Geschichte ist eine lebendige Wissenschaft – was leider auch zur Folge hat, dass sie verfälscht und politisch instrumentalisiert wird. Architekturgeschichte ist von diesen Phänomenen nicht ausgenommen. So anregend es ist, aus jeweiliger Gegenwart architekturgeschichtliche Entwicklungen auch eingedenk neuer Quellen neu zu bewerten, so dringend muss die theoretische Grundlage der Geschichtswissenschaft begleitend entwickelt werden. In der Architektur- als Kunstgeschichte steht nun die Dekanonisierung, also die Abkehr vom etablierten, in Büchern dokumentierten Kanon zur Diskussion.
Zur Abbildung oben: In den vier Ecken des Blattes sind die vier damals bekannten Kontinente Europa, Asien, Amerika und Afrika dargestellt. Die Bilder oben und seitlich zeigen Bauten aus den Kontinenten aus allen Zeiten; die Gegenwart ist mit der Pariser Börse von Denis Antoine vertreten. Durand hatte die Bauten aus aller Welt stammenden Bauten nach den Kriterien „Schönheit, Größe, Einzigartigkeit“ ausgewählt und damit einen wichtigen Kanon gesetzt.
Die überall zu hörenden Klagen über eine immer kompliziertere Welt, in der es keine festen Werte und klare Gewissheiten mehr gäbe, betrifft alle Bereiche des Lebens und – wen wundert’s – auch die Architekturgeschichte. Dabei wird natürlich nicht die Geschichte komplizierter, denn die kann ja nur so sein, wie sie ist, sondern die wissenschaftliche Erzählung dieser Geschichte ist nicht mehr so einfach zu bewerkstelligen wie früher. Das liegt daran, dass sich der Kanon der Architekturgeschichte, also Bauten aus Geschichte und Gegenwart, von denen man ausgeht, dass sie von vielen Personen – Fachleuten wie Laien – gekannt werden, sich in den letzten fünzig Jahren um ein Vielfaches vermehrt hat. Gehörten vor hundert Jahren zum Beispiel der Parthenon-Tempel in Athen oder die Kathedrale Notre-Dame in Chartres, der Petersdom in Rom oder das Schloss Versailles zu einem Kanon, der zumindest in gebildeten Kreisen bekannt war oder als Abitur-Wissen vorausgesetzt werden konnte, so galt dies gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Es waren die Modernen dazu gekommen, der Kanon musste um die Hochhäuser in Chicago, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, die Kapelle in Ronchamp, das Olympia-Gelände in München, die Oper in Sydney und viele, viele weitere Bauten rund um den Globus erweitert werden. Um die Masse noch bewältigen zu können, bildeten sich zeitlich oder örtlich begrenzte Kanones aus. Das Bild wurde differenzierter, blieb aber noch zu bewältigen, solange die sich im jeweiligen Kanon spiegelnde, weltanschauliche Sachlage einfach strukturiert war. So wurde in den nach dem zweiten Weltkrieg geschriebenen Architekturgeschichten der Moderne der Osten Europas einfach nicht beachtet und schlichtweg beiseite gelassen.
Die Architekturgeschichte der Moderne wurde so zu einer rein westlichen Angelegenheit: „Moderne Architektur ist ein Produkt der westlichen Welt“, erdreistete sich der amerikanische Kunsthistoriker Vincent Scully (1920-2017) in seinem Buch Moderne Architektur. Architektur der Demokratie 1961 zu schreiben!1) Es dauerte mehrere Jahrzehnte, um die russischen Konstruktivisten der 1920er Jahre – Melnikow, Malewitch – wiederzuentdecken.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
So wie der Osten ausgeblendet wurde, so auch Afrika und die damals sogenannte Dritte Welt. Diese Historiographie des Ausschlusses ist ein Kind des Kalten Krieges, denn die Architekturgeschichtsschreibung hatte seit ihrem Beginn im frühen 19. Jahrhundert das Ziel gehabt, die Geschichte der Architektur der ganzen Welt zu fassen. Schon 1827 behandelte Christian Ludwig Stieglitz (1756-1836) die (Welt)Geschichte der Baukunst vom frühesten Alterthume bis in die neuern Zeiten2).
1855 erschien James Fergussons (1808-1886) The Illustrated Handbook of Architecture … in All Ages and All Countries3), das bis ins frühe 20. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt wurde, nicht minder erfolgreich und umfassend war Franz Kuglers (1808-1858) Geschichte der Baukunst (1856-1873, 7 Auflagen bis 1924)4).
