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…es ist besser, spazieren zu gehen

2539_Stvanice_footbridge_10Es war Anatole France, der meinte: „Es ist gut, Dinge zu sammeln, aber es ist besser, spazieren zu gehen“. Seit 2001 findet die internationale Fußgängerbrücken-Konferenz „footbridge“ alle drei Jahre statt. Erstmals in Paris, danach in London, Berlin, Amsterdam, Venedig, Porto – die nächste Konferenz wird 2028 in Kopenhagen ausgerichtet. In diesem Jahr traf man sich in Chur. Drei Tage umfangreiches Konferenzprogramm, einschließlich der hervorragend organisierten und von Jürg Conzett geleiteten Exkursionen richtete sich fast eine Woche lang die Aufmerksamkeit nur auf diesen uralten Bautypus, der bis heute wunderbare Gestaltungsspielräume bietet.

Brücke über die Moldau in Prag (Bild: ©AlexShootsBuildings)

Wenn Ingenieure sich auf Konferenzen treffen, dann ausführlich (und natürlich alles auf englisch). Mit riesigem Programm, das obendrein in zwei oder gar drei »Sessions« abläuft – aber nicht nacheinander, sondern nebeneinander. Als Zuhörer wird man dabei bisweilen das mulmige Gefühl nicht los, der jeweils interessantere Vortrag laufe gerade nebenan – also wechselt man hin und wieder von einer in die andere Session. Das Gefühl, man verpasse etwas, begleitet einen dennoch weiter.
So eine Mammut-Konferenz vorzubereiten und zu organisieren, ist aber auch nicht ohne. Eine Heerschar von Gutachtern entscheidet im »Scientific Committee« vorab, welche zur Konferenz eingereichten »papers« überhaupt Aussicht darauf haben, in der Konferenz vorgetragen zu werden. Ausgewählt wurden 84.
Sicher, man könnte so ein Konferenz-Programm nach der Devise »Mensch werde wesentlich« radikal straffen. Aber damit macht man sich angreifbar, denn man müsste den Mut aufbringen, einzelne Interessensgebiete auch mal zu kurz kommen zu lassen. Um konkret zu werden: Ich hätte für die diesjährige footbridge conference auf das Thema Erhaltung, Ertüchtigung, Erneuerung gesetzt – und den »call for papers« entsprechend formuliert. Eine nächste Konferenz (in drei Jahren) könnte zum Ausgleich andere Schwerpunkte setzen.
Zum Beispiel »bridges to prosperity« oder »bridges at remote places« …
Anlässlich der Konferenz wurde der »footbridge award 2025« verliehen. Ich hatte mir darunter
den Preis für die Brücke oder für den Ingenieur vorgestellt. Doch weit gefehlt. Die siebenköpfige Jury wählte nicht einen, sondern sieben Awards. So hieß es sieben Mal: »The winner is …« in der Kategorie »short span«, dann »medium span«, »long span«, »moveable« und »new life«. Danach wurde noch der »jonathan speirs lighting award« verliehen und der »sustainability award«. So kann man das Feld immer weiter diversifizieren, bis beinahe jeder etwas abbekommt. Dem Renommee des Preises wäre eine klare Entscheidung für einen Preis deutlich zuträglicher. Passend zum Leit-Thema, das ich mir für die Konferenz gewünscht hätte, wäre das die »Umtanum Suspension Bridge Rehabilitation« gewesen. Wo ist das Problem? Das Gießkannen-Prinzip ist langweilig.

Dementsprechend wird im Folgenden nicht versucht, allen 84 Referenten gerecht werden. Ich gehe vielmehr auf drei Beiträge ein, die mich ganz besonders angesprochen haben:

– die zauberhafte Einfachheit der Brücken, die Petr Tej vorgestellt hat,
– die soziale Komponente beim Brückenbau im Vortrag von Nicola Turrini,
– die von David Knight vorgetragene Ertüchtigung einer 150 Jahre alten Hängebrücke über den River Kent.

Das heißt keinesfalls, dass mich Simon Durands zarte Loire-Brücke, Fernando Simas »moveable sails for Bilbao, Vincent Servais‘ »generic footbridges« in Eupen, Mike Schlaichs »loop bridges« in the Baltic Sea, die »Lochnagar pedestrian bridge« in London (Knight Architects), Schaun Valdovinos »three weathering steel footbridges« in Amerika oder Gianfranco Bronzinis »Punetta brigde« in Bonaduz kalt gelassen hätten. Doch es geht um die Qual der Wahl.

