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Bild oben: Die Erde bricht auf. Alle Menschen leben auf der Schräge — ein Gedankenexperiment. Masterthesis von Alina Zakrevskaya.

Die Krisen der letzten Jahre haben das Bewusstsein für die weltweiten Themen soziale Gerechtigkeit, Klimawandel und Artensterben wieder geschärft. Die Pandemie hat uns Momente der Stille gegeben. Momente, in denen uns unser bisheriges Verhalten absurd vorkam und wir scheinbar die Fragilität des Lebens spüren konnten. Die Diskussion, wie wir unser Lebensumfeld, unsere Kulturlandschaft und unsere Städte gestalten, hat wieder eine neue Dynamik bekommen. Wir sollten uns dafür ohne Verklärung fragen, welchen Einfluss Städtebau ausüben und welchen gesellschaftlich relevanten Beitrag er leisten kann.


„Städtebau.Positionen“ (17) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind. Sie endet mit dieser Folge.



„Der Glaube, dass durch Gestaltung eine humane Umwelt hergestellt werden könne, ist einer der fundamentalen Irrtümer der Pioniere der modernen Bewegung. Die Umwelten der Menschen sind nur zu einem geringen Teil sichtbar und Gegenstand formaler Gestaltung; zu weit größerem Teil aber bestehen sie aus organisatorischen und institutionellen Faktoren. Diese zu verändern, ist eine politische Aufgabe.“ Lucius Burckhardt (1)

Spätestens 1973 fand mit der Ölkrise nicht nur der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit, sondern auch die Erfolgsgeschichte der Moderne ein abruptes Ende.  Städtebau als Disziplin der Architektur schien bis dahin kaum Grenzen zu haben. Immer größer wurde geplant. Doch mit der Rezession der 1970er Jahre wurden die Folgen des ungebremsten Wachstums erstmals sichtbar. Bürgerinitiativen gründeten sich. Erste Umweltschutzgruppen wurden aktiv. Damit begann der politische Kampf, zum Schutz des baulichen Erbes der Innenstädte, der Kulturlandschaft, der Artenvielfalt und der verbliebenen Naturräume. Es war eine Reaktion auf die Anmaßung der Architekten, mit Architektur die neue Gesellschaft formen, den Menschen erziehen und die gesamte Umwelt kontrollieren zu können, auch wenn nicht alle der baulichen Verfehlungen der Zeit den Architekten und ihrer Architektur zu zuschreiben waren. Wie Lucius Burckardt fällten viele ein schnelles Urteil. Nun sollte sich die Gesellschaft verändern und damit eine humane Umwelt hervorrufen. Es war im Rückblick betrachtet eine schlichte, ja naive Antwort auf die Hybris der Moderne. In Ihrem Idealismus hat sie die Monstrosität des Menschen ausgeblendet. Das System ist geblieben, der Erfolg der Konsumgesellschaft basiert nicht von ungefähr auch auf den negativen Eigenschaften wie Bequemlichkeit, Aufmerksamkeitsverlangen und Gier. Der Mensch bleibt das Problem des Ideals der humanen Umwelt.

Beginnend mit dem Denkmalschutz und dem Umweltschutz mussten die verschiedenen Aspekte der gesellschaftlichen Kritik in die Planung integriert werden. Wurden diese auch schnell relativiert, sind die Anforderungen an die Stadtplanungen doch gestiegen. Um diesen komplexen Abwägungsprozesse zwischen den Interessen, Funktionen und Disziplinen zu bewerkstelligen, musste der Anspruch, eine konsistente räumliche Idee für die Stadt im Sinne des Städtebaus zu formulieren, de facto aufgegeben werden. Die Planung der Stadt wurde in der Folge auf eine Überlagerung funktioneller mit territorialer Logik reduziert.

Die Stadtplanerinnen und Stadtplaner reagierten in der Folge nur noch lenkend auf die Erfordernisse des Marktes. Die Vorstellung, Stadt als Gesamtes planen zu können, hatte sich überholt.

