Stilkritik (67) | Wut- und Mutbürger versetzen seit einigen Jahren die politischen Autoritäten in Aufruhr. Dass viele Zeitgenossen das Vertrauen in Politik und Verwaltung verloren haben und dies mehr oder weniger akzeptabel zum Ausdruck bringen, lässt sich zwar begründen und nachvollziehen. Aber die in unserer Demokratie verbürgten Rechte des Einzelnen scheinen sich inzwischen zu verselbständigen – und bescheren uns ein teils absurdes Beteiligungstheater und Entprofessionalisierung.
Vertrauensverluste
Es stimmt ja. Die repräsentative Demokratie setzt voraus, dass eine von den Staatsbürger/innen gewählte Regierung – in Kommunen, Bundesländern, auf nationaler und inzwischen auch europäischer Ebene – über die Entwicklung des Zusammenlebens entscheidet und die jeweiligen Verwaltungen anweist, alles vortrefflich und zur Zufriedenheit der Bürger umzusetzen. Allein: Diese Voraussetzungen gelten immer weniger, und sich darüber aufzuregen, ist erst einmal legitim.
Denn entsprechende Voraussetzungen sind nicht mehr gegeben, wo eine Gesellschaft in kapitalistischer Manier grundsätzlich akzeptiert, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Dieses Prinzip zeitigt beispielsweise irrwitzige Subventionen vorhersehbar schwächelnder Wirtschaftszweige aus vorgeblich sozialer Verantwortung. Es schwinden in diesem Prozess der Gewinnprivatisierung die staatlichen und die kommunalen Finanzkräfte ganz jämmerlich. Und mit ihnen die Möglichkeiten, das Gemeinwesen hinreichend funktional zu organisieren oder zu gestalten. Mit lausigen Ergebnissen.
Weichenstörung – privat erledigt?
Um konkret zu werden: Die Bahn soll börsenfit gemacht werden, aber diese Hauptadern der Mobilität bluten unter Sparzwang aus. Schulen und Universitäten bröckeln, so dass Privatschulen inzwischen von vielen, die es sich leisten können, bevorzugt werden. Straßen sind unpassierbar und Brücken einsturzgefährdet.
Mobilität und Bildung – ergänzen ließe sich das Gesundheitswesen, Wasser- und eigentlich auch Stromversorgung und, und, und … – sind in ihrer Funktionalität Grundlagen unseres Staatswesens. Ohne jede Einschränkung müssen sie funktionieren, doch scheinbar sind sie nur noch durch Privatisierung zu retten. Bei der flächendeckenden Versorgung mit Glasfaserkabeln hält sich die öffentliche Hand gleich ganz raus, indem sie nur Frequenzen versteigert – und sich dann wundert, dass die privaten Anbieter Hintertupfing und Posemuckel vernachlässigen. Und wenn es so weit kommt, dass beispielsweise auch die Justiz zu teuer wird: Wen darf es wundern? Was steht auf dem Spiel? Öffentliche Aufgaben privat erledigen zu lassen, birgt Unwuchten. Folgenreicher als die Privatisierung öffentlicher Aufgaben ist aber etwas weiteres.
Ego Shooter – die Privatisierung öffentlicher Belange
Sind nämlich die Vertrauensverluste durchaus begründet, so ist das Problem, wie sie anders als durch Privatisierung wettzumachen sind, als solches viel zu selten benannt und nicht angegangen. Vielmehr entledigen sich Politiker/innen dessen oft nach dem Motto, man müsse den Bürgern nur erklären, was man mache, dann lege sich ihr Unmut: „Wir müssen die Bürger mitnehmen“; sie „abholen, wo sie sind“. Dadurch verschärft sich das Problem aber. Denn es hat sich in den letzten Jahren eine Beteiligungseuphorie und -bürokratisierung breitgemacht, die eine gemeinschaftsorientierte Politik in Teilen nachgerade torpediert. Konkret: Energiewende: toll! Aber keine Strommasten vor meinem Haus. Klimawandel: dringend! Aber meinen Diesel gebe ich nicht her. Flüchtlinge aufnehmen: ja, aber nicht in meiner Nachbarschaft.
