Zerstörung in Homs, Syrien. Es fehlt nicht nur hier an grundlegenden Versorgungsleistungen, die ein Leben möglich machen könnten. Daran hat sich seit 2022, als dieses Bild aufgenommen wurde, kaum etwas geändert. (Bild: ali Saleh, pexels)
Wieder gibt es Streit um die Worte eines CDU-Politikers und Regierungsmitglieds. Doch dieses Mal ist etwas anders: Die Auseinandersetzung entzündet sich an einer Äußerung, die für einen kurzen Moment die Routinen des Politbetriebs durchbrach. Der Bundesaußenminister zeigte sich empathisch und nachdenklich. Anlass für eine kritische Reflexion – der Außenminister hat nicht nur den harten Migrationskurs der aktuellen Regierung hinterfragt.
Es war eine Äußerung vom Bundesaußenminister Johann Wadephul. Unter dem Eindruck dessen, was er in Syrien gesehen hatte, etwa in Harasta, einer schwer verwüsteten Vorstadt von Damaskus, sagte er: „Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben.“ Empört waren dieses Mal allerdings nicht politische Opponenten, sondern die Kolleg:innen der eigenen Partei, die den eigenen harten Kurs gegenüber Migrant:innen, Geflüchteten, Asylsuchenden gefährdet sehen. Dieser harte Kurs verlangt ein gehöriges Maß an Empathielosigkeit, und genau die hatte Wadephul bloßgestellt. Es ist durchaus nicht falsch, darüber nachzudenken, was es für Menschen bedeutet, in ein zerstörtes Land mit unsicherer politischer Lage zurückkehren zu müssen. Man muss schon sehr zynisch sein, über die Äußerung Wadephuls empört zu sein. Sicher, es ist auch Dünnhäutigkeit angesichts des anhaltenden Höhenflugs der AfD, der zeigt, dass alle Versuche, sie mit ihren eigenen Mitteln und Inhalten zu schlagen („sie inhaltlich zu stellen“, wie es im Politiksprech der Unionsparteien heißt), nicht verfangen wollen. Dass seit Jahren vorhergesagt wird, dass genau diese Strategie die radikalen Positionen der AfD legitimiert und die Partei stärkt, ändert nichts: Es bleibt bei der Hartherzigkeit in Migrationsthemen, dabei stur die Experten:innenratschläge in den Wind schlagen, man kennt das leider zur Genüge. Und schließlich spielt dabei auch verletzte Eitelkeit eine Rolle, wenn nun auch aus der eigenen Mannschaft das von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt so lautstark angekündigte Abschieben von Menschen nach Syrien in Frage gestellt wird. Schon im Juni hatte er einen Rückschlag hinnehmen müssten, weil ein Gericht die von ihm angeordneten Zurückweisungen an der Grenze als rechtswidrig erklärt hatte.

Flüchtlingscamp im Tschad, an der Gerenze zum Sudan. Bild von 2023. Menschenwürdiges Wohnen? (Bild: Wikimedia Commons, Public Domain, Henry Wilkins/VOA)
Es geht also auch in diesem Streit nicht um Fakten (wie eigentlich fast immer, wenn es um Migration geht), sondern um die politische Wirkung, diffuse Gefühle, geschürte Ängste. Darum, dass das Leben in einem zerstörten Land vermischt wird mit der Frage, wie man mit geduldeten Straftätern umgeht. Aber es geht eben nicht nur um Straftäter. „Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben – beginnend mit Straftätern und Gefährdern“, heißt es im Koalitionsvertrag (Zeile 3045 und 3046). „Beginnend“. Und was kommt nach dem Beginn? Bundeskanzler Merz sieht für Flüchtlinge aus Syrien „keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland“. Was also ist mit den Syrerinnen und Syrern, den Afghaninnen und Afghanen, gegen die nichts vorzubringen ist? Fragen Sie doch mal deren Töchter, Herr Merz. Was ist zum Beispiel mit den 7.042 Ärztinnen und Ärzte aus Syrien, die für unser Gesundheitssystem unverzichtbar geworden sind?
Was ist Würde?
