Fragen zur Architektur (15): Die Stadt weiter zu verdichten, ist in Zeiten der brisanten Wohnungsfrage eine normativer Imperativ. Es wäre Zeit, auch darüber nachzudenken, wie das architektonisch artikuliert werden kann. Das wird kaum gelingen, wenn man die Städte ohne ihre Ränder in den Blick nimmt.
Lapidar liest es sich in Jürgen Osterhammels „Verwandlung der Welt“ über das 19. Jahrhundert: „Der Cowboy war im Grunde eine lateinamerikanische Erfindung: Erst über die großen Viehfarmen Nordmexikos verbreitete er sich nach Texas und von dort in den übrigen Wilden Westen.“ (1) Ausgerechnet der Cowboy, diese verherrlichte Inkarnation des US-amerikanischen Siedlungs- und Pioniermythos, ist also ein Nachfahre genau jener Grenzgänger, vor denen Donald Trump heute meint sein Land schützen zu müssen. Der einigermaßen Geschichtsbeflissene wird sich über dieses bemerkenswerte Detail freuen, darüber wundern wird er sich kaum, ist doch das Meiste dessen, von dem wir behaupten, es konstituiere so etwas wie „Identität“, Ergebnis eines fruchtbaren Austauschs über Grenzen hinweg. Einschließlich des Gebauten.
Dass sich das zunächst schwer Greifbare und Neue mit der Zeit in starren Konstruktionen verfestigt und dem einverleibt wird, was die Gemeinschaft, welche auch immer es sei, als Zeichen eben dieser Gemeinschaft versteht, mit dem sie sich von anderen abgrenzt, ist nicht neu. Bekannt ist auch die Tatsache, dass man dieser behaupteten Eigenheit mit Argumenten meist nur schwer die Grundlage entziehen kann. Zumindest nicht auf die Schnelle. Auf lange Sicht sieht das anders aus – wie der Fall des Cowboys zeigt, der auch in anderer Hinsicht ein aufschlussreiches Beispiel ist. Etwa dahingehend, dass sich der Cowboy und die dazugehörige Lebensform als Ergebnis ökonomischer Zusammenhänge in dem Moment in einen kulturellen Code verwandelt, in dem er als realer Sozialtyp verschwindet. Das ist bei uns nicht anders: Das bäuerliche Landleben, wie es vermutet geführt wurde, feiert bei uns fröhliche Urstände in einer mittlerweile karnevalesk anmutenden Verzerrung, die sich lange nicht auf das Dirndl und die Lederhose beschränkt. Als befriedetes Konfliktfeld zwischen Stadt und Land wird absurd all das verharmlost, worauf es sich zu beziehen vorgibt – und wird sich deswegen auf Dauer zwangsläufig totlaufen. (2)
Ein permanenter Balanceakt
Das Beispiel des aus Mexiko eingewanderten Cowboys zeigt freilich noch zweierlei anderes: dass sich die Entwicklung zum nationalen Typus der Selbstvergewisserung als eine Folge von Austausch zwischen Peripherie und Zentrum beschreiben lässt zum einen. Und zu anderen, dass das, was da an der Peripherie geschah, bevor es sich als eine kulturelle Form beschreiben lässt, in der Form eines Konfliktes aufgetreten ist.
Vorhersehbar ist das Ergebnis wohl nicht gewesen. Darauf kommt es aber nicht an: Es geht hier nicht darum, die Stylescouts in die Grenzregionen zu schicken, um eine zukünftig wirtschaftlich verwertbare Trends aufzuspüren, bevor sie von anderen entdeckt werden. Es könnte sich lohnen, hier eine andere Lesart vorzuschlagen, die nicht eine linear kausale Abhängigkeit unterstellt, sondern als eine Konstellation, die den Konflikt an der Peripherie wie die Peripherie selbst als einen auf das Zentrum bezogenen Raum erzeugt. In dieser Struktur wird eine Stabilität in einer permanenten Bewegung zwischen Zentrum und Peripherie immer aufs neue ausbalanciert – es geht dabei viel weniger um eine genaue Beschreibung des Unterschieds zwischen Zentrum und Peripherie, der präzise überhaupt nicht benannt werden kann. Es geht vielmehr um je spezifische ökonomische Aufgabenverteilungen und Abhängigkeitsverhältnisse, die einhergehen mit den Aushandlungen der Selbstvergewisserung, die ebenso Teil der Bemühungen sind, die Beziehungen zu stabilisieren.