Man besuche ein paar der vielen Bürgerbeteiligungsveranstaltungen, die mehr und mehr von externen Agenturen organisiert und moderiert werden. Dort erlebt man Prachtexemplare von Ego Shootern; und man hört die immer selben Meckerer mit den immer selben Argumenten herumposaunen. Bürger/innen usurpieren mit ihren privaten Interessen die öffentlichen Belange. Nebenbei lässt sich beobachten, dass die beauftragten Agenturen Beteiligungsergebnisse zu steuern wissen.
Lobbyisten unterwandern bekanntlich die politischen und administrativen Instanzen, indem sie durch die Hintertüren der Abgeordnetenhäuser und Dank schwarzer Kassen ihren branchenrelevanten Einfluss geltend machen. Dagegen offenbaren viele groß angelegte Beteiligungsverfahren das entsprechende Privatinteresse des einzelnen Bürgers, der genau nicht das Gemeinwohl im Sinn hat, auf höchst öffentliche Weise. Und geradezu schamlos, wenn er – der Bürger – sich in der Parallelwelt digitaler Kommunikation wähnt.
Nebenbei entziehen sich zu viele Politiker/innen mit inzwischen gesetzlich verankerten Bürgerbeteiligungsverfahren auch ihrer Verantwortung: Man habe sie doch beteiligt, die Bürger. „Der Bürger“ habe entschieden, und nicht die Politik oder die eigenmächtige Verwaltung – so eine Redewendung in vielen Pressemeldungen.
Nichts oder das Falsche gelernt
Ein Effekt dieser Bürgerbeteiligung, der in Stadtplanung und Architekturentwicklung eine üble Rolle spielt, ist, dass in diesen Metiers Professionalität auf dem Spiel steht. Als Verwaltungen noch quantitativ und qualitativ stark besetzt waren, sorgten diese für wichtige Entwicklungsrichtungen – um in die Geschichte zu blicken: etwa mit Ernst May in Frankfurt. Oder mit unglaublich vielen soziologischen Experimenten in den 1970er Jahren, um eben die Bedürfnisse der Betroffenen stärker zu berücksichtigen. Die nicht zuletzt durch föderalistische Strukturen gut besetzten Verwaltungen sorgten unter anderem für herausragende Wohnungsbau- oder Infrastrukturprojekte.
Um nun aus Leseplatzgründen über die stupide Frage hinwegzugehen, warum denn Kommunen und Städte und der Bund kaum mehr im Besitz von Grund und Boden sind, darf man derzeit feststellen, dass für Architekten und Stadtplaner die Arbeit in der Verwaltung wieder reizvoll wird. Weil begriffen wird, dass genau dort die legitimierten Entscheidungen in der Sache – und weitgehend unabhängig von Einzelinteressen – getroffen werden können. Dort lässt sich entscheiden, welchen Einfluss Lobbyisten und Jetzt-komm-ich-Bürger haben, weil ganz einfach weder Lobbyisten, noch die Bürger jene professionellen Kenntnisse haben können, die Baubürgermeister, Planungsamtleiterinnen und so weiter auszeichnet. Ihnen muss man hinreichende personelle und finanzielle Kräfte zur Seite stellen, um Privatinteressen jeglicher Art auszugleichen und das Steuer in der Hand zu behalten. Mit dem Wissen, was Bürger heute einfordern können, werden sie professionell umzugehen wissen.
Beteiligt euch!
In den Hintergrund rückt dabei leider, dass Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung in einer lebendigen Demokratie beste Möglichkeiten bieten, um eben nicht Egoismus, sondern die gemeinschaftlich orientierte Verantwortung des Einzelnen bewusst zu machen und zu stärken. Dafür, so glaube ich, fehlen an vielen Stellen die Zeit und auch die Einsicht, die Komplexität notwendiger Entwicklungen als Arbeit von Intellektuellen jeglichen Metiers ernst zu nehmen und zu fördern. Denn auch an den Universitäten grassiert die Privatisierung – mit Ego Shootern auf den Veröffentlichungslisten sowie in Talkshows und Lobbyisten bei der Drittmittelakquise. Und Panik verursacht – nicht zu Unrecht – auch der alte Affe Angst, der uns heute mit der Digitalisierung im Nacken sitzt.