»New visions of sustainable design«, Petr Tej, Prag

Stvanice, HolKa-Brücke über die Moldau, 2023 (©AlexShootsBuildings)

Prag, an der Insel Stvanice, HolKa-Brücke über die Moldau, 2023 (©AlexShootsBuildings)

Kannelierter Handlauf mit Figur aus Bronze (© AlexShootsBuildings)

Kannelierter Handlauf mit Figur aus Bronze (© AlexShootsBuildings)

In Prag führt nicht nur die Karlsbrücke, die wohl ein jeder kennt, über die Moldau. Insgesamt sind es zwanzig, meist sehr schöne, mehrfeldrige Bogenbrücken. Dort, wo die Stadtteile Holesovice auf der einen und Karlin auf der anderen Seite der Moldau liegen, ist der Fluss rund 150 m breit. Vielleicht, um den anderen Brücken nicht die Schau zu stehlen, entwarf und baute Petr Tej hier etwas ganz Zurückhaltendes, Klares. Ein weißes U-Profil aus Ultrahochleistungs-Faserbeton (UHPFRC) spannt er in vier Feldern über Haupt- und Nebenarm der Moldau und erschließt damit auch die Moldau-Insel Stvanice. Fertiggestellt wurde die Brücke 2023.

Luzec, Moldau-Brücke (©BoysPlayNice)

Luzec, Moldau-Brücke (©AlexShootsBuildings)

Mit himmelwärts strebenden Pylonen und Scharen von Abspannseilen hätte er hier viel Eindruck schinden können. Dass er es durchaus gekonnt hätte, beweist die 2015 gebaute, elegante Moldaubrücke in Luzec nad Vltavou mit einer Spannweite von 130 m. Dort passt es – als die  Attraktion des kleinen Ortes.

Vaprice, Brücke über den Dretice; das extrem schlanke Profil der Brücke wird durch einen leichten Schwung in zwei Achsen stabilisiert. (©BoysPlayNice)

Vaprice, Brücke über den Dretice; das extrem schlanke Profil der Brücke wird durch einen leichten Schwung in zwei Achsen stabilisiert. (©BoysPlayNice)


Eine weitere ganz einfache, in beiden Achsen leicht geschwungene Brücke hatte es mir besonders angetan: Die Brücke wurde über den Bach Dretovice, 2018 aus UHPC (Ultrahochleistungsbeton) errichtet, hat eine Spannweite von 10 m. Sie verbindet das Dorf Vrapice mit dem auf der anderen Bachseite gelegenen Friedhof – gleichsam als »magisches Portal zwischen der Welt der Lebenden und der Toten«. Die Brücke, entworfen von Ondrej Cisler und Petr Tej, wird gleichsam bewacht und beschützt durch Jan Hendrychs Skulptur »The Guardian«.

»Bridges to Prosperity«, Nicola Turrini, Kigali

Eine Brücke aus Baumstämmen kann nur ein Notbehelf sein. (©bridges to prosperity)

Eine Brücke aus Baumstämmen kann nur ein Notbehelf sein. (©bridges to prosperity)

»Bridges to Prosperity« heißt, direkt übersetzt, »Brücken zum Wohlstand«. Passender wäre: Brücken als Entwicklungshilfe, genauer: als Hilfe zur Selbsthilfe. Mit den Worten der NGO »Bridges to Prosperity«: »Ein sicherer Zugang ist für den Erfolg fast jeder anderen Entwicklungsintervention von entscheidender Bedeutung. Ohne eine Verbesserung der Zugänglichkeit sind Armutsbekämpfung, Existenzsicherung, Wohlbefinden und Wohlstand nicht möglich.«

Eine einfache Hängebrücke erfüllt den Zweck sehr viel zuverlässiger. (© bridges to prosperity)

Eine einfache Hängebrücke erfüllt den Zweck sehr viel zuverlässiger. (© bridges to prosperity)

Seit 2001 hat die NGO Brückenprojekte in über zwanzig Ländern realisiert. Derzeit ist sie in vier Ländern tätig – Ruanda, Uganda, Äthiopien und Sambia. Dabei arbeitet sie mit den nationalen Regierungen zusammen, um die Initiativen voranzutreiben und für den Alltag der Menschen spürbar zu machen. Meist werden Brücken des Typs herangezogen, wie sie hierzulande als »Spaßbrücken« gebaut und mit Eintrittsgeldern finanziert werden – wie zum Beispiel die Brücke »Wildline« bei Bad Wildbad:
Dass solche – im Prinzip – einfachen Konstruktionen weit mehr und vor allem anderes leisten können als hiesige »Spaßbrücken«, führte Nicola Turrini an mehreren Beispielen vor. Alle Details müssen so konzipiert sein, dass (fast) ohne maschinelle Unterstützung gearbeitet werden kann. Denn die Brücken werden immer mit lokalen Arbeitskräften gebaut, die dafür angeleitet und geschult werden. Das ist auch mit Blick auf Unterhaltung und Pflege der Brücken sehr wichtig. Wo selbst kleine, je nach Jahreszeit bisweilen reißende Flüsse die Überquerung ständig oder zeitweise behindern, können ganze Regionen abgehängt sein, weil es keinen sozialen, keinen wirtschaftlichen Austausch gibt. Vergleichende Untersuchungen der NGO haben ergeben, dass Gemeinden, in denen neue Fußgängerbrücken gebaut wurden, etwa 75% höhere Gewinne aus landwirtschaftlicher Produktion haben, dass die Haushaltseinkommen um etwa 30% ansteigen und die Schulbesuchsquote von Mädchen um etwa 200%.