Erst seit der Wende 1989 wurde wieder groß gedacht. Das vereinigte Deutschland wurde zur Hegemonialmacht Europas, Berlin wieder zur Hauptstadt, eine Verklärung der Stadt begann. Städtebau konnte wieder Städtebau sein und Architekten endlich wieder ihre Architekturvorstellungen in Stein hauen. Leidlich übersehen wurde bei der ganzen Euphorie, dass es kein wirklicher Neuanfang war. Berlin war bereits Hauptstadt. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, doch die Befindlichkeiten der Ostberliner wurden ignoriert und mit ihnen das baukulturelle Erbe der DDR. Mit gespenstischer Geschwindigkeit verschwanden die Spuren des kalten Krieges. Angeführt vom neuen Bausenator Hans Stimmann errichteten Investoren und Architekten den Mythos vergangener, glorreicher Zeiten Berlins als Mantel für eine angebliche Rekonstruktion der Stadt. Der Trick verfing, nicht nur die Berliner wollten an die neue Größe glauben, die Idee passte einfach zu gut zum neuen Führungsanspruch der Republik. Rem Koolhaas rechnete mit dem neuen konservativen Berlin ab. Legte die Gefahr des Revisionismus offen. Für ihn war der Mauerstreifen Teil der untrennbaren Identität der Stadt.

Das für viele eingängige Modell Stimmanns setzte sich nicht nur in Berlin durch. Unter dem Begriff „Rekonstruktion der Stadt“ wurde eine historische Kontinuität behauptet, die es so nie gegeben hat.


Wo steht die Disziplin Städtebau?


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Die Erde bricht auf. Alle Menschen leben auf der Schräge — ein Gedankenexperiment. Masterthesis von Alina Zakrevskaya.

„Der Architekt ist auf dem besten Wege eine anachronistische Figur zu werden, […].“ Oswald Mathias Ungers (2)

Man darf sich nicht täuschen lassen. Architektur und damit Städtebau haben seit den 1970er Jahren konstant an Bedeutung verloren. Die wirtschaftlichen Bedingungen für Architekturbüros haben sich verändert. Der Wirtschaftsliberalismus mit seinen härteren Managementmethoden hat in den letzten Jahren die Spielregeln weiter verschärft. Das europaweite Vergabesystem, die Aufhebung der Höchst- und Mindestsätze der HOAI und systematisches Controling der Projekte haben zu einem hohen Rationalisierungsdruck geführt. Städtebau und Architektur werden dabei als Dienstleistung missverstanden, die Aufgaben zur reinen Planungsarbeit degradiert.

Außerhalb der Innenstädte, im suburbanen Raum, zeigt sich der Bedeutungsverlust der Architektur am deutlichsten. Unsere Generation ist aufgewachsen in einer hochfunktionalisierten Kulturlandschaft. Die Landschaft – zerschnitten durch die Schneisen der Infrastruktur. Die Bauten an den Ausfallstraßen, Gewerbegebieten und Knotenpunkten, ob Tankstellen, Produktions- oder Lagerhallen, Hotel- oder Bürobauten sind einheitlich gewordene Katalogware. Dieser Raum entzieht sich mit seiner hohen Komplexität und Dynamik einem einfachen Verständnis von Ordnung und Schönheit, und doch sichert gerade dieser Raum mit seiner großen Flexibilität unseren hedonistischen Lebensstandard. Städtebau und Architektur als spezifischer gebauter kultureller Ausdruck ist hier nicht zu finden. Einige von uns fasziniert die Vielschichtigkeit und Vitalität dieses Raums. Allerdings wissen wir um die Zerbrechlichkeit der Konstruktion. Unser zunehmender Konsum und unsere Mobilität zerschneiden die Landschaft weiter, fragmentartisieren den Raum, greifen die Natur als unsere Lebensgrundlage massiv an.

„Ich verlange den Widerspruch meiner Zeit voll zu leben, der aus einem Sarkasmus die Bedingung für die Wahrheit machen kann.“ Roland Barthes (3)

Das Spiel mit den Realitäten des Marktes hat nicht funktioniert, jede Kreativität trieb den Konsums weiter an. Die Widersprüche haben sich nicht aufgelöst, stattdessen betäuben wir uns mit wachsendem Komfort. Die allzu sichtbaren Grenzen unseres hedonistischen Lebensstils haben sich nicht verschoben. Auf die anstehenden Aufgaben scheint der klassische Städtebau keine Antworten zu haben. Während die einen nur politisieren und jegliche Gestaltungskompetenz aufgegeben haben, ästhetisieren die anderen mit ihren Bauten die bestehenden Verhältnisse und geben damit auf ihre Weise den wesentlichen Gestaltungsanspruch auf, der für Städtebau unerlässlich ist.

