Der Architekt Martin Elsaesser gehörte zu den Protagonisten des Neuen Bauens – jetzt erst würdigt die erste umfassende Monografie den Architekten, den die Architekturgeschichtsschreibung zu lang vernachlässigt hat.

Jörg Schilling: Martin Elsaesser – Baukunst zwischen den Zeiten. Deutsch/Englisch, 288 Seiten mit etwa 300 Abbildungen, av Edition Stuttgart 2025, ISBN 978-3-89986-441-0, 59 Euro
Das Erstaunlichste an dieser Monografie über Martin Elsaesser ist, dass sie erst jetzt erscheint. Ein kleines Licht war er ja nicht. Nach seinem Tod 1957 würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Architekten in einem Nachruf als einen der „bedeutendsten Vorkämpfer des modernen Bauens“. Und Stuttgart schuldet ihm ohnehin ewigen Dank für die Markthalle, die er 1914 schuf. An ihr demonstrierte er seine herausragende Fähigkeit, technologischen Fortschritt mit einer Architektur zu verbinden, die sich wie selbstverständlich in die historische Altstadt einschmiegte: innen modernste Stahlbetonträger, außen Arkadengänge, Erker und dicke, gemütliche Ecktürme – bis heute eines der wichtigsten Gebäude dieses Typs in Deutschland und das vitale Herz der Stuttgarter Innenstadt (was die Stadt natürlich nicht davon abhielt, in den siebziger Jahren ihren Abriss zu planen).
Dieser Begabung des Architekten, Tradition und Moderne zu vereinen, verdankt das Buch seinen Untertitel „Baukunst zwischen den Zeiten“. Mit einem Bein stand Martin Elsaesser noch im 19. Jahrhundert, in dem er geboren war, mit dem anderen im 20., mit dessen Entwicklung er Schritt hielt, doch ohne den ideologischen Furor der Neuerer. Keine Arbeit macht diese Zwischenposition so deutlich wie sein Beitrag zum berühmten Wettbewerb von 1922 für ein Bürohochhaus am Berliner Bahnhof Friedrichstraße. Elsaesser nahm mit zwei Entwürfen teil und skizzierte eine Fassade mit stark expressionistischen Anklängen und krönendem Stabwerk sowie andererseits eine reduzierte, „modernere“ Variante, während Ludwig Mies van der Rohe mit seiner spektakulären Vision eines komplett verglasten Hochhauses in ganz andere Dimensionen vorstieß.
Das Buch verschweigt dabei nicht, dass Elsaessers stilistische Bandbreite gelegentlich auch skurrile Blüten trieb. Das kolossale Brucknersymphoniehaus mit Platz für siebentausend Besucher, das der Brucknerfan 1943/44 für Linz ersann, scheint eher nach Gotham City als in die „Führerstadt“ zu passen, trotz der Vorliebe der Nazis für architektonischen Bombast. Aus dem Plan wurde aber nichts. Das moderne Gegenstück zu dem hypertrophen Musiktempel ist der Einfall, den Landtagsneubau in Stuttgart, gerastert und stocknüchtern wie alle Nachkriegsarchitektur, in die Ruine des Neuen Schlosses einzufügen. Zum Glück blieb auch dieser gruselige Wettbewerbsentwurf aus den 1950er Jahren unrealisiert.
Begonnen hatte der berufliche Aufstieg des Tübinger Theologensohns schon kurz nach der Jahrhundertwende mit Kirchenbauten, darunter die Gaisburger Stadtpfarrkirche in Stuttgart mit ihrem elliptischen Innenraum und die expressionistische Südkirche, die wie eine mittelalterliche Burg über Esslingen thront. Der Autor Jörg Schilling hat sein Buch nach Elsaessers weiteren Lebensstationen gegliedert: Auf Stuttgart, wo der Architekt zahlreiche Wettbewerbserfolge feiern konnte und eine außerordentliche Professur an der TU innehatte, folgte Köln. Der dortige Oberbürgermeister Konrad Adenauer, bestrebt die Stadt als Wirtschaftsstandort durch mehr „kulturellen Glanz“ zu stärken, übertrug ihm 1921 die Leitung der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule. Richtig warm wurde der protestantische Schwabe mit dem katholischen Köln aber nicht, so dass er schon nach wenigen Jahren nach Frankfurt abwanderte, das gerade mit vollen Segeln Kurs auf das Neue Bauen genommen hatte.
Am Main, wo Elsaesser die Leitung des Hochbauamts übernahm, lief er wieder zu ganz großer Form auf. Er baute heute noch größtenteils erhaltene Schulen, Wohnhäuser, ein Hallenbad, das Gesellschaftshaus Palmengarten, ein Krankenhaus und – sein chef-d’oeuvre – die monumentale Großmarkthalle. Mit 220 Metern Länge und 50 Metern Breite war sie zu ihrer Entstehungszeit der größte Gebäudekomplex der Stadt und konstruktiv das am weitesten gespannte massive Flächentragwerk weltweit, errichtet in nur zwei Jahren. Seinem Kollegen, dem Stadtbaurat Ernst May war die „Gemieskerch“ (Gemüsekirche), wie die Frankfurter sie nannten, mit ihren Backsteinfassaden und den wuchtigen Kopfbauten dennoch im Erscheinungsbild nicht puristisch genug. Kompetenzrangeleien und eine Mobbingkampagne innerhalb der Verwaltung, an der sich auch die örtliche Presse mit Hingabe beteiligte, führten schließlich dazu, dass die Frankfurter Jahre für Elsaesser 1932 trotz allem enttäuschend endeten. Doch erst vor Kurzem fragte die „Frankfurter Rundschau“, „wer wen wohl stärker geprägt hat, der Architekt das ‚Neue Frankfurt’ oder das ‚Neue Frankfurt’ (…) den Architekten“.
Die NS-Zeit und den Krieg überstand Elsaesser, der Distanz zu den braunen Machthabern hielt, aber weder in die innere Emigration ging, noch Aufträge ausgeschlagen hätte, mit Wohnbauten für private Bauherren, darunter eine herrschaftliche Villa für den Hamburger Unternehmer Philipp Reemtsma. Über Wasser hielt ihn auch ein repräsentatives Bankgebäude, das nach seinen Plänen in Ankara entstand. Nach dem Krieg kehrte Elsaesser zurück nach Stuttgart, konnte an seine früheren Erfolge aber nicht mehr recht anknüpfen. Vielleicht auch, weil ihm der blutleere International Style in Wahrheit gegen den Strich ging, der nach 1945 von der bundesdeutschen Architektur Besitz ergriffen hatte. Er dagegen hoffte „auf eine produktive Wechselwirkung von Tradition und Moderne“, eine Baukunst, die über die Reduktion auf das rein Funktionale und Rationale hinausging.
Damit nahm er die Kritik sehr viel späterer Vordenker wie Charles Jencks oder Rem Koolhaas vorweg, die in der radikalen Ablehnung der Geschichte und der unsinnlichen Formensprache des International Style den Grund für das Versagen der Moderne sahen. Anders gesagt: Jetzt erst, nachdem die ideologischen Stildebatten sich erledigt haben, befindet sich Elsaesser mit seiner Haltung des entschiedenen Sowohl-als-auch auf der Höhe der Zeit. Mit seiner zu Lebzeiten unzeitgemäßen Forderung, dass Architektur nicht nur zweckdienlich zu sein habe, sondern auch emotionale Bedürfnisse, den Geist und das Gemüt ansprechen müsse, erscheint er aus heutiger Sicht als der wahre Moderne. Die Monografie über ihn kommt darum genau zur rechten Zeit.




