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„Wir bleiben als Menschen gefährdet“


Das Dritte Reich – Geschichte lesen, Geschichte sehen

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Ulrich Herbert: Das Dritte Reich. Geschichte einer Diktatur. C. H. Beck, München 2016. ISBN 978-3-406-69778-4. 8,96 €

Mein Geschichtsunterricht Ende der 1960er-Jahre war katastrophal. Man kam nie in der Gegenwart an, was auch an uns trägen Schülern lag. Aber den Lehrern war es ganz recht. Sie waren mehr oder minder kriegsversehrt, geistig oder sichtbar körperlich, und wie man den Nationalsozialismus pädagogisch verarbeiten sollte, blieb ihnen ein Rätsel. Sicherheitshalber empfahl man uns zur Lektüre Joachim Fernau und Edwin Erich Dwinger. Jahre später sanktionierte Helmut Kohl unsere Ahnungslosigkeit mit der „Gnade der späten Geburt“. Nun ist die Wahl des amerikanischen Präsidenten kein Anlass, den abergläubischen Satz hervorzuholen, Geschichte wiederhole sich. Diese Regelhaftigkeit gibt es nicht, aber man entdeckt parallele Voraussetzungen bei der Etablierung des Nationalsozialismus und den gegenwärtigen rechtspopulistischen Virulenzen, die nach innen eine einheitliche Volksgemeinschaft und nach außen eine europaferne Nation propagieren. Deshalb sei auf ein kleines Buch hingewiesen, welches „Das Dritte Reich“ ganz hervorragend beschreibt. Man möchte dieses quellenstarke, „auf knappstem Raum“ verfasste  Konzentrat unserer eigenen Geschichte allen Haushaltungen wünschen. Es belegt nachvollziehbar, wie es zur „Machtergreifung“ kommen konnte, wie Hitler seine Aufrüstungspolitik zum Rückgrat seiner Regierungsagenda machte und vor allem, dass die Wehrmacht an den Verbrechen der Nazis beteiligt war. Ja, es gibt „alternative Fakten“ (um einem aktuellen Terminus zu bemühen). Und die wurden nicht durch umtriebige wissenschaftliche Spurensicherung post festum offenbar, sondern standen im bekannten Programm der Nazis. Das Buch des 1951 geborenen Freiburger Historikers Ulrich Herbert wartet mit Zahlen auf, mit Jahren und Toten. Es kann einem schlecht werden, wenn man das ganze Ausmaß des Vernichtungskriegs, der sich zur Lebzeit unserer Eltern ereignet hat, so nüchtern erläutert bekommt. Denn Herbert ist kein marxistischer Historiker wie Joachim Streisand (1920-1980), dessen Geschichtsrevision in der Aussicht auf den nächsten Fünfjahresplan zur Friedenssicherung durch die Arbeiterklasse der DDR mündete

 

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Provokant: Die Bauwelt 28-29.1987 zu Léon Kriers Bewunderung für Albert Speers Architektur

Architektur fordert die Erinnerung heraus
Jetzt zur Architektur. Auch das Verständnis der Aufarbeitung ändert sich. Vor 30 Jahren hat sich die Bauwelt des Themas angenommen, „Klassik zum Völkermord“ hieß ein Heft, das gallig Leon Kriers „Speer-Feier“ kommentierte (Ausgabe 28-29/1987). Das war eine Abrechnung im Dunst der Postmoderne. Heute schlägt das Pendel in eine andere Richtung. Während sich einerseits eine fragwürdige Neubewertung des traditionalistischen Bauens beobachten lässt, werden auf der anderen Seite die massiven Monumente des Dritten Reichs entweder nicht beachtet oder sollen durch kabarettistischen Flitter unschädlich gemacht werden. So geschehen durch die von der Süddeutschen Zeitung Ende letzten Jahres präsentierten Studentenentwürfe. Diese Burleske schaut aus wie ein Aufguss der 1980er-Jahre, „rasch veraltende architektonische Gesten“, nennt der Direktor Okwui Enwezor diese geschichtsferne Überarbeitung seines Hauses. Inwieweit Form und Absicht beim Publikum überhaupt übereinstimmend wahrgenommen werden, berührt eine unbeantwortete Kardinalfrage der Architekturrezeption. Man könnte zum Beispiel auch der Ansicht sein, dass die Wiederherstellung der einladenden Stufen an der Längsfront das Haus von seinem Sockel holt und dem Besucher die Freiheit lässt, zwischen welchen Säulen er uneingeschüchtert den Eingang findet. Richtig erscheint mir, was der Berliner Architekt Klaus Block entgegnete: „Die Millionen jubelnden Zuschauer, Weggucker, Mitläufer und Mittäter des nationalsozialistischen Grauens sterben langsam weg. Das wegbereitende Gedankengut war aber schon vorher da und ist mit dem Abgang dieser Generationen nicht gestorben. Die Bauten dieser Zeit sind eine öffentliche Entäußerung dieses von Millionen gelebten unsagbar grauenhaften Gedankenguts. Deren ständige unverhohlene Präsenz im öffentlichen Raum muss man leider als aufgeklärter deutscher Bürger dauerhaft aushalten können und es somit als stete Aufforderung nehmen, darüber aufzuklären und das Bewusstsein über die allgegenwärtige Anfälligkeit für niedrige Beweggründe der Menschen zu schärfen.“
Das ist akkurat formuliert: die Bauten dauerhaft aushalten und als Aufforderung nehmen, an die unausrottbare Labilität des menschlichen Gewissens zu erinnern. Richard von Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 davor gewarnt, uns einzubilden, „wir seien nun als Menschen anders und besser geworden, […] wir bleiben als Menschen gefährdet“. Das kleine Buch von Ulrich Herbert ist das passende Brevier, um daran zu erinnern.