Wir müssen unseren eigenen Sarkasmus offenlegen und uns der Realität stellen. Um das Ganze zu erhalten, müssen wir alles ändern. Als Architekt*innen kennen wir die Kraft, die ein Entwurf entfalten kann, wenn es ihm gelingt, die Dialektik zwischen Innen und Außen, zwischen Privat und Öffentlich als Widersprüche aufzulösen und im Raum zu einer Architektur zu synthetisieren. Mit unserem geschärften Wirklichkeitssinn müssen wir uns wieder den Möglichkeiten hinwenden, Räume zu öffnen und Utopien zu formen. Nur wenn wir gemeinsam mit Kolleg*innen Vorstellungen für die Zukunft entwickeln, können wir wieder unseren Gestaltungsanspruch erheben. Es ist der utopische Gehalt, der Architektur vom Gebauten, Städtebau von Stadtplanung unterscheidet.

Die Herausforderungen der Zeit sind eine Chance, disziplinübergreifend nach Lösungen für eine Gesellschaft zu suchen, die mit ihrer Umwelt im Gleichgewicht steht. Dabei können wir mit unserer räumlichen Gestaltungskompetenz sicher einen Beitrag leisten.

Architektur war nie beschränkt auf den Aspekt der Form, sondern transportierte immer auch soziale und politische Vorstellungen. Finden wir keine gemeinsame Sprache als Basis eines kollektiven Verständnisses, verliert die Disziplin ihre Daseinsberechtigung und ihre Zukunft. Aber gerade in der Krise brauchen wir diese scheinbar anachronistische Figur, den Architekten, die Architektin, die gemeinsam mit anderen eine neue Kultur des Zusammenarbeitens entwickeln, um mit ihren Ausdrucksmitteln sich auf die Suche nach alternativen Vorstellungen von Gesellschaft zu begeben.


Die Stadt (   ) Landschaft von morgen


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Botanisches Theater. Projekt für einen universitären Garten in Bewegung. Masterthesis von David Gripp.

Mit der Aufmerksamkeitsökonomie der Konsumgesellschaft wurde Zentralität zur Falle. Die Dichotomie zwischen Stadt und Land hatte sich längst aufgehoben. Es ging nur noch um Peripherie versus Zentrum. Zuerst wollten alle ins Zentrum, danach alle aufs Land, bis sie gemerkt haben, dass sich dabei nur die Fahrtrichtung auf der Autobahn änderte, nicht aber der Lebensstil. Die Beschleunigung nivellierte die Unterschiede. Plötzlich war es still. Am Anfang war die Ruhe beinahe erdrückend. Jedes Geräusch war bemerkbar. Man fühlte sich beobachtet. Kann man Gedanken hören? Schwer senkte sich die Langeweile und erst langsam gewöhnten sich die Sinnesorgane an die neue Langsamkeit. Man sah die Insekten wieder, hörte die leisesten Geräusche. Die Gedanken bewegten sich. Was passiert morgen? Was möchte ich? Hier beginnt der Film, hier startet die Stadt (   ) Landschaft von Morgen.

Die Stadt der Zukunft entstand nicht aus den Begierden der Gegenwart, noch aus den Projektionen einer rückwärtsgewandten Nostalgie. Die Stadt der Zukunft definierte sich über die Idee einer möglichen Zukunft für die Nachkommenden.

Erst mit den Einschränkungen kam der Wandel. Erst wenn man nicht mehr erreicht werden konnte, wurde die Peripherie zur Peripherie. Erst wenn man nicht überall gleichzeitig sein wollte, konnte der Alltag das Zentrum wieder übernehmen. Stadt und Land wurden wieder als Ganzes erlebbar.

