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Stilkritik (82) | Hat ein Zug erhebliche Verspätung, gewinnen die Reisenden Zeit – und kommen an ungewohnten Orten ins Gespräch. Das winzige Zugabteil wird zum Salon.


Wieder mal Richtung Hamburg im ICE unterwegs, der hinter Kassel-Wilhelmshöhe von einem „Notarzteinsatz“ ausgebremst wird. Dann geht gar nichts mehr. Der Notarzt, die Polizei, die Staatsanwaltschaft – das betrübliche Ereignis muss routiniert verwaltet werden. Der ICE wird auf Nebenstrecken nach Hannover umgeleitet, es werde rund zwei Stunden länger dauern, meint der zerknirschte Zugchef und verweist aufheiternd auf das reichhaltige Angebot des Bordrestaurants.
Es scheiden sich, als die Hiobsbotschaft aus dem Lautsprecher ertönt, sofort hysterische Wichtigtuer von jenen, die Geduld und Gelassenheit entweder in den Genen verankert oder im Leben gelernt haben. Und dann sind da jene, die eine Verspätung aus dem Lebensplan wirft, als stünde für sie mindestens so viel auf dem Spiel wie bei einem armen Teufel, dessen Gesundheit erheblichen Schaden genommen hat.

Virtuosen des Alltags

Verspätungen machen Planungsarbeiten gleich welcher Bedeutung im Nu zunichte und schenken doch Zeit zum Reden. Im Abteil – auf engerem Raum als im Speisewagen – reisen dieses Mal Menschen, die Kolloquien, Fortbildungskurse und Meetings besuchen. Und binnen kürzester Zeit bekommt man Einblick in die Weltanalyse (Philosophie), Weltverbesserung (Sozialarbeit) und Weltorganisation (Management). Ein Architekt ist nicht dabei.
Der Herr gegenüber in handgestricktem Janker und gelber Baumwollhose kommt aus Freiburg und soll in Oldenburg in Oldenburg (in Anlehnung an die mittelalterliche Grafschaft Oldenburg, der man 1959 und 1976 die selbstbestimmte Unabhängigkeit vom Land Niedersachsen verweigerte) einen Vortrag über „Naturphilosophie“ halten. Man leidet ja hinreichend unter Firmenphilosophien, aber philosophiert die Natur? Natürlich nicht. Nachfragen scheint mir zu weit zu führen, weil der Referent wegen drohender Unpünktlichkeit ohnehin nervös ist und in seinem Manuskript schon zu kürzen beginnt. Also erinnere ich mich gerade noch an das, was die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften angeht. Aber zur Naturphilosophie gehören auch die nichtwissenschaftlichen Annäherungen an die Phänomene der Natur. Um die, so denke ich, dürfte es dem Herrn vis-à-vis wohl zu tun sein.

Zwei Damen mittlerer Jahre, ungeschminkt und bar jeder Eleganz gekleidet, fahren zu einer Fortbildung nach Detmold, ziehen nun die Ratgeber „Wege zum Ich“, „Körper und Ausdruck“ aus dem Gepäck und tauschen leise, einander unentwegt zunickend, Erfahrungen aus, deren Sinn sich den Mitreisenden nicht erschließt.
Eine weitere, offenbar professionell organisierte Dame führt drei knappe Telefonate im Befehlston und wendet sich dann zurück der Arbeit am Laptop zu: Alles wieder auf Reihe.

1950_SK_Zeitgewinn_2Lehrstücke für Architekten

Ein Mitfahrer aus Asien, abenteuerlich in eine Hose aus Kunstpelz gekleidet, war ein wenig eingenickt, wacht auf und fragt überrascht: „Hannover?“ Nein, nicht Hannover. Verspätung, delay, teilen wir mit. Er starrt auf sein Handy und zeigt mir dort die Deutschlandkarte, wo ein roter Punkt die aktuelle Position des ICE angibt. Der Asiate will nach Bremen und findet es nicht. Bremen? Jetzt nicht lachen, denke ich, und lache auch nicht, sondern bestätige: in Hannover umsteigen, es fahren halbstündlich Züge nach Bremen.
Der Asiate misstraut der Sache offenbar doch und verfolgt gebannt den roten Punkt auf der Deutschlandkarte.

Kurz vor Hannover, das wir mit 100 Minuten Verspätung erreichen, verteilt der sehr freundliche Zugbegleiter Formulare, mit denen man eine Fahrpreiserstattung beantragen kann. „Wissen Se, das war mit dem Robert Enke schon so’n Einschnitt. Enke, wissen Se, der Fussballer, schon lange her…“
Zu den beiden Ratgeber-Damen, die ihre Tupperdosen mit Möhren, Gurken und Apfelschnitzen ausgepackt haben, meint er lächelnd: „Lassen Se sich’s schmecken!“

Die Enge des Abteils, die unerbittliche Nähe zu wenigen Mitreisenden, steigert die gegenseitige Aufmerksamkeit bis zur Schamlosigkeit – ein Lehrstück für Architekten.