Nachdem das Wissen über die Architektur der Welt für einen einzelnen Autoren nicht mehr überschaubar war, verteilte man die Last auf viele Spezialisten zu einzelnen Epochen oder Länder. So gab Pier Luigi Nervi (Bauingenieur, 1891-1979) von 1974 bis 1979 die Weltgeschichte der Architektur5) 14 dicken Bänden heraus. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Büchern um jeweils in sich geschlossene Erzählungen der Architekturgeschichte einzelner Epochen, Regionen und Länder. Eine Bewertung der jeweiligen Architektur im Gesamtzusammenhang der Weltarchitektur findet nicht statt; ein Kanon, der dem geläufigen westlichen, „weißen“ Kanon etwas entgegensetzt, war weder intendiert noch wurde er hergestellt.
Aufbruch
Zur Ausbildung eines neuen Kanons trugen einzelne Autoren wie der heute kaum noch bekannte, unheimlich produktive Kunst- und Architekturhistoriker Udo Kultermann (1927-2013) bei: Als in Washington DC Lehrender beschäftige er sich mit dem Neuen Bauen in Afrika bereits im Jahr 1963, legte 1980 ein Buch über Architekten [und Architektinnen] der Dritten Welt vor und ließ 1985 ein Buch über die Zeitgenössische Architektur in Osteuropa folgen.6) Damit waren die bislang klaffenden Lücken gefüllt, allerdings mit bescheidenem Erfolg, denn der westliche Kanon blieb weiterhin unangegriffen. Jedenfalls wurden die von Kultermann bekanntgemachten Bauten kein Lehrstoff der weiterhin eurozentristischen Architekturgeschichtslehre an den hiesigen Architekturfakultäten. Es war eben viel leichter, dem für richtig befunden klassischen Kanon zu folgen, als sich auf irgendwelche Neuerungen einzulassen. Und irgendwie wachte die anonyme Gruppe der Gralshüter, dass sich da kein „fremdes“ Gebäude in den exklusiven Kreis ihres Kanons hineinschlich!
Blickwechsel, kein neuer Kanon
Dieses Wagnis ging 1985 der Architekturhistoriker Spiro Kostof (1936-1991) ein, der in seiner History of Architecture: Settings and Rituals7) die These aufstellte, dass jedes Gebäude der Aufmerksamkeit der Historiker wert sei. Zu lange habe man sich auf die vermeintlichen Hauptwerke konzentriert und nicht-westliche Bauten vernachlässigt. Berühmt wurde Kostofs Vergleich der Architektur von Venedig und Istanbul im 16. Jahrhundert. Indem er Palladio und Sansovino – Helden der westlichen Architekturgeschichte – mit dem osmanischen Architekten Sinan, also Venedig und Istanbul parallelisiert. Sinan ist der wohl berühmteste Architekt der islamischen Welt, die damals freilich im westlichen, christlichen Kanon keine Rolle spielte. Marginalisiert wurde damals auch Istanbul, obwohl die Stadt zweifelsohne im 16. Jahrhundert eine ebenso bedeutende Handelsstadt war wie Venedig!
Nicht minder bekannt ist Kostofs Parforceritt durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende, in seinem ersten Kapitel „A Place on Earth (the Ancient World)“, das von den Höhlen und der Megalith-Kultur der europäischen Steinzeit bis zu den anspruchsvollen und mondänen Architekturen der Römer und Griechen reicht! Kostofs Ziel ist es, eine andere, eine alternative Geschichte der Architektur zu erzählen, die den konventionellen Kanon negiert. Ein neuer Kanon sollte und konnte wegen der Wertschätzung eines jeden Gebäudes nicht aufgestellt werden. Gleichwohl kam auch Kostof nicht an einer Priorisierung der europäischen Entwicklung vorbei, weil die Bewertung des Nichteuropäischen nur vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung möglich blieb. Es wurde ihm vorgeworfen, dass er den zentralen, kanonischen Kern der Geschichte mit Mustern der „Andersartigkeit“ gleichsam verschönerte und somit die grundlegende Spaltung zwischen der dominanten Geschichte und den marginalisierten Geschichten aufrecht erhalten blieb.