Nach mehreren Umweltkatastrophen wurde jede weitere Versieglung verboten. Das Abreißen von Gebäuden auch. Die Stadt war fertig gebaut? Nein – Architekt*innen wurden zu Archäolog*innen. Die Auseinandersetzung mit dem Bestehenden wurde zu einer Grabung durch die Schichten der Zeit. Die großen Projekte wurden hinfällig. Die neuen Formen wurden kleinteilig. Der Entwurf tastet die Stadt ab, ohne sich ihr willenlos zu unterwerfen. Die Orte entstehen parallel im Kopf. Komplexe Geometrien bilden immer wieder neue verquere Situationen und wandeln so die Paradoxien der modernen Stadt zu lebendigen Stadträumen. Neue Räume im Alten, voller Erinnerungen, die so wieder Teil der Verstrickungen des Alltags werden. Mit der Zeit und der Sorgfalt wurden die Details wieder zum Thema und Unterschiede wieder sichtbar. Architektur war nicht mehr bauen, sondern auch pflanzen, säen und pflegen. Die Stadt wurde zur Landschaft, alles bewegte und veränderte sich. Und mit Ihr die Architektur.

Das Entwerfen der Programme wurde zur Haupttätigkeit der Architekt*innen und Urbanist*innen. Da die Gebäude nicht andauernd um- oder neugebaut werden konnten, fand sich in ihnen immer Neues ein. Verschiedenste Sharing-, Miet- oder Pachtmodelle ermöglichten neue Räume für die unterschiedlichsten Idee der pluralistischen Gesellschaft. Die ständige Arbeit am Programm wurde so, wie beim Ausstellen, zu einer Arbeit des Kuratierens. Funktionierte die Komposition entstand ein Synergieeffekt. Eine Energie, die das Quartier eine Zeit lang am Leben hält. Funktionierte sie nicht, entstand schnell wieder Raum für Neues.

Die offene Gesellschaft sperrte sich selbst ein. Die Idee der offenen Grenzen war nur noch ein leerer Euphemismus. Gebäude, Siedlungen grenzten sich zur Nachbarschaft ab. Unter dem Vorwand des Naturschutzes erstellten Regionen Zugangsbeschränkungen. Die soziale Ungleichheit zeigt sich nun deutlich auch in der Abgrenzung der Areale. Jeder für sich, schufen sich all die Selbstgerechten ihr eigenes Paradies und zerstörten so die europäische Idee des durchgehenden öffentlichen Raums. Der Raum glich einem Archipel, in dem jede Gruppe sich selbst als Insel genügt. Scheinbar, denn das Ideal der offenen Gesellschaft blieb erhalten, nur der Weg dahin ist wieder länger geworden.

Viele stiegen in immer kürzeren Abständen aus dem System aus. Sabbatical, Neuanfang oder ein kompletter Ausstieg wurden fast zur Regel. Dies führte zu zwei Geschwindigkeiten. Neben der neuen Langsamkeit ist die alte Geschwindigkeit geblieben. Beide existierten nebeneinander und wie bei einem Zug konnte man ein- oder aussteigen. Es wurde einfach zu einer Frage der Selbstorganisation, wie fast alles in der Stadt / Landschaft von Morgen.

Der virtuelle Raum wirkte immer realer. Das Interface wurde immer weiter perfektioniert, sodass sich virtuelle Treffen kaum noch von realen unterscheiden. Wochenlang konnte man so im Netz leben und arbeiten, ohne den Platz zu wechseln. Und doch gab es ein Bestreben, das Leben zu rematerialisieren. Erde umgraben, Essen selbst anbauen, Tiere halten und mit eigenen Händen bauen und basteln. Was als Trend begann wurde zur Notwendigkeit, um den eigenen Körper wieder zu spüren. Denn der Körper ist geblieben, mit all seinen Problemen und Krankheiten. Dirty Realism war nicht mehr der distinguierte Blick einiger Akademiker auf die anderen. Dirty Realism wurde das neue Bewusstsein, den Tod zu akzeptieren.

Sans Fin

Es gibt kein Ende, dies ist nicht einfach ein Kinofilm, sondern das Leben. Selbst wenn wir nicht handeln, stehen wir in der Verantwortung. Der Ökozid, das Massensterben der Arten ist Realität. Die Geschichte der Stadt / Landschaft von Morgen müssen wir gemeinsam schreiben. Kapitel für Kapitel, dies war nur ein möglicher Anfang. Sieht so die Zukunft aus?


(1) Lucius Burkhart: „Design heisst Entwurf“, Studienhefte Problemorientiertes Design #3
(2) Oswald Mathias Ungers, „Zu den Prinzipien der Raumgestaltung“, Berufungsvortrag an der TU Berlin, 1963
(3) Roland Barthes. Mythen des Alltags, Paris 1956