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Wiedergelesen: In Opposition zur Moderne

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1980 wurde ein Textbuch veröffentlicht, das aktuelle Positionen in der Architektur unter dem Titel „In Opposition zur Moderne“ vorstellte. Darin sind bemerkenswerte Beiträge versammelt. Doch ist das Buch auch in einer anderen Hinsicht aktuell. Erschreckend aktuell.

 

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Herman Hertzberger, Diagoon Häuser, Delft, 1971. Grundstruktur und Mitbestimmungsspielraum. Bild: creativecommons.org, Leuk2 / Herman Hertzberger

Gleich der erste Satz hat es in sich „Die Kritik an der Moderne ist so alt wie die Moderne selbst.“ Er  eröffnet das 1980 veröffentlichte Buch von Gerald R. Blomeyer und Barbara Tietze „In Opposition zur Moderne – Aktuelle Positionen in der Architektur.“ Die von den beiden Autoren zusammengestellte Textsammlung erschien als 52. Band der Bauwelt-Fundamente. Sie ist wert, wiedergelesen zu werden. Allerdings nicht nur, weil darin geäußerten Ansichten und Positionen durchaus auf die heutige Situation angewendet werden könnten. Sondern vielmehr auch, weil der mit 188 Seiten alles in allem überschaubare Band kritische Fragen provoziert, die nach wie vor im  Architekturdiskurs gestellt werden müssen.
So ließe sich zum Beispiel darüber nachdenken, ob der bereits zitierten Eingangssatzes nicht schon einen grundsätzlichen Fehler sichtbar macht – weil er eine Gegenüberstellung konstruiert, von der Moderne auf der einen und der Kritik an ihr auf der anderen; eine Teilung, die ausschließt, dass diese Kritik selbst zur Moderne gehört. Das Feindbild Moderne schien allerdings damals nicht nur dem Architekten und Planer Blomeyer und der Psychologin Tietze deutlich gezeichnet und ablesbar, denn sie trafen damit durchaus einen Nerv. Der Spiegel schrieb über das Buch etwa bereits im März 1980: „Wie stark die Opposition gegen Funktionalismus, Internationalismus, Modernismus mittlerweile geworden ist, läßt eine Textsammlung über ‚Aktuelle Positionen in der Architektur‘ ahnen, die in diesen Tagen erscheint.“
Der Textband ist von einer aus heutiger Sicht überraschenden Heterogenität – so finden sich darin Texte von Lewis Mumford ebenso wie von Aldo van Eyck, Joseph Ryckwert,  Peter Eisenman, Leon Krier oder Lucius Burckhardt und Walter Förderer. Es tauchen weniger bekannte Namen auf: Antoine Grumbach, Chris Fawcett, Werner Rittich etwa. Bevor sie alle zu Wort kommen, stellen die beiden Autoren ihre Synopse der versammelten Beiträge dar. Sie mündet in ein Plädoyer für einen „Neuen Regionalismus“, das sich nicht nur – wenig überraschend – gegen die autogerechte und gegliederte und aufgelockerte Stadt richtet und für eine Wiederbelebung einer städtischen Tradition wirbt, sondern auch einen Modus fordert, „der in Kontrast zu den makroökonomischen Planungen der Moderne die Aneignung der Umwelt durch ihre Nutzer wieder zum Thema macht.“ Blomeyer und Tietze wollen „uneingeschränkte Planungsbeteiligung“ und „verbindliche Mitbestimmungskonzepte“ ebenso wie handwerkliche Qualifikationen von Architekten. Dass Jane Jacobs, Bernhard Rudofsky, Giancarlo de Carlo oder Christoper Alexander, die in diesem Sinne als die Zeugen einer anderen Moderne genannt werden könnten, nicht ins Buch augenommen wurden, scheint da eher der Notwendigkeit geschuldet, eine Auswahl treffen zu müssen.