Geschichte als Geisteswissenschaft
Erst mit den auf die Globalisierung reagierenden transkulturellen Forschungen in den Geisteswissenschaften ab den frühen 2000er Jahren findet ein tatsächlich neuer Zugang zur Weltgeschichte der Architektur statt. 2014 erschien das Buch Architecture since 1400 der in Dublin lehrenden Kunst- und Architekturhistorikerin Kathleen James-Chakraborty, das in der Eigenwerbung von sich behauptet, die „erste globale Geschichte der Architektur, die westliche und nicht-westliche Bauwerke und gebaute Landschaften gleichermaßen berücksichtigt.“8) Sie hebt den Einfluss von Frauen – als Auftraggeberinnen, Mäzeninnen und Architektinnen – besonders hervor, Lina Bo Bardi und Zaha Hadid bekommen den ihnen zustehenden Platz neben Brunelleschi, Sinan und Le Corbusier. Ziel ihres Buches ist die Bekräftigung der These, dass visionäre Architektur nie eine exklusive Domäne des Westens war. Eine eurozentristische, „weiße“ und männliche Sicht auf die Weltarchitektur führe zu unangemessenen Verzerrungen und Privilegierungen, die keine Gültigkeit mehr besitzen würden. Ein jeglicher Kanon, als Konstrukt europäischer Eliten seit Aufstellung der Sieben Weltwunder in der Spätantike und aller architekturgeschichtlicher Kanones der vergangenen zweihundert Jahre, wird als entbehrlich erachtet. Stellt man die diesen Kanones zugrundeliegenden Narrative strukturell auf den Prüfstand, so wird es immer schwieriger werden, überhaupt noch einen Kanon zu verteidigen.
Kanon – die Grundlagen
Zur Erinnerung: Ein Kanon wird als Regel, Maßstab, Richtschnur bezeichnet, normsetzend und zeitüberdauernd.9) Freilich kommt es darauf an, welche Fragen man an die Geschichte der Architektur stellt. Sind es eher gesellschaftliche Fragen, die an Beispiel von Architektur abgehandelt werde, zum Beispiel wie sich die Apartheid in Südafrika an Bauten zeigt, wie es Kathleen James-Chakraborty tut, dann interessiert ein Kanon gar nicht. Sind es eher architektonische, sich im Entwerfen stellende Fragen nach Raum, Fläche, Schichtung, Fügung, Konstruktion, Materialität und so weiter, dann könnte ein Kanon von exemplarischen Bauten von Interesse sein. Dazu allerdings müsste die griechische und römische Antike und auch das Mittelalter eingebunden sein. Überhaupt wäre zu fragen, ob man denn überhaupt über Architektur, auch Weltarchitektur sprechen kann, wenn man den Parthenon, das Pantheon oder die gotischen Kathedralen nicht kennt? Müssten nicht die Großbauten der Tempel und Burgen Japans, Indiens, Chinas oder Südostasiens mit den religiösen und weltlichen Großbauten der europäischen Welt vor 1400 in Vergleich gesetzt werden? Dann würde der „klassische“ Kanon bestehen bleiben und nur punktuell erweitert werden. Es bliebe dann allerdings wieder bei einer „weißen“, männlichen eurozentristischen Sicht auf die Welt der Architektur, die ihren „klassischen“ Kanon lediglich globalisierungskonform aufhübscht.
Online-Wissen

Die neuen Wissensquellen? Wenn Bauverlagseigentümer sagen, dass ihre Kinder niemals ein Buch in die Hand nehmen, müssen Wissenschaftstheoretiker reagieren.
Vielleicht aber sind längst Wikipedia, Google oder Instagram in die Rolle der Kanonbildung ihrer Nutzer eingetreten. Kein irgend relevantes Gebäude, über das man nicht irgendwas und oft auch Qualitätvolles lesen kann samt guter, meist aktueller Bilder und oft auch mit Planmaterial sowie Literaturverweisen. Wer aber kann die wissenschaftliche Zuverlässigkeit des jeweiligen Eintrags beurteilen; ein anonymer Redakteur von Wikipedia? Und wer positioniert diese Einzelbauten an eine begründete Stelle des kulturellen, gesellschaftlichen und architektonischen Zusammenhangs? Wer vermittelt, wer wägt ab und stellt kritische Fragen? Es können letztlich nur Architekturhistoriker*innen, also professionelle Kenner*innen diese Aufgaben erfüllen. Diesen wäre eher zu vertrauen, als dem nur vordergründig demokratischen, von intransparenten Algorithmen geleiteten Entscheidungsprozess in den sozialen Netzwerken. Ein von „likes“ und „followern“ abhängige Festlegung eines Kanons wäre jedenfalls nur eine große Verzerrung – dann lieber gar keiner!