Was sich in diesem Konflikt offenbart, ist allerdings mehr als nur ein weiterer Koalitionsstreit oder ein weiterer auf den Rücken anderer ausgetragener, schmerzvoller politischer Profilierungsversuch. Wadephuls Äußerung zeigt, dass wir zu wenig darüber sprechen, was ein würdevolles Leben bedeutet – und wem es zusteht. Was es bedeutet, menschenwürdig zu leben und zu wohnen. Dass dazu nicht nur das sprichwörtliche Dach über dem Kopf, sondern auch Infrastruktur gehört, soziale, technische, sanitäre. Es sollte zumindest einen Plan dafür geben, wie man dazu beitragen will, dies zu gewährleisten, wenn man davon faselt, dass nur die eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ein zerstörtes Land wieder aufbauen könnten. Und dann sollte man auch sagen, mit welchen Mittel und unter welchen Voraussetzungen sie das tun sollen.
Es geht eben auch darum, ob würdiges Wohnen ein Menschenrecht ist und nicht nur denen zusteht, die mehr oder weniger zufällig eine bestimmte Staatsangehörigkeit haben. Darüber zu diskutieren muss über die Diskussionen hinausgehen, sich mit dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Deutschland zu beschäftigen. Gerade in einem Land, das von Migration profitiert, das darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen ein Zurückkehren von Migrant:innen möglich sein sollte, muss darüber gesprochen werden, welche Qualitäten in welchen Kontexten zu einem menschenwürdigen Wohnen gehören. Es müsste dann auch darum gehen, was das Wohnen gerade im Zusammenhang mit Migration bedeutet. Denn Migration provoziert die Fragen danach, was sich von Sesshaftigkeit und Bindung an einen Ort zu lösen, das Wohnen vom Besitz zu lösen, auch als Voraussetzung dafür, das Vertraute und das Andere, Fremde und Neue in eine Balance bringen zu können.
Das mag radikal klingen, weil es die Frage einschließt, wer über den Wohnraum und dessen Verteilung entscheidet – und das heißt auch, dass die Verteilung des Wohnraums nicht abhängig gemacht werden sollte von Einkommen, Geschlecht, Herkunft, Religion: Wohnraum als Gemeingut. Aber erst wenn man die Frage nach dem Wohnen weiter fasst als in den aktuellen Diskussionen, wird sichtbar, wie sehr mit einer Vorstellung des Wohnens, das an Besitz und Dauer geknüpft ist, die Spannungen erzeugt werden, die das Zusammenleben belasten und den Zugang für neu Ankommende erschweren. Mit anderen Worten: Die tief verankerte Vorstellung von einem idealen Wohnen als einem, das von den Zumutungen der Migration und des Ortswechsels frei ist, macht es schwer, Migration zu akzeptieren und sie zu gestalten. Am Ende stehen dann solche grotesken Auseinandersetzungen, wie sie Wadephul in seiner Partei hervorgerufen hat.

Zerstörung in der al-Seqaly-Straße in Khan Younis, Gaza-Krieg, 11. Juni 2024.(Bild: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, Rawanmurad2025)
Verbergen und verharmlosen
Doch das geht noch weiter. Denn das Erschrecken, das Wadephul angesichts dessen, was er in Syrien zu sehen bekam, erlebt haben muss, zeigt, wie weit weg wir, oder zumindest die meisten von uns in Deutschland, von Zerstörung in anderen Ländern sind, sei es in Syrien, sei es in der Ukraine, sei es in Gaza, sei es im Sudan. Wie wenig wir in der Lage sind, die Erfahrung von Gewalt unmittelbar so aufzunehmen, dass sie Empathie mit den Betroffenen auslöst. Das Dilemma zeigte sich besonders drastisch darin, dass es so oft nicht möglich war, das Leid, das die Hamas mit ihrem Terrorakt und das Leid, das die israelische Kriegsführung in Gaza erzeugte, gleichermaßen anzuerkennen. Es zeigt sich darin, dass in den Diskussionen über den richtigen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine Diplomatie gegen Aufrüstung ausgespielt wird, dass zu selten beide Wege offen diskutiert werden können, obwohl beide mit Vor- und mit Nachteilen verbunden sind.
Es mag eine Folge der Überforderung sein. Aber vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die Allgegenwart der Bilder nicht so drastisch ist wie behauptet. Nur sehr selten dringen schockierende Bilder der Gewalt bis zu uns vor; denn sie fallen „unter die Zensur eines sentimentalen Weltbilds. Die bittersten Ansichten bleiben dem Zuschauer erspart. Die Wirklichkeit des Krieges ist weit brutaler. als es die Bilder zu zeigen pflegen“, so Wolfgang Sofsky. Und weiter: „Als sei es die Aufgabe der Berichterstattung, die Seele des Betrachters zu schonen und auch dem Schlimmsten noch einen Sinn anzudichten. Die Zensur der bösen Bilder verwechselt die vermeintliche Obszönität der Bildes mit der Obszönität der Tatsachen.“ (1) Was allerdings einen Sinn hat, ist, dass uns die Bilder vorenthalten werden. Nicht nur, weil sie ein sentimentales Weltbild stützen, sondern weil es die Voraussetzung dafür ist, dass ein auf Privilegien gestütztes, auf Ausbeutung und Unrecht basierendes Leben nicht in Frage gestellt werden muss.