Kritik und Alternativen

 

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Quinlan Terry: U-Bahnbelüftungsschacht, London 1969
Bild: Julian Osley, creativecommons.org, geograph.org.uk

Auch wenn das Buch in insgesamt zehn Kapitel gegliedert ist, lässt sich grundsätzlich eine Zweiteilung auszumachen. Der eine Teil wendet sich gegen das, was hier als Moderne identifiziert wird: gegen die Dogmen der Schmucklosigkeit, der Programm- und Materialgerechtigkeit, gegen Technikgläubigkeit und Antitraditionalismus. Hier kommen beispielsweise Lewis Mumford und Joseph Ryckwert zu Wort, der eine, Mumford, wendet sich gegen sensationelle Formen, die „nur den Zweck haben, den ästhetischen Mut des Architekten zu demonstrieren“; der andere, Ryckwert beklagt, dass die Fähigkeit, Architektur als Bedeutungsträger zu verstehen, mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt gehalten hat: „Die Wahrheit ist, dass Technologie der ‚Sohn der Kultur‘ ist (…), aber die Kultur hat nicht gelernt, ihrem riesigen Kind Rechnung zu tragen, zumindest nicht auf der bewussten Ebene.“ Venturi Scott Brown und deren Konzept des dekorierten Schuppens ist Ryckwert dann auch mehr Ausdruck dieses Problems als dessen Lösung.
Am Übergang zum zweiten Teil steht Charles Moore, dessen Beschreibung des „Einprägsamen Orts“ nicht nur wie Ryckwert auf die Rolle von Architektur als Bedeutungsträger zielt, sondern auch eine sinnlich komplexe Struktur fordert: „Ich glaube, dass es nur vernünftig ist, auf dem Gebrauch der Reichtümer, die unsere Welt bereit hält, zu bestehen, und zwar ohne Angst und Schamgefühl.“

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Lucien Kroll, Studentenwohnheim von Louvain, Brüssel, 1977, ein Projekt, das mit Beteiligung der Nutzer entstand. Bild: Christian Holl

Dieser zweite Teil setzt der Kritik an der technokratischen Moderne alternative Konzepte entgegen. Hier finden sich Herman Hertzberger, Aldo van Eyck und Lucien Kroll mit ihrer aneignungsoffenen Architektur ebenso wie Leon Krier, von dem man sich allerdings fragt, warum dessen heroische Selbstinszenierung den Autoren nicht bereits 1980 zumindest hätte unangenehm sein müssen: Formulierungen wie „Der einzige Weg der Architektur“,  „Am Anfang soll restriktiv vorgegangen werden“ oder „Wir sind uns der Größe und Schwere der Aufgabe voll bewusst“ im Text, den Krier gemeinsam mit Maurice Culot verfasste, sind desselben Geistes Kind wie die Anmaßungen, derer mehrmals Le Corbusier (wer sonst?) bezichtigt wird.
Dass Peter Eisenman aufgenommen wurde, zeugt wiederum von einer Offenheit, die zu würdigen ist. Er ist in der Anthologie vertreten, weil er die Zwangsläufigkeit ablehnt, die Konstruktion aus der Funktion oder aus auf den Menschen bezogenen Begründungen abzuleiten und sie damit moralisch bewertbar zu machen. „Ehrliche Architektur“ kann es für ihn nicht geben.

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Bob Maguire und Keith Murray: St Paul’s Bow Common, London 1960.
Bild: Ekphraster, commons.wikimedia.org

Daraus entwickelt Eisenman eine Eigenständigkeit des architektonischen Vokabulars, in denen Säulen, Wände und Volumen Variablen eines abstrakten Konstrukts werden, „ohne Bezug zu einem grundlegenderen Zustand.“
Vorgestellt wird außerdem Bob Maguire, der mit seinem Partner Keith Murray für eine zwar sparsamen, aber dennoch erfindungsreiche und direkte Architektur steht, die aus der Vielfalt des Bekannten schöpft und unter Berücksichtigung der Nutzer unvoreingenommen nach plausiblen Lösungen sucht. Voraussetzung dafür ist, „dass man überall mit offenen Augen herumläuft, sich ansieht,  wie die Dinge zusammengehen.“