Zu diesen Bemühungen gehören der Cowboy und das Dirndl. Dass der Cowboy eine symbolische Rolle in dem Moment bekommt, in dem er als realer Sozialtyp verschwindet, muss dazu kein Widerspruch sein – es ja auch eine Form des Respekts derer, die von ihm profitiert haben. Das Dirndl ist eine Form der Nobilitierung der ländlichen Bevölkerung gewesen, eine einheitsstiftende Geste der Herrschenden in einem vergleichsweise jungen territorialen Gefüge. Sie war gerade wegen ihrer Ambivalenz wichtig – Anerkennung und Beherrschung gehören ebenso zusammen wie die Tatsache, dass das Dirndl auf eine Weise überhöht wird, die für das harte Landleben nicht mehr geeignet ist. (3) Genau deswegen ist nicht vorhersehbar, welche Form des Umgangs mit dem, was sich als Konflikt äußert, gefunden wird und sich als eine prägende Sicht und als dominante Codes durchsetzen könnten.
Der Rand im Zentrum
Man mag dies alles als wenig überraschend oder originell ansehen. Es ist aber einigermaßen verwirrend, wie wenig sich aktuelle Diskussionen um die Städte mit dem auseinandersetzen, was an ihren Rändern passiert. Das gilt nun weniger für die Frage, ob die Region in der Bewältigung eines Wohnraumproblems im Zentrum nicht auch etwas besteuern sollte, auch wenn meist eine derartige Forderungen gestellt wird, ohne die tatsächlichen Verhältnisse zu beachten – etwa die, wer eigentlich die Eigentümer von Wohnhäusern sind. Nein, es geht hier um etwas anderes – darum, dass der Umgang mit der Architektur und die Weise, wie deren Aufgabe verstanden wird, in der Debatte um die Architektur der Stadt schlicht übersehen wird. Wer genau hinschaut, müsste verstehen, wie stark sich das Bedürfnis nach dem sichtbar eigenen Haus in den Städten ablesen lässt. Mehr noch: dass sich die in der Dichte der Stadt forcierte Konfrontation von Flächen, Farben, Strukturen, von Zuständigkeiten und Artikulationsweisen kein zu bändigende Chaos ist, sondern die konstituierende Qualität der inneren Stadt im Gesamtfeld einer Struktur, in die sie wie die Stadtränder eingebunden ist. Das Einzelhaus gegen „die Stadt“ meinen stellen und ausspielen zu können, wird beidem nicht gerecht: der Stadt nicht und dem Haus nicht. Den Rand der Städte als „Wildschweinwiese“ oder was dergleichen abwertende Bezeichnungen mehr sind zu bezeichnen, verkennt nicht nur, was hier für die Innenstädte geleistet wird. (4)
Hier äußern sich die Bedürfnisse nach Individualität, die konstituierend für unsere Gesellschaft sind. Sie sind in der Dichte der Stadt auch gestalterisch aufzunehmen anstatt sie gegen das Verständnis von Stadt als Ausdruck eines „Kollektivsingulars“ (5) oder eines „selbstreferentiellen, die Einzelsubjekte einbegreifenden Großsubjekts“ (6) zu setzen, das diese Bedürfnisse und diese Vielfalt meint unter einer Einheitlichkeit versammeln zu können. Darin, in diesem Glauben an ein Kollektivsingluar, an das diffuse Großsubjekt, an die verpflichtende Einheitlichkeit und den übergeordneten Ordnungswillen, besteht die beunruhigende Nähe von den Diskursen über die geordnete und streng reglementierte Stadtgestaltung zum Populismus, der ein nicht zu identifizierendes Volk als Instanz nur viel unverblümter setzt. (7)
Dabei ist es doch gerade das Gegenteil dieser verordneten und erzwungenen Einheitlichkeit, das die Stadt ausmacht: die ständige Konfrontation verschiedener Haltungen, Sichtweisen, die nur selten harmonisch vermittelt werden, oder vermittelt werden können. In welcher Form dies eine ästhetische Entsprechung findet, ist damit noch nicht entschieden. Es ist: eine Frage zur Architektur. Deren Aufgabe ist, es einen Ausdruck dafür zu finden, dass es in der Stadt möglich ist, dass zusammengehört, was unterschiedlich ist. Zur Stadt gehört, dass Unterschiede nicht in einer Weise harmonisiert werden, die das Besondere und Individuelle, das Abgründige, das Hochtrabende und das Beeindruckende in Gleichförmigkeit aufgehen lässt. Es kann auf Dauer nicht gut gehen, dies nur in den Rändern und Schmuddelecken der Stadt zuzulassen. Das, was die Stadt ausmacht, kommt doch genau von dort – wie der Cowboy aus Mexiko.