Epilog
Im Jahr 2005 kam der Reclam-Verlag, Ditzingen auf mich mit der Frage zu, ob ich eine Architekturgeschichte verfassen könne, die dem Muster der erfolgreichen Reihe Das Reclam Buch der Kunst, … der Musik … der Literatur als das Reclam Buch der Architektur folgen solle.10) Das Konzept geht von Doppelseiten aus, die jeweils eine inhaltliche Einheit bilden. Das Buch sollte chronologisch angelegt sein und von der Antike bis heute reichen. Die Themen der Doppelseiten sollten differenziert sein: Länder, Orte, Gebäude, Bautypen, Bautechnik, Personen, Konstruktion, Details. Aber auch Themen wie Theoretiker, Farbe, Zeichnungen und Modelle, Ausbildung, Gärten u.s.w. umfassen. 464 Seiten (einspaltig mit Marginalspalte) standen zur Verfügung. Ein Schwerpunkt sollte auf dem 19. und 20. Jahrhundert liegen. Der Verlag ließ mir viele Freiheiten in der Auswahl der Themen, gleichwohl sollte der „klassische“ Kanon abgedeckt, nur weniger als 10% der Themen und Bauten durften „unkanonisch“ sein. Der Verlag wusste, was man dem Publikum anbieten und zumuten darf, jedenfalls nicht zu viel Neues, Unbekanntes. Das Buch erlebte bis von 2006 bis 2021 vier Auflagen, nahm in der universitären Architekturausbildung die Nachfolge von Nikolaus Pevsners Europäische Architektur (1943, 1. Deutsche Aufl. 1963, 9. Aufl. 2008) ein und wurde 2023 eingestellt.
Erfolgreich in Deutschland ist weiterhin Wilfried Kochs Baustilkunde als „Standardwerk zur europäischen Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart“ inzwischen in der 36. Auflage.11) Mit wenig Text und vielen schematischen Zeichnungen zum Auswendiglernen der Terminologie, was immer man daraus lernen soll. Alternativen zu Pevsner und meinem Buch der Architektur sehe ich derzeit nicht. Die oben angesprochenen Bücher von Kostof und James-Chakraborty sind in deutschen Bibliotheken nur spärlich vertreten, Übersetzungen gibt es nicht.
1) Vincent Scully jr.: Moderne Architektur. Die Architektur der Demokratie (Große Zeiten und der Werke der Architektur, Bd. 8. Ravensburg 1961
(englisch online: https://archive.org/details/modernarchitectu0000scul/page/n405/mode/2up)
2) Cristian Ludwig Stieglitz, siehe: Klaus Jan Philipp, A first Coherent System: Christian Ludwig Stieglitz’s Geschichte der Baukunst vom frühesten Alterthume bis in die neuern Zeiten (1827), in: Petra Brouwer, Martin Bressani and Christopher Drew Armstrong (eds.), Narrating the Globe: The Emergence of World Histories of Architecture, Cambridge, MA / London, England: The MIT Press, 2023, Seiten 179-196
3) James Fergusson: The illustrated Handbook of Architecture … The Different Styles of Architecture prevailing in All Ages and all Countries. London 1859 (vollständig online in der Universität Heidelberg: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/fergusson1859/0007/image,info,thumbs / zit: https://doi.org/10.11588/diglit.26747#0018)
4) Franz Kugler: Geschichte der Baukunst. 5 Bände, Stuttgart 1856–1873 (online: https://archive.org/details/gri_33125006532283/page/n5/mode/2up)
5) Pier Luigi Nervi (Hrsg.): Weltgeschichte der Architektur. Dt. Stuttgart 1974-79
6) Udo Kultermann: Neues Bauen in Afrika. Wasmuth, Tübingen 1963. Architekten der Dritten Welt. Bauen zwischen Tradition und Neubeginn. Köln 1980; Zeitgenössische Architektur in Osteuropa. DuMont, Köln 1985
7) Spiro Kostof: History of Architecture. Settings and Rituals. Oxford University Press, New Haven 1985. (online: https://archive.org/details/AHistoryOfArchitectureSettingsAndRituals)
Siehe auch: Panayiota Pyla, Historicizing Pedagogy: A Critique of Kostof’s „A History of Architecture”, in: Journal of Architectural Education, May, 1999, Vol. 52, No. 4 (May, 1999), pp. 216-225.
8) Kathleen James-Chakraborty: Architecture since 1400. University of Minnesota Press (online: https://academic.oup.com/minnesota-scholarship-online/book/19918)
9) ausführlich: Kuno Lorenz: Kanon. In: Jürgen Mittelstraß: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, Seite 343
10) Klaus J. Philipp: Das Reclam Buch der Architektur. Stuttgart 2006
11) Wilfried Koch: Baustilkunde. 34. Auflage, München 2014