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Der Fotograf Henning Maier-Jantzen begleitet die Rekonstruktion des Berliner Schlosses.

Die Frage, was „Geschichte“ bedeutet und warum sie – unter anderem – zum Architekturstudium gehören muss, wird in regelmäßigen Abständen immer aufs Neue gestellt. Mit zunehmender Praxisausrichtung des Architekturstudiums wird die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit der Architektur mehr und mehr verdrängt – zulasten der aktuellen Debatten und der gesellschaftlichen Bedeutung von Architektur.


1818_Beyer_SchillerFragen zur Geschichte heute

Seit Friedrich Schiller im Mai 1789 seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena zum Thema „Universalgeschichte“ gehalten und die Frage zur Relevanz von Geschichte exemplarisch behandelt hatte, beschäftigt sie alle Studentengenerationen. Der Historiker Reinhard Koselleck (1923-2006) und der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann (1927-1998) lehrten uns, dass die Vorstellung, die sich moderne Gesellschaften von ihrer Vergangenheit machen, immer das jeweils zeitgenössische Ergebnis der eigenen Reflexion ist. Deswegen muss Geschichte stets „neu“ geschrieben und aktualisiert werden, ihre Zukunft ist offen. Nun schmerzt diese Erkenntnis natürlich alle Historiker, weil sie impliziert, dass ihre Arbeit – die sie für so „objektiv“ halten, wie es eben geht – einen zeitlich begrenzten Wert hat und nie den Status einer unumstößlichen Wahrheit erreichen kann.

Wenn also die Zeitkategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinen ontologischen Charakter haben, weil sie selbst der Zeitlichkeit ausgesetzt sind, müssen die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, die vergangene oder gegenwärtige Gesellschaften entwickelt haben, unterschieden werden. Das heißt, dass die Gegenwart der Vergangenheit nicht mit der Vergangenheit der Gegenwart identisch ist und die aktuelle Gegenwart sich sowohl von der Zukunft, wie sie die Vergangenheit entwickelte, als auch von der Vergangenheit, wie sie in Zukunft angenommen wird, unterscheidet. Die Relativität der Zeit, wie sie uns Koselleck und Luhmann ins Gedächtnis riefen, erlaubt uns zu fragen: Wann beginnt Geschichte? Gab es sie vor dem Beginn der modernen Geschichtsschreibung? Wann endet sie, und wann beginnt die Gegenwart? Mit der Moderne? Mit der Postmoderne? Vorher oder danach?

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Fischer von Erlach erfindet die Architekturgeschichte

1721 veröffentlichte Johann Fischer von Erlach (1656-1723) seinen „Entwurff Einer Historischen Architectur“. Dieses Buch – eine grafisch notierte Architekturgeschichte – versammelt Pläne von Gebäuden und Monumenten verschiedener Zeitalter und Kulturkreise und gilt als erste bildhaft vergleichende Studie der Weltarchitektur. Sein Untertitel lautet: „In Abbildung unterschiedener berühmten Gebäude, des Alterthums und fremder Völcker; umb aus den Geschicht-büchern, Gedächtnüß-münzen, Ruinen, und eingeholten wahrhafften Abrißen, vor Augen zu stellen“. (Als PDF > hier)
Fischer von Erlach galt bald als „erster Architekturhistoriker, weil er so ‚archäologisch‘ vorging wie es das Wissen seiner Zeit erlaubte. Er war kein Gelehrter im engeren Sinne; er ‚beabsichtigte‘, das Auge des Amateurs durch einige Beispiele verschiedener Gebäude zu erfreuen und Künstler eher zu Erfindungen zu inspirieren als Gelehrte zu unterrichten“ – so die gängige Einschätzung der Architekturtheorie. Auch wenn Fischer von Erlach archäologische und philologische Zuverlässigkeit beanspruchte, ist seine Sammlung architektonischer Entwürfe – die Beispiele aus Babylonien, Ägypten, Griechenland, Rom, islamischen Ländern und Fernost und nicht zuletzt eigene Werke einschließt – tendenziös, eklektisch, selektiv. Es fehlen zum Beispiel jegliche Bauten aus Frankreich. Grund dafür mag gewesen sein, dass Fischer von Erlach ahnte, wie sehr die französische Architektur unter Ludwig XIV. von nationalem Interesse und einer schwer erträglichen Hybris beherrscht war.

