osten die Amerikanisierung des Kulturbetriebs? Eine Unterwerfung unter Lust und Launen privaten Sponsorings? Die mag ja vom Prinzip her immer drohen, im konkreten Fall aber griff ein anderes Arrangement: Lokales Wir-Gefühl. Im Sentiment, bei denselben Lehrern fürs Abitur gebüffelt zu haben, waren schnell Verbündete gefunden, Vertrauen gefasst, ein Probelauf für die neue Location verabredet. Ein ebenfalls aus weiter Welt just heimgekehrter Architekt brachte die verschlampten Interieurs in begehbaren Zustand, das Kunstarchiv in der nahen Kreisstadt suchte schon länger Raum für eine Sonderausstellung – fertig war der Modellversuch: Eine „Kunsthalle“ für Eisenhüttenstadt! Wobei sie im Rathaus nun überlegen, wie sie auf den losrollenden Zug noch aufspringen können.
Die Kunstausstellung „Drushba“
Noch nennt sich die neue Kulturadresse bescheiden Projektraum. Die erste Ausstellung darin gab so etwas wie den Prolog für den zu erwartenden Fest-Sommer. Die Schau heißt „Drushba“ und zeigt Gemälde, Fotografien und einen Dokumentarfilm vom größten Abenteuer-Projekt der DDR-Jugend. Zu Zehntausenden hatten sich in den 1970er Jahren junge Menschen auf die Baustellen der Erdgasleitung „Drushba“ (russisch für „Freundschaft“) anwerben lassen, ihr Trassenabschnitt lief quer durch die Ukraine. Zur Aufmunterung der schwer schuftenden Brigaden traten in den Barackencamps heimische Rockgruppen und DJs auf. Maler und Fotografen brachten von wilden Gegenden und archaischen Arbeitsbedingungen Bilder mit, die ein heute kaum noch vorstellbares, raubeiniges Arbeitsethos vermitteln, zumal an einem Gegenstand, der aktuell geopolitisch heftige Wellen schlägt. Dass sehr viele Ostdeutsche beim Thema „Erdgas-Leitung“ mit anderen Reflexen reagieren als der westdeutsche Meinungsquerschnitt, wird angesichts solch einer prägenden Generationserfahrung womöglich besser verständlich.

Das vormalige Dokumentationszentrum DDR-Alltag, ursprünglich ein Kindergarten aus dem Jahr 1953, seit Mai 2021 „Museum Utopie und Alltag“. (Foto: Wikimedia, Peter Kaminsky)
„Ohne Ende Anfang“ – die Jubiläumsausstellung
Eigentlich sollte Eisenhüttenstadt sein siebzigstes Gründungsjubiläum kalendarisch exakt im Jahr 2020 begehen, doch die Pandemie erzwang die Verschiebung aller Events in diesen Sommer. Seit dem 4. Juli ist es nun soweit – im ehemaligen „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR“, das seit kurzem unter dem Namen „Museum Utopie und Alltag“ neu firmiert, lädt eine klug inszenierte Exposition ein, sich Gedanken über die Schicksale reiner Industrie-Neustädte zu machen. Ihr Titel „Ohne Ende Anfang“ meint Bilanz und Verheißung zugleich. Im Vordergrund steht natürlich Eisenhüttenstadt, das sich für eine kritische Beschäftigung mit diesem sehr speziellen Stadttypus in idealer Weise eignet – mit seiner modellhaften Gründungsidee über alle folgenden urbanistischen Leitbildwechsel bis zum Systemumbruch und zur Krise der Stahlbranche, was letztlich zu sozialen Verwerfungen und zum Abriss ganzer Stadtviertel führte: In Eisenhüttenstadt wurde Ostdeutschlands erster Plattenbau gesprengt. Ergänzt und kommentiert wird dieses eindringliche Stadtschicksal durch vergleichende Blicke auf Schwedt, das Ölraffineriezentrum im Norden Brandenburgs, sowie auf Nowa Huta, Polens legendäre Stahlarbeiterstadt gleich neben Krakau. Überall die gleiche Diagnose: Mit dem Ende des klassischen Industriezeitalters kommt der dazugehörige Stadttypus in die Krise. Der Epochenbruch der Jahrtausendwende wird nicht nur als Gesellschaftsprojekt zu bewältigen sein, er stellt Planungsaufgaben von fundamentaler Dimension.
„Schöne Grüße aus Eisenhüttenstadt“
Wer nach der Jubiläumsausstellung noch Kraft und Neugier für lebendige Details aus der Stadtgeschichte aufbringt, der kann vom possierlichen Museumsbau, dem ehemaligen Kindergarten im II. Wohnkomplex (Architekt: Ludwig Deiters, 1953), gleich an der nächsten Ecke (zur Friedrich-Engels-Straße) noch einen leer stehenden Laden besuchen. Dort ist eine Kollektion alter und neuerer Ansichtskarten von „Hütte“ zu sehen. Nach der kritischen Expertenanalyse im Museum kommt hier Lokalpatriotismus zu seinem Recht. Immer wieder erstaunlich, mit wieviel Stolz selbst nebensächliche, wenn nicht gänzlich missratene Ecken der Stadt für bildwürdig befunden wurden. Aber wie jeder Archivar bestätigen wird, sind es gerade solch semiprofessionelle Ablichtungen, die architektonischen Stilwandel, und damit die eigentliche historische Erzählung einer Stadt, besonders gut illustrieren.
Martin Maleschka, der bereits erwähnte „Architekturheimkehrer“ und bekannt für die wahrscheinlich umfangreichste Bilddokumentation baubezogener Kunst der DDR (worüber 2019 ein handliches Buch entstand), hat als seinen persönlichen Beitrag zum 70jährigen Stadtjubiläum nun einen „Architekturführer Eisenhüttenstadt“ nachgelegt, der jedem Touristen dringend empfohlen sei, der diese architektonische Attraktion gut hundert Kilometer östlich von Berlin besucht – als Exempel einer stilbewussten Reißbrettstadt von europäischem Rang.
Ohne Ende Anfang. Zur Transformation der sozialistischen Stadt
Ausstellung bis 29. Mai 2022, Sa. und So. 11- bis 17 Uhr, im Museum Utopie und Alltag
Erich-Weinert-Allee 21, 15890 Eisenhüttenstadt
Drushba – Die Kulturkampagne zum Bau der Erdgasleitungen
Ausstellung bis 3. Oktober 2021 im Projektraum Selbstbedienungskaufhalle
Saarlouiser Str. 60a, 15890 Eisenhüttenstadt
200 Ansichtskarten von Eisenhüttenstadt
Ausstellung von Martin Maleschka und Reinder Wijnveld
bis Mai 2022 im Ladengeschäft
Friedrich-Engels-Straße 26, 15890 Eisenhüttenstadt
Architekturführer Eisenhüttenstadt
Von Martin Maleschka
135 x 245 mm, 224 Seiten, 320 Abbildungen, ISBN 978-3-86922-094-9
Berlin (DOM publishers) 2021, 28 €