Wohlstand und Demokratie basieren, wie es Stephan Lessenich dargestellt hat, auf Ausgrenzungen. Darauf, dass Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden, aber auch darauf, dass getrennt wird zwischen den Räumen, in denen Naturschutz betrieben, eine intakte Umwelt zum Ziel erhoben wird einerseits und andererseits denen, für die das nicht gilt: „Vieles von dem, was auch heute noch jeden Tag aufs neue in den Volksküchen der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften angerichtet wird, muss in seinen zerstörerischen Konsequenzen anderswo oder später ausgelöffelt werden – und dies, soviel ist gewiss, unter gewaltigen menschlichen Leiden.“ (2) Damit ein Wirtschaftssystem stabilisiert werden kann, das auf ausgelagertem Leid und ausgelagerter Umweltzerstörung basiert, darf das Ausgelagerte und dessen drastische Realität nicht sichtbar sein. Und das, was davon dann doch sichtbar wird, muss verharmlost werden.

Zerstörtung in Kiew. 2022. (Bild: pexels, Алесь Усцінаў)
Nur kurz war etwas anders
In den Diskussionen über Migration wird immer auf deren wirtschaftliche Bedeutung verwiesen. Und auf einmal wird klar, warum dennoch die Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien gefordert werden: Die Verharmlosung dessen, was Menschen erwartet, die gezwungen werden sollen, zurückzukehren, hat und ist System. An einem konservativen Bild einer stabilen territorialen Zuordnung von Menschen festzuhalten, enthebt uns von einer Diskussion über das Wohnen als Menschenrecht unter den Vorzeichen von Migration und deligiert die Zuständigkeit an die jeweiligen Staaten oder wie im Falle Syriens an dessen Staatsbürger:innen – unabhängig davon, wer zur Misere beiträgt oder beigetragen hat. Die Empathie, die über Nationalgrenzen hinausgeht, ist uns einigermaßen konsequent abtrainiert worden. Es sei eine patriotische Pflicht, seine Heimat wieder aufzubauen, so Jens Spahn, von dem mir nicht bekannt ist, welche patriotischen Pflichten er wahrnimmt. Bei Correctiv fragt man sich: „Wie steht es eigentlich um die patriotische Pflicht, deutsche Staatsbürger wieder zurückzunehmen, die in Syrien straffällig geworden sind?“ – eine Frage, auf die nicht nur Jens Spahn keine Antwort gibt.
Es ist allerdings auch wohlfeil, für das hartnäckige Ausblenden der tatsächlichen Lage außerhalb unserer Grenzen nur die konservativen Hardliner an den Pranger zu stellen. Wadephul hat nicht nur den Migrationskurs seiner Partei hinterfragt, er hat grundsätzlich das kollektive Wegsehen durchbrochen. Für einen kurzen Moment, vielleicht sogar unbedacht. Dass er zur Rechtfertigung zu einem Bild greifen muss, dass die Zustände in Syrien in ein in vertrautes Bild – das der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg – , zeigt, wie stark die Abschottung gegenüber den Bildern von heute aus anderen Ländern funktioniert.
Ironischerweise sind Abschiebungen im Moment noch gar nicht möglich. Denn um tatsächlich abschieben zu können, muss ein Abkommen mit dem aufnehmenden Land getroffen werden. Mit den Taliban stünden die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss, heißt es. Mit Syrien soll es noch verhandelt werden, dazu hat Bundeskanzler Friedrich Merz den syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Sharaa nach Deutschland eingeladen. Bei Correctiv wunderte man sich, dass Merz den syrischen Präsidenten einlädt und nicht nach Syrien reist, wo er doch in der Bittsteller-Position ist. Man könnte meinen, weil er dann sehen würde, was Wadephul gesehen hat. Und am Ende auch in einem unbedachten Moment die Routine des Betriebs aus Ausgrenzungen und Ausschlüssen durchbricht. Völlig unwahrscheinlich ist das nicht. Dass er nicht gefühllos ist, wissen wir spätestens seit dem 15. September.