Fischer von Erlachs Entwurf der Karlskirche in Wien, Zeichnung von 1716

Fischer von Erlachs Entwurf der Karlskirche in Wien, Zeichnung von 1716

Das gilt allerdings auch für seine eigene „Systematik“; denn in der Weltarchitektur erkannte er durchaus auch Elemente, die der imperialen Architektur dienlich waren. Und eindrucksvollstes Beispiel dafür war Fischer von Erlachs eigener, durchaus hybrider Entwurf für die Karlskirche in Wien.
So dürfen wir sein „Geschichtsbuch“ als ein politisches Statement begreifen – was Architekturgeschichtsschreibung natürlich immer ist. Aber zugleich liefert es die Erkenntnis, dass der Blick jeder Generation auf die Vergangenheit der Architektur unter ganz eigenen Bedingungen steht, spekulativ ist, manipuliert und manipulierend – aus politischen, aber genauso oft aus rein ästhetischen Gründen.

Apropos „Rekonstruktion“

Die Tempel in Paestum standen in der Region von Salerno seit dem fünften und sechsten Jahrhundert vor Christus, aber gerieten – obwohl sie unausgesetzt aus der Erde ragten – lang in historische Vergessenheit. Die Region blieb unbeachtet, wohl auch, weil die Malaria wütete. Unbestritten ist aber, dass die eindrucksvollen Ruinen weithin sichtbar waren. Sie wurden schlicht „übersehen“. Erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurden sie „wiederentdeckt“ – nicht etwa, weil sie plötzlich freigelegt worden wären, sondern weil das ästhetische Empfinden des frühen Neoklassizismus sie als architekturhistorisch relevant ansah.
So fragte sich beispielsweise der französische Architekt Jacques-Germain Soufflot (1713-1780), nachdem er 1750 Paestum besucht hatte, warum die Tempel über dermaßen lange Zeit ignoriert worden waren. Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der als erster Deutscher 1758 Paestum besuchte, bemerkte konsterniert: „Ist es nicht erstaunlich, dass niemand darüber geschrieben hat?“ Das ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass unsere Sicht auf die Vergangenheit von Politik, ästhetischer Selektivität und Geschmacksvorlieben abhängt.

Ein aktuelleres Beispiel für solche Praktiken der Wiederentdeckung liefert die Architektur Andrea Palladios, der – anders als in England, den Niederlanden oder den Vereinigten Staaten – bis vor kurzem keine weiteren Auswirkungen auf die Architekturentwicklung in den deutschsprachigen Ländern hatte. Seine „Vier Bücher zur Architektur“ wurden schon vor Jahrhunderten ins Französische und Englische übersetzt, aber eine vollständige deutsche Ausgabe erschien erst 1983 – ganz erheblich unterstützt dadurch, dass die Postmoderne sich gleichzeitig historischer Architektur zuwandte und Palladio erst dann auch in diesem Kulturraum an Relevanz gewann.
Wenn wir nun diese Selektivität anerkennen, verstehen wir die zeitliche Bedingtheit unserer Auffassungen zur Geschichte; der historischen „Wahrheit“ kommen wir dabei freilich kaum näher. Aber wir können dabei mehr über uns und unsere Gegenwart begreifen. Selbstverständlich geht uns Geschichte an; aber sie kann es nur in dem Maße, indem wir verstehen, dass wir sie selbst gestalten und unsere eigenen Entscheidungen kritisch befragen.


Die Restaurierungspraxis
Palazzo del Capitanio, Vicenza (Bild: Wikipedia, Didier Descouens)

Palazzo del Capitanio, Vicenza (Bild: Wikipedia, Didier Descouens)

Ein kurzer Blick auf die Architektur-Restaurierungspraxis macht deutlich, wie unbeständig vermeintliche, „richtige“ historische Interpretationen sind. So ist gerade die Palladianische Architektur in den letzten fünfunddreißig Jahren auf sehr unterschiedliche Weisen umgeformt und saniert beziehungsweise erneuert worden. Zu allen Zeiten waren Restauratoren und Historiker davon überzeugt, in ihrem Metier mit guten Gründen maßgeblich zu sein, zumindest so lang, bis die nächste Truppe von Restauratoren anrückte. Und so teilte etwa die Frage, ob das Ziegelmauerwerk der Loggia del Capitaniato in Vicenza unter einer Stuckschicht verschwinden sollte oder in unverhüllter Materialität gedacht war, die Spezialisten in zwei Lager.