3. »Flood loading on heritage bridges«, David Knight, London

Das neue Kettenglied ist montiert, die Brücke begehbar. Und wenn sie immer sach- und fachgerecht behandelt und gepflegt wird, kann sie auch die nächsten 150 Jahre noch durchhalten. (© National Trust)

Ein neues Kettenglied ist montiert, die 150 Jahre alte Brücke über den Fluss Kent begehbar. Und wenn sie immer sach- und fachgerecht behandelt und gepflegt wird, kann sie auch die nächsten 150 Jahre noch durchhalten. (© National Trust)

Noch beim verheerenden Elbhochwasser im Jahr 2002 war beschwichtigend vom „Jahrhunderthochwasser“ die Rede, obwohl man es längst besser wissen konnte. Denn die angeblich nur einmal im Jahrhundert vorkommenden, extremen Hochwasser werden allmählich zu Jahrzehnthochwassern. Das alles betrifft ja nicht nur die Elbe, sondern ebenso auch den meist recht harmlos wirkenden Fluß Kent im britischen Lake District. Die 150 Jahre alte, solide konstruierte Kettenbrücke in Low Sizergh wurde beim letzten Hochwasser kräftig in Mitleidenschaft gezogen. Der Wasserstand war gar nicht mal extrem hoch, aber ein angeschwemmter, ungewöhnlich ausladender Baum hatte sich in der Konstruktion derart verhakelt, dass dabei nicht nur das Fachwerk des aussteifenden Geländers beschädigt, sondern das mittlere Kettenglied stark verbogen wurde. Dieses musste ausgebaut und ausgewechselt werden, denn es konnte durchaus sein, dass das schmiedeeiserne Kettenglied durch die extreme Formänderung versteckte Schäden davongetragen hatte. Aber wie wechselt man so ein Teil aus, ohne das Ganze zu zerstören? Weiß doch jedes Kind, dass jede Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. „Looking after Low Sizergh Suspension brige“ lautete der Untertitel von Knights Vortrag.

Die Kraftübertragung der Kette wird über eine speziell hierfür angefertigte Klammer umgeleitet. Dann kann das verbogene Kettenglied ausgebaut und ausgetauscht werden. Nach der Montage des neuen Kettenglieds kann die Klammer wieder entfernt werden. (© National Trust)

Die Kraftübertragung der Kette wird über eine speziell hierfür angefertigte Klammer umgeleitet. Dann kann das verbogene Kettenglied ausgebaut und ausgetauscht werden.
Nach der Montage des neuen Kettenglieds kann die Klammer wieder entfernt werden. (© National Trust)

Damit das defekte Kettenglied ersetzt werden kann, müssen erst einmal die Kettenkräfte mithilfe einer eigens dafür gefertigten Klammer umgelenkt werden. Erst danach kann man den Austausch vornehmen. Beim Fahrrad ist das einfacher. Wenn es steht und kein Zug mehr auf der Kette ist, dann ist das keine Kunst. Aber unter Spannung? Die Fahrradkette kann man einfach mal durchhängen lassen. Die Brücken-Kette nicht. Dann landet die Brücke im Wasser.

Vi ses i København 2028

Ganz bestimmt werden wieder Dutzende von »papers« zur Konferenz eingereicht werden. Ganz bestimmt wird wieder eine Vielzahl von Gutachtern im »Scientific Committee« darüber brüten, welche »papers« zum Zuge kommen. Ganz bestimmt werden es wieder so viele sein, dass viele »Sessions« nebeneinander her laufen. Ganz bestimmt werden wir uns darauf freuen und nach Kopenhagen kommen. Schließlich manifestiert sich im großen Interesse am Bautypus „Fußgängerbrücke“, dass Menschen sich am gesündesten und ökologisch einwandfrei zu Fuß fortbewegen.