Erschreckende Aktualität

Beachtlich, um nochmals auf die Einleitung und den „Neuen Regionalismus“ zurückzukommen, ist, dass Blomeyer und Tietze eine Kritik an Formen der Postmoderne vorwegnehmen, die insbesondere auf deren Beliebigkeit zielt, die ihr später noch oft genug vorgeworfen wurde. Damit zielen sie namentlich auf Aldo Rossi; bei ihm werde „die Behauptung der Aneignung über die kollektive Erinnerung anmaßend.“ Und selbstverständlich beziehen sie sich auf Charles Jencks. In dessen Leitbild des radikalen Eklektizismus sehen sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, dessen Forderung nach der „totalen Komplexität“ begehe den gleichen Fehler wie „die nach der modernen Komplexitätsreduktion“.  Blomeyer und Tietze hingegen sehen die Notwendigkeit von Regeln, „um Architektur weder der Beliebigkeit der ästhetischen Äußerung noch der ’naturwüchsigen‘ Unfreiheit außerarchitektonischer Sachverhalte zu überantworten.“
Genau darin liegt aber möglicherweise das, was sich als kritische Fragen an heutige Diskurse richten ließe. Blomeyer Tietze vertreten mit dem Bezug auf Handwerk, lokaler Tradition und Bewohnermitbestimmung eine Form des Orientierungsrahmens, der ebenso wie das, was sie an der Moderne kritisieren, einen verbindlichen Imperativ setzt – hier eben den einer lokalen oder regionalen Gemeinschaft, in der die scheinbaren Beliebigkeiten der Positionen in diesem Falle von Aldo Rossi keinen Platz haben. Im Text, den sie von Mumford für die Veröffentlichungen wählten, ist die Rede davon, dass moderne Architektur auf einem Ordnungsprinzip aufbauen müsse. „Diese Ordnung muss gleichzeitig zu einer übergreifenden Theorie menschlicher Entwicklung zusammengefasst werden.“

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Auch Regionalismus kann eine das Individuum bevormundende Gemeinschaftsidee sein. Opposition zur Moderne bewahrt davor nicht. Bild: Christian Holl

Dieser Wunsch nach einer übergreifenden Theorie kann aber wieder genau zu dem verführen, was Blomeyer und Tietze zuvor kritisiert hatten: Dass die Architekten als Experten anstelle derer, für die sie planen, entscheiden. Mehr noch – dieser Wunsch kann ja gerade dazu führen, dass auch die Architekten verpflichtet werden, im Sinne der übergreifenden Theorie zu agieren. Insofern ist dann letztlich weder überraschend, dass das Kriersche Marktgeschrei den Weg ins Buch gefunden hat, noch dass ein Text (von Werner Rittich) von 1938 aufgenommen wurde, in dem „die enge Verbindung zwischen Staatsführung und Baukunst“ gepriesen wird. Dort heißt es auch: „Der Wille zur Bodenständigkeit ist bei allen Bauten, die dem täglichen Leben dienen und keinen Anspruch auf Unvergänglichkeit erheben der der persönlichen Gestaltung des Baumeisters ünergeordnete ideele Wert.“ Was das 1938 hieß, ist bekannt. Das mag auch eine Opposition zur Moderne sein. In Opposition zu einer Moderne zu stehen, die so reduziert wird, dass sie klar konturiert ist, war so zwar Ausgangspunkt einer durchaus inspirierenden Suche nach anderen Sichtweisen, den Autoren geriet sie am Ende aber doch zur selbstgestellten Falle. Ihr Verständnis einer Opposition zur Moderne ist letztlich eine Kritik, die sich dieser Kritik nicht selbst zu stellen braucht. Eine solche Opposition zur Moderne kenne wir auch 2017. Darin ist das Buch bedauerlicherweise erschreckend aktuell.


Gerald R. Blomeyer, Barbara Tietze:  In Opposition zur Moderne: Aktuelle Positionen in der Architektur. Ein Textbuch. Braunschweig, Wiesbaden 1980.
Bauwelt Fundamente, Band 52
Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind Zitate diesem Band und den Texten der jeweils genannten Autoren entnommen