Basilica Palladiana in Vicenza, Fassade zur Piazza dei signori (Bild: Wikipedia, Didier Descouens)

Basilica Palladiana in Vicenza, Fassade zur Piazza dei signori (Bild: Wikipedia, Didier Descouens)

Historische Evidenz ist in diesem Fall nicht eindeutig. Ich persönlich tendiere zu der Annahme, dass die Fassade verputzt war, weil sie dann mit der gegenüberliegenden Basilica Palladiana korrespondieren würde – mit Palladios strahlend weißer Sequenz von Loggien – den „Serlianen“ –, mit denen er den mittelalterlichen Kern des Rathauses von Vicenza umgeben hat. Doch derzeit bleibt die Ziegelfassade der Loggia unverputzt, was nicht nur im Kontext des berühmten Nachbargebäudes irritiert, sondern mit den Basen und Kapitellen der Halbsäulen der Loggia selbst, die – wie andere Fassaden-Dekorationsbauteile auch – aus Stein gehauen sind.

Natürlich betrifft Restaurierung nicht nur die „Oberflächen“ eines Bauwerks. Schauen wir kurz auf das Berliner Humboldt Forum, das als „Rekonstruktion“ des Berliner Schlosses entsteht. Das Schloss war im Zweiten Weltkrieg teils zerstört und 1950 von der damaligen DDR-Regierung komplett abgerissen worden. In der deutschen Öffentlichkeit entbrannte ein heftiger und auch anhaltender Streit über die „Rekonstruktion“ – nicht zuletzt darüber, ob die Version des Architekten Andreas Schlüter von 1699 rekonstruiert werden sollte oder doch auch die späteren Um- und Ergänzungsbauten, wie etwa die zentrale Kuppel von Friedrich August Stüler aus den Jahren 1845-1853. Welcher Zustand des Schlosses ist gewollt? Wann hat er vermeintlich rekonstruierbare „Geschichtlichkeit“ erlangt? Wie verhält sich modernes Inneres mit historisierendem Äußeren?


Lernen und Lehren

Es ist mir nie gelungen, junge Architekten für die Teilnahme an einer Lehrveranstaltung zu begeistern, wenn ich das Wort „Geschichte“ in die Seminar- oder Vorlesungstitel aufgenommen habe. „Bauen im Bestand“ lautete eine der obligatorischen Veranstaltungen der Architekturkollegen. Also habe ich kurzerhand ein Seminar angeboten, unter dem Titel „Schauen im Bestand“. Es blieben meist kaum Plätze leer. Solche Änderungen in Seminartiteln als Einladung zu wählen, nach Verbindungen zu suchen, nach interessanten ästhetischen und baupraktischen Lösungen, nach Wahlverwandtschaften, ohne jegliches teleologisches Narrativ. Es war ein Bekenntnis zur Freiheit angesichts der oft hermetisch auftretenden Menge architektonischer Reliquien. „Geschichte“ wurde plötzlich erstaunlich lebendig.

Ab welchem Zeitpunkt etwas „historisch“ genannt werden kann, bleibt die entscheidende Frage. Nach zwanzig Jahren? Lässt man sich auf Generations-Kategorien ein? Ist etwas erst „historisch“, wenn es aufhört zu existieren?

Die Berliner Nationalgalerie 2015, vor der aktuellen Sanierung (Bild: Ursula Baus)

Die Berliner Nationalgalerie 2015, vor der aktuellen Sanierung (Bild: Ursula Baus)

Nun beeinflussen jedoch beispielsweise Palladios Villa Rotonda oder sein Palazzo Chiericati in Vicenza (die ja immer noch „existieren“) junge Architekten genauso wie Bartolomeo Michelozzos Palazzo Medici in Florenz oder Mies van der Rohes Nationalgalerie in Berlin. Das Nicht-Gleiche ist gleichzeitig, Unterschiede sind Zeitgenossen. Neu ist dieses Phänomen allerdings nicht, wir waren und bleiben immer vor dieser Herausforderung. Ein entspanntes Verhältnis zur Geschichte, nicht weniger als zur Gegenwart auch, erlaubte, sich souverän zu bewegen zwischen Räumen und Zeiten.

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